Anna Karenina

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

9

Anna trat ein; sie hielt den Kopf gesenkt und spielte mit den Quasten ihres Baschliks. Ihr Gesicht strahlte von einem hellen Glanze; aber dieser Glanz war nicht heiter; er erinnerte an den furchtbaren Schein einer Feuersbrunst mitten in dunkler Nacht. Als Anna ihren Mann erblickte, hob sie den Kopf in die Höhe und lächelte, wie aus dem Schlafe erwachend, ihm zu.

»Du noch nicht im Bett? Nun, das ist ein Wunder!« sagte sie, warf den Baschlik ab und ging, ohne stehenzubleiben, weiter nach ihrem Ankleidezimmer. »Es ist Zeit, Alexei Alexandrowitsch«, sagte sie, als sie schon fast aus der Tür war.

»Anna, ich habe mit dir zu sprechen.«

»Mit mir?« erwiderte sie erstaunt, trat von der Tür wieder zurück und sah ihn an. »Was gibt es denn? Worüber?« fragte sie und setzte sich hin. »Nun, dann können wir ja miteinander sprechen, wenn es nötig ist. Aber wir täten besser, zu schlafen.«

Anna redete, was ihr gerade in den Sinn kam, und war, während sie sich reden hörte, selbst erstaunt darüber, daß sie so gut zu lügen verstand. Wie harmlos und natürlich klangen ihre Worte, und wie glaubhaft war es, daß sie sich einfach müde fühlte! Sie fühlte sich in einen undurchdringlichen Panzer der Lüge gehüllt. Sie hatte die Empfindung, als ob eine unsichtbare Kraft ihr beistünde und sie aufrechterhielte.

»Anna, ich muß dich warnen«, sagte er.

»Warnen?« erwiderte sie. »Wovor?«

Sie machte ein so harmloses, heiteres Gesicht, daß jemand, der sie nicht so genau kannte wie ihr Mann, nichts Unnatürliches an ihr hätte bemerken können, weder am Klange ihrer Worte noch an deren Inhalt. Aber für ihn, der sie genau kannte und wußte, daß, wenn er sich einmal auch nur fünf Minuten später hinlegte als gewöhnlich, sie es bemerkte und ihn nach dem Grunde fragte, für ihn, der wußte, daß sie alle ihre Freuden, ihre Lust und ihren Kummer immer sofort mit ihm teilte, für ihn war jetzt von vielsagender Bedeutung die Wahrnehmung, daß sie seinen Zustand nicht bemerken und daß sie über sich selbst kein Wort sagen wollte. Er sah, daß die Tiefen ihrer Seele, die früher immer offen vor seinem Blick dagelegen hatten, ihm jetzt verschlossen waren. Und damit nicht genug: an ihrem Ton merkte er, daß sie darüber gar nicht einmal verlegen war, sondern ihm gleichsam geradezu sagte: ›Ja, meine Seele ist für dich verschlossen, und das soll so sein und wird künftig so bleiben.‹ Jetzt hatte er eine Empfindung, wie wenn jemand nach Hause zurückgekehrt ist und sein Haus verschlossen findet. ›Aber vielleicht ist der Schlüssel noch zu finden‹, dachte Alexei Alexandrowitsch.

»Ich möchte dich davor warnen«, sagte er leise, »aus Unvorsichtigkeit und Leichtsinn den Leuten Anlaß zu Gerede über dich zu geben. Deine heutige gar zu lebhafte Unterhaltung mit dem Grafen Wronski (er sprach diesen Namen mit fester, ruhiger Stimme in aller Deutlichkeit aus) hat Aufsehen erregt.«

Während er das sagte, blickte er in ihre lachenden Augen, die ihm jetzt in ihrer Undurchdringlichkeit so furchtbar waren, und fühlte schon während des Redens die ganze Nutzlosigkeit und Vergeblichkeit seiner Worte.

»So bist du immer«, antwortete sie, wie wenn sie ihn gar nicht verstanden hätte; sie tat absichtlich so, als habe sie von dem, was er gesagt hatte, nur das letzte verstanden. »Bald ist es dir nicht recht, wenn ich müde und gleichgültig bin, und ein andermal nicht, wenn ich lebhaft und lustig bin. Ich habe mich gut unterhalten. Ärgert dich das?«

Alexei Alexandrowitsch zuckte zusammen und bog die ineinandergelegten Hände, um mit den Fingern zu knacken.

