Anna Karenina

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24

›Ja, ich muß wohl etwas Widerwärtiges, Abstoßendes an mir haben‹, dachte Ljewin, als er von Schtscherbazkis wegging und zu Fuß die Richtung nach der Wohnung seines Bruders einschlug. ›Und ich passe auch wirklich nicht zu anderen Menschen. Man hält mich für stolz. Nein, stolz bin ich nicht. Wäre ich stolz, so hätte ich mich nicht in eine solche Lage gebracht.‹ Und er vergegenwärtigte sich Wronski, diesen glücklichen, gutherzigen, verständigen, ruhigen Menschen, der sich wahrscheinlich noch nie in einer so schrecklichen Lage befunden hatte wie er an diesem Abend. ›Ja, sie konnte gar nicht anders als ihm den Vorzug geben. Das mußte so sein, und ich darf mich über niemand und über nichts beklagen. Ich selbst trage die Schuld. Mit welchem Rechte konnte ich glauben, daß sie Lust haben werde, ihr Leben mit dem meinigen zu verbinden? Wer bin ich? Und was bin ich? Ein wertloser Mensch, den niemand gebrauchen kann.‹ Dabei gedachte er seines Bruders Nikolai und verweilte mit Lust bei dieser Erinnerung. ›Hat er etwa nicht recht, daß alles in der Welt schlecht und garstig ist? Wir urteilen über unseren Bruder Nikolai wohl kaum gerecht und haben es nie getan. Natürlich, von Prokofis Standpunkt, der ihn in einem zerrissenen Pelz und arg betrunken gesehen hat, ist er ein verächtlicher Mensch, aber ich kenne ihn von einer anderen Seite. Ich kenne seine Seele und weiß, daß ich mit ihm manche Ähnlichkeit habe. Aber statt ihn sofort aufzusuchen, bin ich zuerst zu einem Diner und dorthin gefahren.‹ Ljewin trat an eine Laterne heran, las die Anschrift seines Bruders, die er in seiner Brieftasche bei sich hatte, und rief einen Droschkenkutscher an. Auf der ganzen langen Fahrt zu seinem Bruder erinnerte sich Ljewin lebhaft an allerlei ihm bekannte Ereignisse aus dessen Leben. Er erinnerte sich, wie sein Bruder während der Universitätszeit und noch das darauffolgende Jahr hindurch trotz den Spötteleien seiner Kameraden wie ein Mönch gelebt und streng alle Religionsbräuche erfüllt, den Gottesdienst besucht, die Fasten innegehalten und jedes Vergnügen, namentlich auch die Frauen, gemieden hatte, und wie es ihn dann plötzlich gepackt hatte und er mit den verkommensten Menschen in Verkehr getreten war und sich der zügellosesten Ausschweifung ergeben hatte. Er entsann sich ferner einer Geschichte mit einem Knaben, den der Bruder vom Lande zur Erziehung zu sich genommen hatte und den er in einem Wutanfalle dermaßen prügelte, daß er sich eine Klage wegen schwerer Körperverletzung zuzog. Dann gedachte er einer Geschichte mit einem Falschspieler, an den der Bruder Geld verloren hatte und dem er einen Wechsel gab und gegen den er darauf selbst eine Klage einreichte, mit der Begründung, daß jener ihn betrogen habe. (Das war die Geldsumme, die Sergei Iwanowitsch bezahlt hatte.) Weiter erinnerte er sich, wie Nikolai wegen einer Ausschweifung eine Nacht auf der Polizeiwache zugebracht hatte. Er erinnerte sich, wie er einen schmählichen Prozeß gegen seinen Bruder Sergei Iwanowitsch angestrengt hatte, weil dieser ihm nicht den ihm zukommenden Anteil des mütterlichen Vermögens ausgezahlt hatte. Und dann der letzte Skandal, wie er irgendwo im Westen des Reiches eine Anstellung gefunden hatte, aber dort gerichtlich belangt worden war wegen einer Tracht Prügel, die er dem Gemeindevorsteher verabfolgt hatte. – Das waren ja alles überaus garstige Dinge; aber Ljewin beurteilte es doch nicht so schlimm, wie es notwendigerweise die taten, die Nikolai und seine ganze Entwicklung und sein Herz nicht kannten.

