Anna Karenina

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29

»Nun ist alles zu Ende; Gott sei Dank!« das war der erste Gedanke, den Anna Arkadjewna hatte, als sie sich zum letzten Male von ihrem Bruder verabschiedet hatte, der bis zum dritten Glockenzeichen in der Tür des Abteils gestanden hatte, um anderen Reisenden den Eingang zu versperren. Sie setzte sich auf ihren Polstersitz neben ihre Kammerjungfer Annuschka und blickte in dem Halbdunkel des Schlafwagens um sich. »Gott sei Dank, morgen sehe ich meinen kleinen Sergei und Alexei Alexandrowitsch wieder, und mein Leben wird wieder seinen altgewohnten guten Gang nehmen.«

Obwohl die aufgeregte Stimmung, in der sie sich den ganzen Tag über befunden hatte, noch nicht von ihr gewichen war, traf Anna doch sorgsam und mit einem Gefühl des Behagens ihre Vorbereitungen für die Fahrt. Mit ihren kleinen, geschickten Händen öffnete und verschloß sie die rote Reisetasche, holte ein Kissen heraus, legte es sich auf die Knie und setzte sich, nachdem sie sich auch die Füße sorgfältig eingewickelt hatte, ruhig hin. Eine kranke Dame hatte sich bereits schlafen gelegt. Zwei andere Damen suchten mit Anna ein Gespräch anzuknüpfen, und eine beleibte alte Dame hüllte gleichfalls ihre Füße in eine Decke und äußerte sich abfällig über die Heizung. Anna erwiderte den Damen ein paar Worte; aber da das Gespräch ihr nicht besonders interessant werden zu wollen schien, so hieß sie Annuschka die Reiselaterne hervorholen, hängte sie an der Armlehne des Sessels auf und nahm aus ihrer Reisetasche ein Papiermesser und einen englischen Roman. Anfangs konnte sie nicht lesen. Zuerst störte sie das Lärmen und Hinundherlaufen auf dem Bahnsteige; dann, als der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, mußte sie unwillkürlich auf das von ihm verursachte Geräusch horchen; darauf wurde ihre Aufmerksamkeit durch den Schnee abgelenkt, der gegen das linke Fenster schlug und an der Scheibe haftenblieb, und durch den Anblick des vorbeigehenden, dicht eingemummten Schaffners, der auf der einen Seite ganz mit Schnee bedeckt war, und durch die Gespräche der anderen Damen über den entsetzlichen Schneesturm draußen. Aber dann weiter blieb alles unverändert: dasselbe rüttelnde Stoßen, derselbe Schnee am Fenster, dieselben schnellen Übergänge von Gluthitze zu Kälte und wieder zu Hitze, dasselbe Vorüberhuschen derselben Personen im Halbdunkel und dieselben Stimmen; und nun begann Anna zu lesen und das Gelesene zu verstehen. Annuschka schlummerte schon; die rote Reisetasche hielt sie mit ihren breiten Händen auf den Knien; ihre Hände staken in Handschuhen, von denen der eine zerrissen war. Anna Arkadjewna las, und sie verstand, was sie las; aber es machte ihr kein Vergnügen, zu lesen, das heißt das Leben anderer Menschen gleichsam wie in einem Spiegel zu verfolgen. Es verlangte sie gar zu sehr, selbst zu leben. Mochte sie nun lesen, wie die Heldin des Romans einen Kranken pflegte, so wünschte sie, selbst mit unhörbaren Schritten durch das Zimmer des Kranken zu gehen; oder las sie, wie ein Parlamentsmitglied eine Rede hielt, so begehrte sie, selbst eine solche Rede zu halten; oder las sie, wie Lady Mary hoch zu Roß hinter der Meute dahingaloppierte und ihre Schwägerin neckte und alle Teilnehmer der Jagd durch ihre Kühnheit in Erstaunen versetzte, so regte sich in ihr das Verlangen, dies auch zu tun. Aber irgend etwas zu tun, dazu war für sie jetzt keine Möglichkeit, und so zwang sie sich denn zu lesen, während ihre kleinen Hände mit dem glatten Papiermesser spielten.