»Ach, bitte, knacke nicht; das ist mir so zuwider!« sagte sie.

»Anna, bist du es denn wirklich?« fragte Alexei Alexandrowitsch leise, indem er sich Gewalt antat und jene Bewegung der Hände unterließ.

»Was ist denn eigentlich los?« sagte sie mit anscheinend aufrichtiger, komischer Verwunderung. »Was willst du von mir?«

Alexei Alexandrowitsch schwieg eine Weile und rieb sich mit der Hand die Stirn und die Augen. Er sah, daß er, statt das zu tun, was er wollte, nämlich seine Frau vor einem falschen Schritt in den Augen der Welt zu warnen, sich wider seine Absicht über etwas aufregte, was nur ihr Gewissen betraf, und gleichsam gegen eine Mauer ankämpfte, die nur in seiner Einbildung bestand.

»Was ich dir sagen wollte«, fuhr er kühl und ruhig fort, »ist folgendes, und ich bitte dich, mich anzuhören. Ich halte, wie du weißt, die Eifersucht für ein beleidigendes und erniedrigendes Gefühl, und es wird mir nie in den Sinn kommen, mich von diesem Gefühle leiten zu lassen; aber es gibt gewisse Gesetze des Anstandes, die man nicht ungestraft übertreten kann. Aber heute – und das habe nicht eigentlich ich bemerkt, sondern, nach dem Eindruck zu urteilen, den es auf die Gesellschaft gemacht hat, haben es alle bemerkt –, heute hast du dich nicht ganz so benommen und gehalten, wie man es hätte wünschen mögen.«

»Ich verstehe dich schlechterdings nicht«, entgegnete Anna achselzuckend. (›Ihm selbst ist es ganz gleich‹, dachte sie. ›Aber in der Gesellschaft hat es Aufsehen erregt, und das beunruhigt ihn.‹) »Du bist krank, Alexei Alexandrowitsch«, fügte sie hinzu, stand auf und wollte nach der Tür gehen; aber er machte eine Bewegung vorwärts, wie wenn er sie zurückhalten wollte.

Sein Gesicht war entstellt und finster, wie Anna es noch niemals gesehen hatte. Sie blieb stehen, und indem sie den Kopf nach hinten und zur Seite bog, begann sie mit ihrer flinken Hand die Haarnadeln herauszunehmen.

»Nun schön, dann will ich hören, was noch weiter kommt«, sagte sie in ruhigem, spöttischem Tone. »Ich will sogar recht aufmerksam zuhören, weil ich gern begreifen möchte, worum es sich eigentlich handelt.«

Sie sprach und wunderte sich dabei über den natürlich klingenden, ruhigen, sicheren Ton, in dem sie sprach, und über die geschickte Auswahl der Worte, deren sie sich bediente.

»In alle Einzelheiten deiner Gefühle einzudringen, dazu habe ich kein Recht, und ich halte das überhaupt für nutzlos oder sogar für schädlich«, begann Alexei Alexandrowitsch. »Wenn wir im tiefsten Grunde unserer Seele herumwühlen, so wühlen wir dabei oft Dinge heraus, die lieber dort unbemerkt hätten liegenbleiben sollen. Deine Gefühle, das ist etwas, was nur dein Gewissen angeht; aber ich habe dir gegenüber, mir selbst gegenüber und vor Gott die Pflicht, dich auf deine Pflichten hinzuweisen. Dein Leben ist mit dem meinigen nicht durch Menschen zusammengefügt worden, sondern durch Gott. Zerrissen kann dieses Band nur durch ein Verbrechen werden, und ein derartiges Verbrechen zieht unweigerlich seine Strafe nach sich.«

»Ich begreife nichts von dem, was du da sagst. Ach, mein Gott, und unglücklicherweise bin ich so furchtbar müde!« sagte sie und wühlte dabei eilig mit der Hand in den Haaren, um die noch darin gebliebenen Haarnadeln herauszusuchen.