Ljewin dachte auch daran, wie damals, als Nikolai sich in der Periode der Frömmigkeit, der Fasten, der Möncherei, des Kirchenbesuches befunden und in der Religion eine Hilfe, einen Zügel für seine leidenschaftliche Natur gesucht hatte, wie ihm damals niemand eine Stütze gewesen war, ja im Gegenteil alle, und auch er selbst, sich über ihn lustig gemacht hatten. Sie hatten ihn gehänselt, ihn den Vater Noah und den Mönch genannt, aber als es ihn später gepackt hatte, da hatte ihm niemand geholfen, sondern alle hatten sich voll Entsetzen und Abscheu von ihm abgewandt.

Ljewin sagte sich, daß sein Bruder Nikolai, trotz aller Schlechtigkeit seines Lebenswandels, im tiefsten Grunde seiner Seele nicht schuldiger war als die Leute, die ihn verachteten. Es war nicht seine Schuld, daß er mit einem unbändigen Charakter und einem etwas beschränkten Verstande geboren war. Aber er war immer bestrebt gewesen, ein guter Mensch zu sein. ›Ich will ganz offen mit ihm reden; ich will ihn dazu bringen, mir alles frei heraus zu sagen, und will ihm zeigen, daß ich ihn liebe und ihn darum auch verstehe‹, das nahm sich Ljewin vor, als er nach zehn Uhr in seiner Droschke bei dem Gasthause ankam, in dem der Anschrift zufolge Nikolai wohnen sollte.

»Oben, in Nummer zwölf und dreizehn«, antwortete der Pförtner auf Ljewins Frage.

»Ist er zu Hause?«

»Doch wohl.«

Die Tür von Nummer zwölf war halb geöffnet; von innen drang mit einem Lichtstreifen zugleich ein dichter Qualm von schlechtem, schwachem Tabak heraus, und Ljewin vernahm eine ihm unbekannte Stimme. Aber er merkte sofort, daß auch sein Bruder anwesend war, denn er hörte dessen Hüsteln.

Als er durch die Außentür in einen kleinen Vorraum trat, der vom Zimmer durch eine spanische Wand getrennt war, sagte die unbekannte Stimme gerade:

»Es wird alles davon abhängen, ob die Sache mit Vernunft und Verständnis betrieben wird.«

Konstantin Ljewin blickte durch die in der Zwischenwand befindliche Tür, die gleichfalls offenstand, ins Zimmer und sah, daß der Redende ein junger Mann mit gewaltigem Haarschopfe, in einer Jacke ohne Ärmel war. Ein junges, pockennarbiges Frauenzimmer in einem wollenen Kleide ohne Manschetten und Kragen saß auf dem Sofa. Der Bruder war nicht zu erblicken. Konstantins Herz zog sich schmerzlich zusammen bei dem Gedanken, unter was für fremden Leuten sein Bruder da lebte. Niemand hatte ihn kommen hören, und Konstantin zog sich die Gummischuhe aus und hörte dabei zu, was der Herr in der ärmellosen Jacke sagte. Er redete von irgendeinem Unternehmen.

»Hol sie der Teufel, diese bevorrechtigten Klassen!« ließ sich nun auch, unter stetem Husten, die Stimme des Bruders vernehmen. »Marja, besorge uns etwas zum Abendessen und gib uns Wein, wenn noch welcher da ist; sonst laß holen!«

Die Frau stand auf, ging durch die Zwischentür und erblickte Konstantin.

»Ein Herr ist hier, Nikolai Dmitrijewitsch«, sagte sie.

»Zu wem wollen Sie?« fragte Nikolais Stimme in ärgerlichem Tone.

»Ich bin es«, antwortete Konstantin und trat ins Helle.