Der Held des Romans war schon nahe daran, das zu erreichen, was für einen Engländer das höchste Glück ist, den Baronetstitel und ein Landgut, und Anna hegte den Wunsch, mit ihm zusammen auf dieses Gut zu fahren, als sie plötzlich die Empfindung hatte, eigentlich müsse er sich schämen und sie müsse es auch tun. Aber weshalb sollte er sich denn schämen? ›Weshalb brauche ich mich zu schämen?‹ fragte sie sich erstaunt und gekränkt. Sie legte das Buch auf ihre Knie, ließ sich gegen die Lehne des Sessels zurücksinken und preßte beide Hände fest um das Papiermesser zusammen. Sie hatte sich über nichts zu schämen. Sie musterte alle ihre Moskauer Erinnerungen: es war nur Gutes und Angenehmes. Sie dachte an den Ball, sie dachte an Wronski und seine verliebte, demütige Miene; sie rief sich alles, was zwischen ihnen beiden vorgegangen war, ins Gedächtnis zurück; es war nichts Beschämendes darunter. Aber dabei wurde doch gerade an dieser Stelle der Erinnerungen das Gefühl der Scham stärker, als ob eine innere Stimme gerade dann, wenn sie an Wronski dachte, ihr wie bei einem gewissen Gesellschaftsspiele zuriefe: ›Warm, sehr warm, heiß!‹ ›Nun, was denn?‹ sagte sie energisch zu sich selbst und setzte sich in ihrem Sessel wieder aufrecht. ›Was soll denn das? Fürchte ich mich etwa, dieser Sache offen ins Gesicht zu sehen? Was liegt denn vor? Als ob zwischen mir und diesem jungen Offizier irgendwelche andere Beziehungen bestünden und bestehen könnten als mit jedem anderen Bekannten.‹ Sie lächelte geringschätzig und griff wieder nach dem Buche; aber jetzt vermochte sie das, was sie las, schlechterdings nicht mehr zu verstehen. Sie fuhr mit dem Papiermesser über die Fensterscheibe und hielt dann seine glatte, kalte Fläche an ihre Wange und lachte beinahe laut auf vor Freude, obwohl zu diesem Gefühl, das sie plötzlich überkam, gar kein Anlaß vorlag. Sie hatte die Empfindung, daß die Spannung ihrer Nerven immer straffer werde, wie wenn sie an Wirbeln befestigt wären, die immer schärfer angezogen würden. Sie fühlte, daß ihre Augen sich immer weiter und weiter öffneten, daß ihre Finger und Zehen sich nervös bewegten, daß ihr irgend etwas in der Brust den Atem benahm und daß alles Sichtbare und Hörbare in diesem hin und her schwankenden, halbdunklen Raume ihr einen ungewöhnlich grellen Eindruck machte. Fortwährend kamen ihr Augenblicke, in denen sie zweifelte, ob der Wagen vorwärts oder rückwärts fahre oder überhaupt still stehe. Saß da Annuschka neben ihr oder eine Fremde? ›Was liegt dort auf der Lehne, ist es ein Pelz oder ein Tier? Und bin ich selbst hier? Ich selbst oder eine andere?‹ Es war ihr furchtbar, sich dieser halben Bewußtlosigkeit hinzugeben. Aber sie fühlte sich immer wieder zu diesem Zustande hingezogen und konnte sich nach Willkür ihm überlassen und sich von ihm befreien. Sie stand auf, um zu sich zu kommen, legte das Reisetuch weg und knöpfte den Kragen ihres warmen Kleides ab. Einen Augenblick war sie bei klarer Besinnung und begriff, daß der eintretende hagere Arbeitsmann im langen Nankingüberrock, an dem mehrere Knöpfe fehlten, der Heizer war, daß er nach dem Thermometer sah, daß Wind und Schnee hinter ihm durch die Tür eindrangen; aber dann verwirrten sich ihre Gedanken wieder. Dieser Arbeitsmann mit dem langen Oberkörper begann etwas an der Wand zu benagen; die alte Dame streckte ihre Beine durch die ganze Länge des Wagens aus und füllte ihn wie eine schwarze Wolke ganz aus; dann knarrte und krachte es furchtbar, als ob etwas in Stücke ginge; dann blendete ein rotes Feuer ihre Augen, und dann verschwand alles hinter einer Wand. Anna hatte das Gefühl, als ob sie tief hinunterfiele. Aber all dies war nicht furchtbar, sondern ganz vergnüglich. Die Stimme eines eingemummten, mit Schnee bedeckten Mannes rief etwas nahe an ihrem Ohr. Sie stand auf und sammelte ihre Gedanken; sie begriff, daß der Zug in eine Station einfuhr und daß dieser Mann der Schaffner gewesen war. Sie ließ sich von Annuschka den Kragen, den sie vorhin abgelegt hatte, und noch ein Tuch reichen, nahm beides um und ging auf die Tür zu.