»Anna, um Gottes willen, sprich nicht so!« sagte er sanft. »Vielleicht irre ich mich; aber sei überzeugt: was ich sage, das sage ich ebensowohl in deinem wie in meinem Interesse. Ich bin ja doch dein Mann und liebe dich.«

Einen Augenblick hatte sie ihr Gesicht sinken lassen, und das spöttische Funkeln in ihrem Blicke war erloschen; aber die Wendung ›Ich liebe dich‹ versetzte sie wieder in Erregung. Sie dachte: ›Er liebt mich? Kann er denn überhaupt lieben? Wenn er nicht gehört hätte, daß es so etwas wie Liebe gibt, so würde er sich dieses Ausdrucks überhaupt nie bedienen. Er weiß gar nicht, was eigentlich Liebe ist.‹

»Alexei Alexandrowitsch, wirklich, ich verstehe dich nicht«, entgegnete sie. »Erkläre mir deutlicher, was deiner Ansicht nach . . . «

»Bitte, laß mich zu Ende reden! Ich liebe dich. Aber ich will nicht von mir sprechen; die Hauptbeteiligten sind hier unser Sohn und du selbst. Ich sage noch einmal: Es ist sehr leicht möglich, daß meine Worte dir völlig unnütz und unangebracht erscheinen; vielleicht sind sie lediglich durch einen Irrtum meinerseits veranlaßt. In diesem Falle bitte ich dich um Entschuldigung. Aber wenn du selbst fühlst, daß zu meinen Worten ein begründeter Anlaß vorliegt, mag er auch noch so geringfügig sein, so bitte ich dich, sie wohl zu erwägen und, wenn dein Herz dich dazu treibt, alles frei und offen mir gegenüber auszusprechen.«

Alexei Alexandrowitsch sagte, ohne es selbst gewahr zu werden, etwas ganz anderes, als er sich vorher für seine Rede zurechtgelegt hatte.

»Ich habe dir nichts zu sagen. Ja, und dann . . . «, setzte sie auf einmal hastig hinzu, indem sie nur mit Mühe ein Lächeln unterdrückte, »es ist wirklich Zeit, schlafen zu gehen.«

Alexei Alexandrowitsch seufzte und begab sich, ohne weiter ein Wort zu sagen, in das Schlafzimmer.

Als sie ins Schlafzimmer kam, lag er bereits. Seine Lippen waren mit einem strengen Ausdruck aufeinandergepreßt, und seine Augen sahen sie nicht an. Anna legte sich in ihr Bett und erwartete jeden Augenblick, daß er noch einmal anfangen werde, mit ihr zu reden. Sie fürchtete, daß er dies tun werde, und wünschte es doch zugleich. Aber er schwieg. Lange wartete sie, ohne sich zu rühren, und vergaß ihn schließlich ganz. Sie dachte an den anderen; sie glaubte ihn zu sehen, und sie fühlte, wie ihr Herz bei dieser Vorstellung sich mit Unruhe und verbrecherischer Freude füllte. Plötzlich hörte sie ein gleichmäßiges ruhiges Pfeifen durch die Nase. Im ersten Augenblick schien Alexei Alexandrowitsch über sein eigenes Pfeifen zu erschrecken und hielt damit inne; aber nachdem das Pfeifen zwei Atemzüge übersprungen hatte, ertönte es wieder von neuem mit ruhiger Gleichmäßigkeit.

›Es ist zu spät, es ist schon zu spät!‹ flüsterte sie lächelnd. Sie lag lange regungslos mit offenen Augen da, und es kam ihr vor, als könne sie selbst den Glanz ihrer eigenen Augen in der Dunkelheit sehen.

 