»Was für ein Ich?« fragte wieder Nikolais Stimme noch ärgerlicher. Es war zu hören, daß er schnell aufstand und dabei an irgend etwas anstieß, und dann erblickte Konstantin vor sich in der Zwischentür die ihm so wohlbekannte und ihn doch durch ihr verwildertes und kränkliches Aussehen überraschende Gestalt seines Bruders: von gewaltiger Größe, hager, gebückt, mit großen, verstörten Augen.

Er war noch magerer als vor drei Jahren, da ihn Konstantin Ljewin zum letzten Male gesehen hatte. Er trug einen kurzen Rock, wodurch seine Hände und der breite Knochenbau des Oberkörpers noch riesiger erschienen. Das Haar war dünner geworden, derselbe gerade Schnurrbart wie früher verdeckte die Lippen, dieselben Augen blickten sonderbar kindlich den Eintretenden an.

»Ah, Konstantin!« sagte er auf einmal, als er seinen Bruder erkannte, und seine Augen leuchteten freudig auf. Aber im gleichen Augenblick wandte er sich nach dem jungen Manne um und machte mit dem Kopfe und dem Halse eine seinem Bruder wohlbekannte Bewegung, als ob ihn die Halsbinde belästige, und nun erschien auf seinem abgemagerten Gesichte ein ganz anderer, scheuer, leidender, trotziger Ausdruck.

»Ich habe sowohl Ihnen wie Sergei Iwanowitsch geschrieben, daß ich Sie beide nicht kenne und nicht kennen will. Was willst du . . . was wollen Sie von mir?«

Sein Wesen war doch ganz anders, als es sich Konstantin vorher vorgestellt hatte. Die unangenehmste und schlimmste Eigenheit seines Charakters, die jeden Umgang mit ihm so sehr erschwerte, hatte Konstantin, als er sich seinen Bruder vergegenwärtigte, vergessen gehabt, und erst jetzt, als er sein Gesicht und namentlich diese krampfhafte Kopfdrehung sah, kam ihm das alles wieder ins Gedächtnis.

»Ich will eigentlich nichts von dir«, antwortete er schüchtern. »Ich bin nur gekommen, um dich einmal wiederzusehen.«

Durch die Schüchternheit seines Bruders ließ sich Nikolai offenbar milder stimmen. Er zuckte mit den Lippen.

»Soso; nun, wie geht es dir?« sagte er. »Na, dann komm herein und setz dich! Willst du mit uns Abendbrot essen? Marja, bring drei Portionen. Nein, warte noch! Weißt du, wer das ist?« fragte er seinen Bruder, indem er auf den Herrn in der Jacke zeigte. »Das ist Herr Krizki, ein Freund von mir, noch aus der Kiewer Zeit, ein sehr bedeutender Mann. Selbstverständlich verfolgt ihn die Polizei, weil er kein Schuft ist.«

Und wie das von jeher seine Gewohnheit gewesen war, blickte er alle im Zimmer Anwesenden der Reihe nach an. Als er sah, daß die Frau, die in der Tür stand, nun eine Bewegung machte, um hinauszugehen, schrie er ihr zu: »Du sollst warten, habe ich gesagt!« Und in jener ungeschickten, verworrenen Redeweise, die Konstantin so gut an ihm kannte, begann er, indem er seine Blicke wieder bei allen umherwandern ließ, seinem Bruder Krizkis Lebensschicksale zu erzählen: wie er von der Universität verwiesen sei, weil er Sonntagsschulen und einen Verein zur Unterstützung armer Studenten gegründet habe, und wie er dann eine Stelle als Volksschullehrer angenommen habe, und wie er auch von da weggejagt und endlich noch aus irgendwelchem Grunde vor Gericht gekommen sei.

 

»Sie haben in Kiew studiert?« fragte Konstantin Herrn Krizki, um das unbehagliche Schweigen, das eingetreten war, zu unterbrechen.

»Jawohl, in Kiew«, erwiderte Krizki, ärgerlich die Stirn runzelnd.