»Belieben Sie auszusteigen?« fragte Annuschka.

»Ja, ich möchte ein bißchen frische Luft schöpfen. Es ist hier sehr heiß.«

Sobald sie die Tür ein wenig öffnete, stürmten Schnee und Wind ihr entgegen und kämpften mit ihr um die Tür. Das kam ihr lustig vor. Sie öffnete die Tür mit Gewalt und trat hinaus. Der Wind schien nur auf sie gewartet zu haben; er pfiff freudig auf und wollte sie umfassen und davontragen; aber sie hielt sich mit der Hand an der kalten, eisernen Stange fest, stieg, ihr Kleid festhaltend, auf den Bahnsteig hinunter und trat in den Schutz des Wagens. Der Wind war auf den Stufen sehr heftig gewesen; aber auf dem Bahnsteig hinter den Wagen war es geschützt. Es war ihr eine Wonne, mit ganzer Brust die kalte Schneeluft einzuatmen, und neben dem Wagen stehend, betrachtete sie den Bahnsteig und das erleuchtete Bahnhofsgebäude.

30

Ein furchtbarer Sturm tobte und pfiff von der einen Ecke des Bahnhofsgebäudes her zwischen den Rädern der Wagen und um die Telegrafenpfähle. Die Wagen, die Pfähle, die Menschen, alles, was man nur sehen konnte, war von einer Seite her mit Schnee bedeckt, und diese Schneehülle wurde immer dichter. Mitunter legte sich der Sturm für einen Augenblick; aber dann kam er wieder mit solchem Ungestüm herangebraust, daß es unmöglich schien, ihm Widerstand zu leisten. Trotzdem liefen einige Leute in munterem Gespräch über die knarrenden Bohlen des Bahnsteiges hin und öffneten und schlossen fortwährend die großen Türen der Bahnhofswirtschaft. Ein gebückter Mann glitt schattenhaft unten an Annas Füßen vorbei, und es ertönte der Klang eines Hammers, der auf Eisen schlug. »Gib das Telegramm her!« erscholl eine ärgerliche Stimme von der anderen Seite her aus der Dunkelheit und dem Sturme. »Hierher, hierher! Nummer 28!« riefen verschiedene Stimmen, und mit Schnee bedeckte, vermummte Gestalten liefen vorbei. Zwei Herren mit feurig leuchtenden Zigaretten im Munde gingen vorüber. Noch einmal atmete Anna tief auf, um ihre Lungen mit frischer Luft zu füllen, und hatte bereits die Hand aus dem Muff herausgezogen, um die Stange an der Wagentreppe zu fassen und wieder einzusteigen, als ein Herr in einem Militärmantel dicht neben ihr durch sein Dazwischentreten ihr das flackernde Licht der Laterne verdeckte. Sie wendete sich um und erkannte im gleichen Augenblicke Wronskis Gesicht. Die Hand an den Mützenschirm legend, verbeugte er sich vor ihr und fragte, ob sie vielleicht etwas bedürfe und er ihr behilflich sein könne. Sie blickte ihn eine ziemliche Weile an, ohne zu antworten, und obgleich die ihr zugekehrte Seite seiner Gestalt sich im Schatten befand, sah sie doch den Ausdruck seines Gesichtes und seiner Augen oder glaubte wenigstens, ihn zu sehen. Es war wieder jener Ausdruck ehrfurchtsvollen Entzückens, der tags zuvor einen so starken Eindruck auf sie gemacht hatte. Mehr als einmal hatte sie sich in diesen letzten Tagen und noch eben jetzt gesagt, daß Wronski für sie nur einer aus jenen Hunderten von jungen Männern sei, die einem überall begegnen und alle denselben Gesichtsausdruck haben, und daß sie sich nie wieder mit einem Gedanken an ihn erinnern werde; aber jetzt, im ersten Augenblicke des Zusammentreffens mit ihm, ergriff sie ein Gefühl freudigen Stolzes. Es bedurfte für sie keiner Frage, warum er hier sei. Sie wußte das so sicher, wie wenn er es ihr gesagt hätte, daß er hier sei, um da zu sein, wo sie wäre.