10

Mit diesem Tage begann für Alexei Alexandrowitsch und seine Frau ein neues Leben. Äußerlich hatte sich nichts Besonderes begeben. Anna verkehrte wie bisher in der Gesellschaft und besuchte besonders häufig die Fürstin Betsy, und überall traf sie mit Wronski zusammen. Alexei Alexandrowitsch sah dies zwar, konnte aber nichts dagegen tun. Sooft er versuchte, sie zu einer Aussprache zu veranlassen, stellte sie ihm die undurchdringliche Mauer heiterer Verständnislosigkeit entgegen. Äußerlich war alles unverändert geblieben; aber ihr innerliches Verhältnis hatte sich vollständig umgestaltet. Alexei Alexandrowitsch, ein so mächtiger Mann im Staatsdienste, fühlte sich hier machtlos. Wie ein Stier, der, sich in sein Schicksal ergebend, den Kopf senkt, erwartete er den Hieb der Axt, die, wie er fühlte, schon über ihm schwebte. Jedesmal, sooft er darüber nachzudenken begann, sagte er sich, er müsse es noch einmal versuchen; es sei noch Hoffnung vorhanden, daß es durch Güte, durch Zärtlichkeit und durch Überredung gelingen werde, sie zu retten, sie zur Besinnung zu bringen, und täglich nahm er sich vor, mit ihr zu sprechen. Aber jedesmal, wenn er mit ihr zu sprechen begann, hatte er die Empfindung, daß jener Geist des Bösen und der Lüge, der sie beherrschte, auch ihn unter seine Herrschaft zwang und daß er ihr etwas ganz anderes sagte, als was er ihr hatte sagen wollen, und daß er es auch in einem ganz anderen Tone sagte, als er beabsichtigt hatte. Unwillkürlich sprach er mit ihr in seinem gewöhnlichen ironischen Tone, der immer so klang, als wolle er sich über den lustig machen, der in dieser Weise spräche. In diesem Tone aber konnte er ihr unmöglich das sagen, was zu sagen notwendig war.

11

Was fast ein ganzes Jahr lang für Wronski den einzigen Wunsch seines Lebens gebildet hatte, der in seiner Seele an die Stelle aller früheren Wünsche getreten war; was für Anna ein unmöglicher, furchtbarer und um so entzückenderer Traum des Glückes gewesen war: dieser Wunsch hatte seine Erfüllung gefunden. Bleich, mit zitterndem Unterkiefer, stand er da und beugte sich zu der vor ihm sitzenden Anna hinab; er beschwor sie, sich zu beruhigen, ohne daß er selbst gewußt hätte, inwiefern und womit.

»Anna, Anna!« sagte er mit bebender Stimme. »Anna, um Gottes willen!«

Aber je lauter er sprach, um so tiefer senkte sie ihr einst so stolzes, heiteres, jetzt von Scham übergossenes Antlitz hinab; sie krümmte sich ganz zusammen und glitt von dem Sofa, auf dem sie saß, auf den Boden nieder, zu seinen Füßen; ja, sie wäre mit dem ganzen Körper auf den Teppich hingesunken, wenn er sie nicht gehalten hätte.

»Um Gottes willen! Vergib mir!« schluchzte sie und drückte seine Hände an ihre Brust.

Sie fühlte sich so sehr als Sünderin und Verbrecherin, daß ihr nichts blieb, als sich zu demütigen und um Verzeihung zu flehen; aber im Leben hatte sie jetzt niemanden außer ihm, so daß sie auch ihre Bitte um Verzeihung an ihn richtete. Während sie ihn anblickte, fühlte sie mit körperlichem Schmerze ihre Erniedrigung und war nicht imstande, weiterzusprechen. Er aber hatte eine Empfindung, wie sie ein Mörder haben mag, wenn er den Körper anblickt, den er des Lebens beraubt hat. Dieser Körper, den er des Lebens beraubt hatte, war seine und Annas Liebe, die erste Periode dieser Liebe. Es lag etwas Furchtbares, Abstoßendes in dem Gedanken an das, was mit diesem entsetzlichen Preis, der Schande, erkauft war. Anna war wie zermalmt von Scham über ihre seelische Nacktheit, und diese Scham teilte sich ihm mit. Aber trotz allem Entsetzen, das den Mörder vor dem Leichnam des Ermordeten ergreift, muß er diesen Leichnam in Stücke schneiden und verstecken und muß sich das aneignen und zunutze machen, was er durch den Mord erworben hat.