»Und dieses Weib hier«, unterbrach ihn Nikolai und wies auf die Frauensperson, »ist meine Lebensgefährtin, Marja Nikolajewna. Ich habe sie aus so einem gewissen Hause weggeholt«, er machte wieder einen Ruck mit dem Halse, während er das sagte. »Aber ich liebe und achte sie, und ich ersuche alle, die mich kennen wollen«, fügte er mit erhobener Stimme und finsterem Gesichte hinzu, »sie ebenfalls zu lieben und zu achten. Sie ist ganz dasselbe, wie wenn sie meine Frau wäre. So, nun weißt du, wen du vor dir hast. Und wenn du meinst, daß du dich durch den Verkehr mit einem von uns erniedrigst, dann Gott befohlen, dort ist die Tür.«

Wieder gingen seine Augen fragend von einem zum anderen.

»Warum ich meinen sollte, mich dadurch zu erniedrigen, das verstehe ich nicht.«

»Dann laß also das Abendessen bringen, Marja: drei Portionen und Schnaps und Wein . . . Nein, warte . . . Nein, es ist schon gut . . . Geh nur!«

25

»Nun, siehst du wohl«, fuhr Nikolai Ljewin fort; er zog die Stirn in tiefe Falten und zuckte ab und zu zusammen.

Es wurde ihm offenbar schwer, mit sich darüber ins klare zu kommen, was er sagen und tun solle.

»Sieh einmal da!« Er zeigte in die Ecke der Stube auf ein paar Eisenstangen, die mit Stricken zusammengebunden waren. »Siehst du das da? Das ist der Anfang eines neuen Unternehmens, an das wir uns jetzt heranmachen. Es ist eine Produktivgenossenschaft.«

Konstantin hörte ihm kaum zu. Er betrachtete das kranke, schwindsüchtige Gesicht seines Bruders, und das Mitleid mit diesem wurde in seinem Herzen immer größer; er konnte sich nicht dazu zwingen, mit Aufmerksamkeit anzuhören, was der Bruder ihm über die Genossenschaft erzählte. Er durchschaute es, daß diese Genossenschaft für Nikolai nur ein Rettungsanker war, um sich nicht selbst verachten zu müssen. Nikolai redete weiter:

»Du weißt, daß das Kapital den Arbeiter erdrückt. Die Arbeiter und Bauern tragen bei uns die ganze Last der Arbeit und sind doch dabei so gestellt, daß sie aus ihrer jämmerlichen Lage nie herauskommen können, und wenn sie sich noch so sehr abquälen. Aller über den notwendigsten Lebensunterhalt hinausgehende Arbeitsverdienst, durch den sie ihre Lage verbessern, sich einige Mußestunden verschaffen und infolgedessen sich eine gewisse Bildung aneignen können, dieser ganze Überschuß wird ihnen von den Kapitalisten weggenommen. Und die sozialen Zustände haben sich so gestaltet, daß, je mehr sie arbeiten, um so mehr die Kaufleute und Gutsbesitzer sich bereichern, sie selbst aber immer nur Arbeitsvieh bleiben. Diese Einrichtung muß geändert werden«, schloß er und blickte seinen Bruder fragend an.

»Ja, selbstverständlich«, antwortete Konstantin und betrachtete die roten Flecke, die sich unterhalb der hervorstehenden Backenknochen seines Bruders abzeichneten.

»Und da wollen wir denn eine Schlossergenossenschaft gründen, wo alles, der gesamte Betrieb und der Gewinn und die wichtigsten zum Betriebe erforderlichen Werkzeuge, gemeinsam sein soll.«

»Wo soll denn diese Genossenschaft ihren Sitz haben?« fragte Konstantin Ljewin.

»Im Dorf Wosdrema, Gouvernement Kasan.«

»Aber warum denn auf dem Lande? Auf dem Lande, sollte ich meinen, ist sowieso schon viel Arbeit. Was soll auf dem Lande eine Schlossergenossenschaft?«

»Der Grund ist der, daß die Bauern jetzt noch ebensolche Sklaven sind, wie sie es früher waren; und darum ist es dir und Sergei Iwanowitsch auch so unangenehm, daß sie aus dieser Sklaverei befreit werden sollen«, versetzte Nikolai, durch die Erwiderung gereizt.