 

»Ich wußte gar nicht, daß Sie mitfahren. Warum fahren Sie denn?« sagte sie und ließ die Hand, die nach der Stange hatte fassen wollen, wieder sinken. Ihr Gesicht strahlte von unbezwinglicher Freude und lebhafter Erregung.

»Warum ich fahre?« erwiderte er und blickte ihr offen in die Augen. »Das wissen Sie; ich fahre, um da zu sein, wo Sie sind. Ich kann nicht anders.«

In diesem Augenblicke fegte der Sturm, als habe er nun alle Hindernisse überwältigt, den Schnee von den Dächern der Wagen, rüttelte an einem halb losgerissenen Stück Eisenblech, und vorn heulte klagend und traurig der tiefe Ton der Lokomotivpfeife. Aber der ganze Schrecken des Schneesturms erschien Anna jetzt noch schöner als zuvor. Er hatte genau das gesagt, wonach ihre Seele verlangt hatte, wovor aber ihre Vernunft bange gewesen war. Sie antwortete nichts, und er sah auf ihrem Gesichte ihren innerlichen Kampf.

»Verzeihen Sie mir, wenn Ihnen das, was ich sagte, unangenehm ist«, sagte er demütig.

Er sprach bescheiden und achtungsvoll, aber dabei doch in so festem, bestimmtem Tone, daß sie lange nicht imstande war, ihm etwas zu erwidern.

»Was Sie da sagen, ist etwas Unrechtes, und ich bitte Sie, wenn Sie ein rechtschaffener Mensch sind, so vergessen Sie, was Sie gesagt haben, wie auch ich es vergessen werde«, entgegnete sie endlich.

»Keines Ihrer Worte, keine Ihrer Bewegungen werde ich jemals vergessen; ich kann nicht . . . «

»Hören Sie auf, hören Sie auf!« rief sie und bemühte sich vergebens, ihrem Gesichte, auf das er seine heißen Blicke heftete, einen strengen Ausdruck zu verleihen. Sie ergriff mit der Hand die eiserne Stange, stieg die Stufen hinan und trat schnell in den Vorflur des Wagens. Aber in diesem kleinen Vorflur blieb sie stehen und überdachte bei sich das Geschehene. Obgleich sie sich weder seiner Worte noch ihrer eigenen erinnerte, so fühlte sie doch, daß dieses kurze Gespräch sie einander in ungeahntem Maße nahegebracht hatte, und sie war darüber erschrocken und glücklich zugleich. Nachdem sie so einige Sekunden gestanden hatte, ging sie in den Wagen und setzte sich auf ihren Platz. Jener Zustand nervöser Anspannung, der ihr vorhin solche Pein verursacht hatte, befiel sie von neuem, ja er war diesmal noch schlimmer und steigerte sich dermaßen, daß sie jeden Augenblick fürchtete, es werde in ihrem Inneren etwas infolge der übermäßigen Spannung reißen. Sie schlief die ganze Nacht nicht. Aber dieser Zustand der Anspannung und diese Träumereien, die ihre Seele erfüllten, hatten nichts Unangenehmes oder Trübes an sich; im Gegenteil lag darin etwas Freudiges, Glühendes, Belebendes. Gegen Morgen schlummerte Anna, auf ihrem Platze sitzend, ein, und als sie erwachte, war es schon heller, lichter Tag, und der Zug war nicht mehr weit von Petersburg entfernt. Sogleich fand sie sich wieder mitten in den Gedanken an ihr Hauswesen, an ihren Mann, an ihren Sohn und in den Sorgen um den bevorstehenden Tag und die folgenden Tage.