Mit Ingrimm, mit einer wahren Leidenschaft stürzt sich der Mörder auf den Leichnam, zerrt ihn hin und her und zerstückelt ihn; und so bedeckte auch Wronski jetzt Annas Gesicht und Schultern mit Küssen. Sie hielt seine Hand in der ihrigen und rührte sich nicht. ›Ja, diese Küsse, die sind nun das, was für diese Schande erkauft ist. Ja, und diese Hand, die nun immer mir gehören wird, ist die Hand meines Mitschuldigen.‹ Sie hob diese Hand an ihre Lippen und küßte sie. Er ließ sich auf die Knie nieder und wollte ihr Gesicht sehen, aber sie verbarg es und sprach kein Wort. Schließlich, wie wenn sie sich mit Gewalt dazu zwänge, richtete sie sich auf und schob ihn zurück. Ihr Gesicht war noch ebenso schön wie früher, aber einen um so bejammernswerteren Eindruck machte es.

»Alles ist aus!« sagte sie. »Ich habe auf der Welt niemand mehr als dich. Vergiß das nicht!«

»Ich kann das nicht vergessen, was mein ganzes Lebensglück ausmacht. Für einen Augenblick dieses Glückes . . . «

»Was ist das für ein Glück!« unterbrach sie ihn voll Ekel und Entsetzen, und dieses Entsetzen teilte sich unwillkürlich auch ihm mit. »Um Gottes willen, kein Wort mehr, kein Wort!«

»Kein Wort mehr!« wiederholte sie, und mit einem Ausdrucke kalter Verzweiflung im Gesicht, der ihm überraschend war, schied sie von ihm. Sie war sich bewußt, daß sie dieses Gefühl der Scham, der Freude, der Bangigkeit vor dem Eintritt in ein neues Leben in diesem Augenblicke nicht mit Worten auszudrücken imstande war, und mit unzutreffenden Worten mochte sie von diesem Gefühl nicht reden, es nicht in entstellter Form wiedergeben. Aber auch später, am folgenden und am dritten Tage, fand sie keine Worte, mit denen sie die seltsame Mischung dieser Gefühle hätte ausdrücken können, ja sie fand auch nicht einmal die erforderliche Klarheit des Geistes, um bei sich selbst alles überdenken zu können, was ihre Seele erfüllte.

Sie sagte sich: ›Nein, jetzt kann ich nicht darüber nachdenken; später, wenn ich ruhiger geworden sein werde.‹

Aber diese Beruhigung des Geistes trat bei ihr nie ein; jedesmal, wenn der Gedanke vor ihre Seele trat, was sie getan habe und was nun aus ihr werden solle und was sie nun tun müsse, überkam sie ein Grauen, und sie scheuchte diesen Gedanken von sich.

›Später, später‹, sagte sie, ›wenn ich ruhiger sein werde.‹

Dafür aber trat ihr im Traume, wo sie über ihre Gedanken keine Gewalt hatte, ihre Lage in ihrer ganzen häßlichen Nacktheit vor die Seele. Ein bestimmter Traum stellte sich bei ihr fast in jeder Nacht ein. Es träumte ihr, die beiden Männer wären gleichzeitig ihre Gatten und überschütteten sie beide mit Liebkosungen. Alexei Alexandrowitsch weinte, küßte ihr die Hände und sagte: ›O wie schön ist es jetzt!‹ Und Alexei Wronski war auch da und war ebenfalls ihr Gatte. Und sie wunderte sich darüber, daß ihr dies früher unmöglich erschienen war, und erklärte ihnen lachend, so sei die Sache weit einfacher, und nun könnten sie beide zufrieden und glücklich sein. Aber dieser Traum lastete immer auf ihr wie ein Alp, und sie erwachte vor Angst.

12

In der ersten Zeit nach seiner Rückkehr aus Moskau sagte sich Ljewin jedesmal, wenn er bei der Erinnerung an die ihm widerfahrene Schmach der Abweisung zusammenzuckte und errötete: ›Ebenso errötete ich und zuckte zusammen und hielt alles für verloren, als ich auf der Universität in der Physik das Prädikat »nicht genügend« bekam und im zweiten Kursus sitzenblieb; und ebenso meinte ich nachher, ich müßte zugrunde gehen, weil ich eine mir anvertraute Angelegenheit meiner Schwester verdorben hatte. Und wie ist's nachher gekommen? Jetzt, nachdem Jahre darüber vergangen sind, erinnere ich mich daran und wundere mich, wie ich mich über diese Dinge so habe grämen können. Ebenso wird es auch mit diesem Kummer sein. Die Zeit wird dahingehen, und ich werde auch dagegen gleichgültig werden.‹