Konstantin, der unterdes in dem unfreundlichen, schmutzigen Zimmer umherblickte, konnte einen Seufzer nicht zurückhalten. Dieser Seufzer schien Nikolai noch mehr zu reizen.

»Ich kenne deine und Sergei Iwanowitschs aristokratischen Ansichten. Ich weiß, daß er seine ganze Geisteskraft dazu verwendet, die jetzt bestehende Mißwirtschaft zu verteidigen.«

»Nicht doch! Aber warum sprichst du denn immer von Sergei Iwanowitsch?« sagte Konstantin lächelnd.

»Warum ich von Sergei Iwanowitsch rede? Das will ich dir sagen!« schrie Nikolai plötzlich auf, als Konstantin diesen Namen nannte. »Das will ich dir sagen. – Aber was für einen Zweck hat es, davon zu reden? Nur eines möchte ich wissen: Warum bist du überhaupt zu mir gekommen? Du verachtest ja mich und meine Bestrebungen. Nun schön, also geh in Gottes Namen! Geh!« schrie er und stand von seinem Stuhle auf. »Geh hinaus, geh hinaus!«

»Von Verachtung ist bei mir nicht die Rede«, antwortete Konstantin schüchtern. »Ich will auch gar nicht mit dir streiten.«

In diesem Augenblick kam Marja Nikolajewna zurück. Nikolai sah sich zornig nach ihr um. Sie trat schnell zu ihm heran und flüsterte ihm etwas zu.

»Ich bin nicht wohl; ich bin reizbar geworden«, sagte nun Nikolai, sich allmählich beruhigend und schwer atmend, »und dazu redest du mir noch von Sergei Iwanowitsch und seiner Abhandlung. Das ist der reine Unsinn, albernes Geschwätz, Selbstbetrug. Wie kann ein Mensch über Gerechtigkeit schreiben, der gar keine Gerechtigkeit kennt? Haben Sie seine Abhandlung gelesen?« wandte er sich an Krizki, während er sich wieder an den Tisch setzte und die Zigaretten, die über den halben Tisch verstreut lagen, beiseite schob, um Platz zu machen.

»Nein, ich habe sie nicht gelesen«, antwortete Krizki mürrisch, der augenscheinlich keine Lust hatte, sich an dem Gespräche zu beteiligen.

»Warum nicht?« fuhr Nikolai jetzt erregt gegen Krizki los.

»Weil ich es für zwecklos halte, damit meine Zeit zu verlieren.«

»Aber erlauben Sie, woher wissen Sie denn, daß Sie damit Ihre Zeit verlören? Gewiß, viele Leute können mit der Abhandlung nichts anfangen, weil sie über ihren Horizont geht. Aber mit mir ist das eine andere Sache; ich durchschaue seine Beweisführung durch und durch und weiß, worin ihre Schwäche liegt.«

Alle schwiegen. Krizki stand langsam auf und griff nach seiner Mütze.

»Wollen Sie nicht mit uns Abendbrot essen? Nun, dann auf Wiedersehen! Kommen Sie morgen mit dem Schlosser her.«

Kaum war Krizki hinaus, als Nikolai lächelnd seinem Bruder mit den Augen zuwinkte.

»An dem ist auch nichts dran«, sagte er. »Ich sehe recht wohl . . . «

Aber in diesem Augenblicke rief ihn Krizki, der noch einmal umgekehrt war, von der Tür aus zu sich hin.

»Was wollen Sie denn noch?« fragte Nikolai und trat mit ihm auf den Flur hinaus. Konstantin, der mit Marja Nikolajewna allein geblieben war, wandte sich ihr zu.

»Sind Sie schon lange bei meinem Bruder?« fragte er sie.

»Es ist jetzt das zweite Jahr. Mit seiner Gesundheit ist es recht schlecht geworden; er trinkt zuviel«, erwiderte sie.

»Was trinkt er denn?«

»Branntwein trinkt er, und das ist ihm schädlich.«

»Trinkt er denn viel?« flüsterte Konstantin.