Sobald der Zug in Petersburg hielt und sie ausstieg, war das erste Gesicht, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, das ihres Mannes. ›Ach, mein Gott, woher hat er nur solche Ohren bekommen?‹ dachte sie beim Anblick seiner stattlichen, aber frostig wirkenden Gestalt und namentlich der ihr jetzt auf einmal auffallenden Ohrmuscheln, die bis an die Krempe seines runden Hutes hinaufreichten. Als er sie erblickte, ging er ihr entgegen; um seine Lippen spielte das ihm zur Gewohnheit gewordene spöttische Lächeln, und mit seinen großen, müden Augen schaute er sie unverwandt an. Ein unangenehmes Gefühl preßte ihr das Herz zusammen, als sie seinem starren, müden Blick begegnete, wie wenn sie erwartet hätte, ihn als einen ganz anderen vorzufinden. Besonders auffallend war ihr an ihrer eigenen Person das Gefühl der Unzufriedenheit mit sich selbst, das sich ihr jetzt bei der Begegnung mit ihm aufdrängte. Dieses Gefühl war ihr zwar altgewohnt und wohlbekannt und hing eben mit jenem Zustande der Verstellung zusammen, der zwischen ihr und ihrem Gatten herrschte; aber früher hatte sie dieses Gefühl kaum beachtet, jetzt wurde sie sich seiner deutlich und schmerzlich bewußt.

»Ja, siehst du wohl, dein Mann ist noch genau so zärtlich wie im zweiten Jahr der Ehe und brannte vor Sehnsucht, dich wiederzusehen«, sagte er mit seiner langsamen, hohen Stimme, in dem Tone, dessen er sich fast immer ihr gegenüber bediente; es lag in diesem Tone eine Verspottung der Leute, die im Ernst so sprächen.

»Ist Sergei gesund?« fragte sie.

»Und das ist die ganze Belohnung für meine feurige Leidenschaft?« erwiderte er. »Jawohl, er ist gesund, jawohl . . . «

31

Wronski hatte in der Nacht gar nicht versucht zu schlafen. Auf seinem Platze sitzend, starrte er bald geradeaus vor sich hin, bald musterte er die Ein- und Aussteigenden, und wenn er schon in früherer Zeit Leute, die ihn nicht kannten, durch den Ausdruck der unerschütterlichen Ruhe in seinem Gesichte überrascht und befremdet hatte, so erregte er jetzt in noch höherem Grade den Anschein des Stolzes und der Selbstzufriedenheit. Er blickte auf die Menschen hin wie auf leblose Gegenstände. Ein nervöser junger Mann, Beamter bei einem Kreisgericht, der ihm gegenübersaß, warf wegen dieser Miene einen ordentlichen Haß auf ihn. Der junge Mann hatte sich von ihm Feuer für seine Zigarette geben lassen, hatte ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen versucht, hatte sogar eine Gelegenheit benutzt, ihn anzustoßen, um ihm zu verstehen zu geben, daß er kein lebloser Gegenstand, sondern ein Mensch sei; aber Wronski blickte mit ebenso gleichgültiger Miene nach ihm hin wie nach der Laterne, und der junge Mann schnitt Grimassen, weil er fühlte, daß er gegenüber dieser beharrlichen Weigerung, ihn als Menschen anzuerkennen, nahe daran war, die Selbstbeherrschung zu verlieren.

Wronski sah nichts und niemanden. Er kam sich wie ein König vor, nicht weil er geglaubt hätte, auf Anna Eindruck gemacht zu haben – das glaubte er noch keineswegs –, sondern weil ihn der Eindruck, den sie auf ihn gemacht hatte, mit einem Gefühle des Glückes und Stolzes erfüllte.

Was aus alledem werden sollte, das wußte er nicht, und er dachte auch nicht einmal daran. Er fühlte, daß alle seine bisher planlos zersplitterten Kräfte sich jetzt auf einen Punkt hin drängten und sich mit furchtbarer Gewalt auf ein ersehntes Ziel richteten. Und darüber war er glücklich. Er wußte nur, daß er ihr die Wahrheit gesagt hatte: daß er nicht anders konnte, als dahin zu fahren, wo sie war, daß er sein ganzes Lebensglück, den gesamten Wert und Inhalt seines Lebens jetzt darin fand, sie zu sehen und zu hören. Und als er in Bologoje ausgestiegen war, um ein Glas Selterswasser zu trinken, und Anna erblickt hatte, da hatte er ihr unwillkürlich mit dem ersten Worte seine Empfindung ausgesprochen. Und er war froh darüber, daß er es ihr gesagt hatte und sie es jetzt wußte und daran dachte. Er schlief die ganze Nacht nicht. Als er in seinen Wagen zurückgekehrt war, rief er sich unablässig alle Stellungen, in denen er sie gesehen hatte, und jedes ihrer Worte ins Gedächtnis zurück, und vor seinem geistigen Auge zogen Bilder einer ihm als möglich erscheinenden Zukunft vorüber, Bilder von einem verlockenden Reiz, der ihm das Herz stocken ließ.