Aber es gingen drei Monate dahin, und er war noch nicht gleichgültig dagegen geworden, und die Erinnerung daran war ihm noch ebenso schmerzlich wie in den ersten Tagen. Er konnte sich nicht beruhigen; denn nachdem er so lange in dem Gedanken an ein Familienleben geschwelgt und mit solcher Bestimmtheit sich für ein solches reif erachtet hatte, war er nun doch nicht verheiratet, ja weiter als je von der Heirat entfernt. Mit Schmerz war er sich bewußt – und alle Leute in seiner Umgebung waren derselben Meinung –, daß es für einen Mann in seinen Jahren nicht gut sei, allein zu sein. Er erinnerte sich, wie er vor seiner Abreise nach Moskau einmal zu seinem Viehknecht Nikolai, einem biederen Menschen, mit dem er gern ab und zu plauderte, gesagt hatte: »Was sagst du dazu, Nikolai? Ich will heiraten!« und wie Nikolai, als handele es sich um eine Sache, bei der gar kein Zweifel möglich sei, ohne Besinnen geantwortet hatte: »Das hätten Sie schon längst tun sollen, Konstantin Dmitrijewitsch!« Aber die Heirat lag für ihn jetzt in weiterer Ferne als je. Der Platz in seinem Herzen war ausgefüllt, und wenn er jetzt in Gedanken an diesen Platz irgendeines der jungen Mädchen aus seinem Bekanntenkreise zu setzen versuchte, so fühlte er, daß dies völlig unmöglich sei. Außerdem erfüllte ihn die Erinnerung an seine Abweisung und an die Rolle, die er dabei gespielt hatte, mit peinigender Scham. Wie oft er sich auch sagen mochte, daß ihn ja keine Schuld dabei treffe, so ließ ihn doch diese Erinnerung, ebenso wie andere derartige beschämende Erinnerungen, zusammenzucken und erröten. Es gab in seiner Vergangenheit, wie in der eines jeden Menschen, schlechte Handlungen, deren er sich bewußt war und um derentwillen sein Gewissen ihn hätte quälen sollen; aber die Erinnerung an diese schlechten Handlungen quälte ihn lange nicht so wie manche nichtigen, aber beschämenden Erinnerungen. Diese Wunden vernarbten nie. Und zu diesen Erinnerungen hatte sich jetzt die an seine Abweisung und an die klägliche Rolle gesellt, die er wohl an jenem Abende vor den Augen anderer gespielt haben mußte. Aber die Zeit und die Arbeit taten schließlich doch ihr Werk. Jene bedrückende Erinnerung wurde in seinem Geiste immer mehr und mehr von den kleinen, aber doch wichtigen Ereignissen des Landlebens in den Hintergrund gedrängt. Mit jeder Woche dachte er seltener an Kitty. Ungeduldig erwartete er die Nachricht, daß sie bereits verheiratet sei oder sich in den nächsten Tagen verheiraten werde; denn er hoffte, daß diese Nachricht wie das Ausziehen eines Zahnes ihn vollständig heilen werde.