»Ja«, antwortete sie und blickte ängstlich nach der Tür, wo Nikolai wieder erschien.

»Worüber habt ihr gesprochen?« fragte er stirnrunzelnd und ließ seine verstörten Augen von dem einen zum anderen wandern. »Worüber?«

»Über nichts«, antwortete Konstantin verlegen.

»Na, wenn ihr es nicht sagen wollt, dann laßt es bleiben. Ich möchte dir nur sagen: es schickt sich überhaupt nicht für dich, mit ihr zu reden. Sie ist eine Magd, und du bist ein vornehmer Herr«, sagte er und ruckte wieder mit dem Halse. »Du hast jetzt, meine ich, alles bei mir gesehen und dir ein Urteil darüber gebildet und stehst nun voller Mitleid meinen Verirrungen gegenüber«, fügte er mit erhobener Stimme hinzu.

»Nikolai Dmitrijewitsch, Nikolai Dmitrijewitsch!« flüsterte Marja Nikolajewna wieder und ging näher an ihn heran.

»Schon gut, schon gut! – Aber wie ist's mit dem Abendbrot? Ah, da ist es ja«, sagte er, als er einen Kellner mit einem Präsentierbrett erblickte. »Hier stell's her, hierher!« rief er ärgerlich, ergriff sogleich die Branntweinflasche, goß ein Glas voll und trank es gierig aus. »Trink doch auch eines, willst du?« wandte er sich an seinen Bruder; er war sofort in heitere Stimmung gekommen.

»Na, wollen über Sergei Iwanowitsch nicht weiter reden. Ich freue mich doch, dich wiederzusehen. Da kann einer sagen, was er will: es ist doch ein anderes Gefühl, wenn man mit seinen Angehörigen redet. Na, trink doch! Und erzähle, was du treibst!« fuhr er fort, während er gierig ein Stück Brot kaute und sich ein zweites Glas eingoß. »Wie lebst du denn eigentlich?«

»Ich lebe allein auf dem Lande wie früher und beschäftige mich mit der Wirtschaft«, antwortete Konstantin; mit Entsetzen beobachtete er die Gier, mit der sein Bruder trank und aß, bemühte sich aber zugleich, nicht merken zu lassen, daß er darauf achtete.

»Warum heiratest du nicht?«

»Es hat sich nicht so gefügt«, versetzte Konstantin errötend.

»Wieso nicht? Mit mir ist es allerdings zu Ende. Ich habe mir mein Leben verpfuscht. Ich habe es immer gesagt und sage es heute noch: wäre mir mein Anteil damals, als ich ihn brauchte, ausgezahlt worden, so hätte sich mein ganzes Leben anders gestaltet.«

Konstantin beeilte sich, dem Gespräche eine andere Richtung zu geben.

»Weißt du auch, daß dein Iwan bei mir in Pokrowskoje Gutsschreiber ist?« sagte er.

Nikolai zuckte mit dem Halse und gab sich einen Augenblick seinen Gedanken hin.

»Erzähle mir doch, was in Pokrowskoje alles geschehen ist. Steht das Haus noch unverändert und die Birken und unser Unterrichtszimmer? Und der Gärtner Filipp, lebt der noch? Wie deutlich ich mich an die Laube erinnere und an das Sofa! – Weißt du, ändere nur ja nichts im Hause, sondern heirate so bald wie möglich, und dann richte alles wieder genau so ein, wie es früher war. Dann werde ich auch einmal zu dir auf Besuch kommen, wenn deine Frau gut und nett ist.«

»Komm doch gleich jetzt mit mir mit!« sagte Konstantin. »Wie hübsch würden wir zusammen hausen!«

»Ich würde zu dir kommen, wenn ich wüßte, daß ich Sergei Iwanowitsch da nicht treffe.«

»Du wirst ihn nicht treffen. Ich lebe vollständig unabhängig von ihm.«

»Ja, aber du magst sagen, was du willst, du mußt doch zwischen mir und ihm wählen«, erwiderte er und blickte dem Bruder schüchtern in die Augen. Diese Schüchternheit rührte Konstantin.