Als er in Petersburg ausstieg, fühlte er sich nach der schlaflosen Nacht belebt und frisch wie nach einem kalten Bade. Er blieb neben seinem Wagen stehen und wartete, bis Anna ausstiege. ›Ich will sie noch einmal sehen‹, sagte er zu sich mit einem unwillkürlichen Lächeln, ›ich will ihren Gang sehen, ihr Gesicht sehen, will die Bewegung ihres Mundes sehen, wenn sie etwa mit jemand spricht; und vielleicht wendet sie dann den Kopf und sieht mich und lächelt vielleicht.‹ Aber noch ehe er sie selbst sah, erblickte er ihren Mann, den der Bahnhofsvorsteher achtungsvoll durch den Menschenschwarm hindurch begleitete. ›Ach ja, ihr Mann!‹ Jetzt zum ersten Male gewann Wronski ein klares Verständnis dafür, daß dieser Gatte eine mit ihr in enger Beziehung stehende Persönlichkeit sei. Er hatte gewußt, daß sie einen Mann hatte, aber er hatte eigentlich nicht an dessen Dasein geglaubt und gelangte erst jetzt zur vollen Überzeugung, als er ihn sah, mit seinem Kopfe und mit seinen Schultern und seinen in schwarzen Hosen steckenden Beinen, und namentlich, als er sah, wie dieser Mann mit dem Benehmen des berechtigten Eigentümers ihre Hand ergriff.

Als er diesen Alexei Alexandrowitsch sah, mit seinem petersburgisch frischen Gesichte, in seiner außerordentlich selbstbewußten Haltung, mit dem runden Hute, mit dem ein wenig gewölbten Rücken, da mußte er wohl an sein Dasein glauben und hatte eine unangenehme Empfindung, etwa wie wenn ein Mensch, vom Durste gequält, zu einer Quelle gelangt und an dieser Quelle einen Hund, ein Schaf oder ein Schwein findet, die von dem Wasser getrunken und es aufgerührt haben. Die Art, in der Alexei Alexandrowitsch ging, indem er bei jedem Schritte mit dem Becken und den plumpen Beinen eine drehende Bewegung machte, hatte für Wronski etwas ganz besonders Abstoßendes. Er erkannte nur für sich selbst ein unbestreitbares Recht an, sie zu lieben. Sie aber war unverändert, und ihr Anblick wirkte auf ihn ganz wie sonst: er belebte ihn physisch, regte ihn an und erfüllte seine Seele mit einem Gefühle der Glückseligkeit. Er befahl seinem deutschen Diener, der aus der zweiten Klasse ausgestiegen und zu ihm geeilt war, sich das Gepäck geben zu lassen und damit nach Hause zu fahren; er selbst ging zu Anna hin. Er beobachtete die erste Begegnung von Mann und Frau und bemerkte mit dem Scharfblicke des Liebenden an manchen Anzeichen, daß sie im Gespräch mit ihrem Manne nicht frei von einer leisen Befangenheit war. ›Nein, sie liebt ihn nicht und kann ihn nicht lieben‹, sagte er sich mit großer Bestimmtheit.

Schon während er von hinten her auf Anna Arkadjewna zuging, bemerkte er mit lebhafter Freude, daß sie seine Annäherung fühlte und schon den Kopf drehte, um sich umzuschauen, dann aber, als sie ihn erkannte, sich wieder ihrem Manne zuwendete.

»Haben Sie eine gute Nacht gehabt?« fragte er, indem er sich vor ihr und zugleich auch vor ihrem Mann verbeugte und es auf diese Art diesem anheimstellte, die Verbeugung auch auf sich zu beziehen und ihn zu erkennen oder nicht zu erkennen, wie es ihm belieben möchte.

»Ja, ich danke, ich habe sehr gut geschlafen«, antwortete sie. Ihr Gesicht erschien müde, und von dem Mienenspiel, durch das sich sonst bei ihr die innere Lebhaftigkeit bald in einem Lächeln der Lippen, bald im Glanze der Augen verriet, war jetzt nichts vorhanden; aber für einen einzigen Augenblick blitzte bei einem Anblick in ihren Augen etwas auf, und obwohl dieses Leuchten sofort wieder erlosch, machte ihn doch dieser eine Augenblick glücklich. Sie sah ihren Mann an, um sich zu vergewissern, ob er Wronski erkenne. Alexei Alexandrowitsch blickte diesen mißmutig an und suchte halb zerstreut in seinem Gedächtnisse, wer das wohl sein möchte. Wronskis Ruhe und Selbstbewußtsein stießen hier wie die Sense auf den Stein mit dem kalten Wesen und dem Selbstbewußtsein Alexei Alexandrowitschs zusammen.