»Wenn du in dieser Hinsicht meine aufrichtige Meinung hören willst, so muß ich dir sagen, daß ich in deinem Streite mit Sergei Iwanowitsch weder auf deiner noch auf seiner Seite stehe. Ihr habt alle beide unrecht. Du hast mehr in der äußeren Form unrecht und er mehr in sachlicher Hinsicht.«

»Ei sieh! Das hast du also erfaßt? Das hast du erfaßt?« rief Nikolai freudig.

»Ich persönlich aber, wenn du das wissen willst, lege auf die Freundschaft mit dir größeren Wert, weil . . . «

»Warum? Warum?«

Konstantin konnte doch nicht wohl sagen, daß er dies deshalb tue, weil Nikolai unglücklich sei und eines Freundes bedürfe. Aber Nikolai zweifelte nicht, daß er gerade dies hatte sagen wollen, und griff wieder mit finsterer Miene nach dem Branntwein.

»Lassen Sie es genug sein, Nikolai Dmitrijewitsch!« bat Marja Nikolajewna und streckte ihren rundlichen nackten Arm nach der Flasche aus.

»Laß das! Sei nicht so dreist, oder du bekommst Schläge!« schrie er.

Auf Marja Nikolajewnas Gesicht erschien ein sanftes, freundliches Lächeln, dem Nikolai nicht widerstehen konnte. Auch er lächelte, und sie nahm den Branntwein weg.

»Meinst du etwa, daß sie dumm ist?« sagte Nikolai. »Sie versteht all das besser als wir alle. Nicht wahr, sie hat etwas so Gutes, Liebes an sich?«

»Sind Sie früher nie in Moskau gewesen?« fragte Konstantin sie, um doch irgend etwas zu sagen.

»Aber so sage doch nicht Sie zu ihr! Das ist ihr nur peinlich. Nie hat jemand Sie zu ihr gesagt, außer dem Friedensrichter, als sie in Anklagezustand versetzt war, weil sie aus dem Hause der Unzucht hatte davongehen wollen. – Mein Gott, was gibt es doch für Sinnlosigkeit in der Welt!« schrie er plötzlich auf. »Diese neuen Einrichtungen, diese Friedensrichter, der Kreistag, was für ein Unsinn ist das!«

Und er begann von seinen Zusammenstößen mit den neuen Einrichtungen zu erzählen.

Konstantin hörte ihm zu. Er selbst teilte Nikolais Ansicht von der Sinnlosigkeit aller dieser staatlichen Einrichtungen und hatte diese Ansicht oft genug ausgesprochen, aber dennoch war es ihm unangenehm, sie jetzt aus dem Munde des Bruders zu hören.

 

»Im Jenseits werden wir das alles verstehen«, bemerkte er scherzend.

»Im Jenseits? Ach, weißt du, das Jenseits kann ich nicht leiden! Ich kann es nicht leiden«, sagte er und heftete seine scheuen, verstörten Augen auf das Gesicht des Bruders. »Es wäre ja wohl ganz schön, aus all dieser Gemeinheit und Verworrenheit, fremder sowohl wie eigener, herauszukommen, aber ich fürchte mich vor dem Tode, ganz entsetzlich fürchte ich mich vor dem Tode.« Er schauderte. »Aber trink doch irgend etwas! Willst du Champagner? Oder komm, wir wollen irgendwohin fahren. Wir wollen zu den Zigeunern fahren! Weißt du, an den Zigeunern und an den russischen Volksliedern habe ich großen Geschmack bekommen.«

Die Zunge wollte ihm nicht recht gehorchen, und er ging unvermittelt von einem Gegenstande zum anderen über. Mit Marjas Hilfe redete ihm Konstantin seine Absicht, noch irgendwohin zu fahren, aus und brachte den vollkommen Betrunkenen ins Bett.

Konstantin ließ sich von Marja versprechen, daß sie im Notfalle an ihn schreiben und Nikolai zureden werde, zu ihm aufs Land zu ziehen.