»Graf Wronski«, sagte Anna.

»Ah! Ich glaube, wir kennen einander«, bemerkte Alexei Alexandrowitsch in gleichgültigem Tone und reichte ihm die Hand. »Hin bist du also mit der Mutter gefahren und zurück mit dem Sohne«, fuhr er, zu Anna gewendet, fort, wobei er sich einer so bedächtigen, sorgsamen Aussprache bediente, als ob jedes Wort ein Rubel wäre, den er wegschenkte. »Sie kommen gewiß von Ihrem Urlaub zurück?« fragte er Wronski und kehrte sich, ohne dessen Antwort abzuwarten, wieder in seinem scherzenden Tone zu seiner Frau hin: »Nun, sind in Moskau beim Abschied viele Tränen geflossen?«

 

Durch diese Frage an seine Frau wollte er Wronski zu verstehen geben, daß er allein zu bleiben wünsche, und berührte, zu ihm gewandt, seinen Hut. Aber Wronski wendete sich zu Anna Arkadjewna:

»Ich hoffe, daß ich die Ehre haben darf, Ihnen meine Aufwartung zu machen«, sagte er.

Alexei Alexandrowitsch blickte mit seinen müden Augen Wronski an.

»Sehr angenehm«, versetzte er kühl. »Wir empfangen montags.« Nachdem er so das Gespräch mit Wronski endgültig zum Abschluß gebracht hatte, sagte er zu seiner Frau in jenem selben scherzhaften Tone: »Wie gut, daß ich gerade eine halbe Stunde freie Zeit hatte, um dich abzuholen, und dir dadurch meine Zärtlichkeit beweisen konnte.«

»Du hebst deine Zärtlichkeit denn doch gar zu stark hervor, als daß ich sie so sehr hoch veranschlagen könnte«, versetzte sie in demselben scherzhaften Tone und horchte dabei unwillkürlich auf den Schall der Schritte Wronskis, der hinter ihnen ging. ›Aber was kümmert das mich?‹ dachte sie und fragte ihren Mann, wie es dem kleinen Sergei in ihrer Abwesenheit ergangen sei.

»Oh, vorzüglich! Mariette sagt, er sei sehr artig gewesen und habe sich – ich muß dich da leider betrüben – gar nicht nach dir gegrämt, ganz anders als dein Gatte. Aber noch einmal merci, liebe Frau, daß du mir unerwartet diesen Tag geschenkt hast. Unser lieber Samowar wird ganz entzückt sein.« (Samowar nannte er die überall bekannte Gräfin Lydia Iwanowna, und zwar weil sie immer und über alles mögliche sich erhitzte und aufbrauste.) »Sie hat sich fortwährend nach dir erkundigt. Und weißt du, wenn ich mir erlauben darf, dir einen Rat zu geben, du solltest gleich heute zu ihr hinfahren. Sie nimmt sich ja alles so furchtbar zu Herzen. Zu allem, was sie so schon zu tun hat, interessiert sie sich jetzt auch noch für die Aussöhnung der Oblonskis.«

Die Gräfin Lydia Iwanowna war mit Annas Manne befreundet und bildete den Mittelpunkt des Petersburger Gesellschaftskreises, in dem Anna ihres Mannes wegen am meisten verkehrte.

»Ich habe ihr ja darüber geschrieben.«

»Gewiß, aber sie möchte alles ganz genau wissen. Besuche sie doch, wenn du nicht zu müde bist, liebe Frau. Nun also, dich wird Kondrati nach Hause fahren, und ich meinerseits fahre in die Komiteesitzung. Nun brauche ich doch nicht mehr allein zu Mittag zu speisen«, fuhr Alexei Alexandrowitsch fort, und zwar jetzt nicht mehr in dem scherzenden Tone. »Du glaubst gar nicht, wie ich mich an dich gewöhnt habe . . . «

Er drückte ihr lange die Hand und war ihr mit einem besonderen Lächeln beim Einsteigen in den Wagen behilflich.