Unterdessen war der Frühling gekommen, ein schöner, freundlicher Frühling, der keine zu großen Erwartungen erregt und dafür auch keine Enttäuschungen gebracht hatte, einer jener seltenen Frühlinge, über die sich Pflanzen, Tiere und Menschen zugleich freuen. Dieser schöne Frühling half noch weiter, Ljewin wieder frisch und munter zu machen, und bestärkte ihn in seinem Vorsatze sich von der gesamten Vergangenheit loszusagen, um sein lediges Leben fest und unabhängig zu gestalten. Gar manche von den Plänen, mit denen er auf das Land zurückgekehrt war, hatte er zwar nicht ausführen können, aber doch gerade den wichtigsten: er hatte die Reinheit seines Lebenswandels bewahrt. Er blieb jetzt frei von dem Schamgefühl, das ihn gewöhnlich nach einem Fehltritte gequält hatte, und konnte den Menschen unbefangen in die Augen sehen. Es war noch im Februar gewesen, als er von Marja Nikolajewna einen Brief erhalten hatte, daß der Gesundheitszustand seines Bruders Nikolai sich verschlimmert habe, er wolle aber trotzdem von einer Kur nichts wissen. Infolge dieses Briefes war Ljewin zu seinem Bruder nach Moskau gefahren und hatte diesen durch Überredung dahin gebracht, einen Arzt zu befragen und nach einem Badeort ins Ausland zu fahren. Es war ihm so gut gelungen, den Bruder zu überreden und ihm Geld zur Reise zu borgen, ohne ihn dadurch in Erregung zu versetzen, daß er in dieser Hinsicht mit sich recht wohl zufrieden war. Außer der Wirtschaft, die im Frühjahr besondere Achtsamkeit erforderte, und außer seiner üblichen Lektüre hatte Ljewin in diesem Winter noch begonnen, eine landwirtschaftliche Abhandlung zu schreiben, deren Hauptgedanke folgender war: Man müsse in der Landwirtschaft den Charakter des Arbeiters als eine schlechthin gegebene Größe auffassen, genauso wie das Klima und die Bodenbeschaffenheit; und folglich müßten alle Lehrsätze der landwirtschaftlichen Wissenschaft nicht aus zwei gegebenen Größen, dem Klima und der Bodenbeschaffenheit, sondern aus dreien, dem Klima, der Bodenbeschaffenheit und dem bekannten unveränderlichen Charakter des Arbeiters abgeleitet werden. So hatte denn, obgleich er so allein dastand oder auch gerade deswegen, sein Leben einen vollen Inhalt; nur empfand er bisweilen den unbefriedigten Wunsch, die in seinem Kopfe gärenden Gedanken noch sonst jemandem außer Agafja Michailowna mitteilen zu können; denn es kam nicht selten vor, daß er sich auch mit ihr über Physik, über Theorie der Landwirtschaft und namentlich über Philosophie unterhielt; die Philosophie war Agafja Michailownas Lieblingsfach.

 

Der Frühling hatte lange nicht recht zum Durchbruch kommen wollen. Die letzten Fastenwochen hatten klares Frostwetter gebracht. Bei Tage taute es zwar in der Sonne, aber in der Nacht sank das Thermometer auf sieben Grad unter Null; die Eisrinde auf dem Schnee war so stark, daß die Frachtfuhren ohne Weg darüber hinfuhren. Zu Ostern lag der Schnee noch überall. Da begann plötzlich am zweiten Feiertage ein warmer Wind zu wehen, dunkle Wolken wälzten sich heran, und drei Tage und drei Nächte lang strömte ein gewaltiger warmer Regen hernieder. Am Donnerstag legte sich der Wind, und es breitete sich ein dichter, grauer Nebel aus, als ob er die Geheimnisse der in der Natur sich vollziehenden Veränderungen verbergen wollte. In dem Nebel fingen die Gewässer an zu strömen, die Eisdecke barst, und die Schollen setzten sich in Bewegung; schneller strömten die trüben, schäumenden Flüsse dahin, und gerade am Sonntag nach Ostern gegen Abend zerriß der Nebel, das dunkle Gewölk löste sich in weiße Lämmerwölkchen auf, der Himmel klärte sich, und dann brach der richtige Frühling an. Morgens verzehrte die aufsteigende, hell strahlende Sonne schnell die dünne Eisschicht, die nachts das Wasser überzogen hatte, und die ganze warme Luft zitterte von den sie erfüllenden Ausdünstungen der neu belebten Erde. Es grünte das alte Gras und nicht minder das junge, das seine Spitzen aus dem Boden hervorstreckte; die Knospen der Schneeballsträucher, der Johannisbeersträucher und der klebrigen, von berauschendem Safte strotzenden Birken schwollen, und auf den mit goldgelben Blütenkätzchen überdeckten Weidensträuchern summten die aus ihren Körben hervorgekommenen umherfliegenden Bienen. Unsichtbare Lerchen schmetterten über dem grünen Samt der mit Winterfrucht bestellten Äcker und über den noch vereisten Stoppelfeldern; über den Sümpfen und über den Niederungen, die mit braunem, noch nicht abgelaufenem Wasser bedeckt waren, ließen die Kiebitze ihren klagenden Schrei ertönen, und hoch oben flogen mit frühlingsfreudigem Rufen die Kraniche und die wilden Gänse vorüber. Auf den Triften brüllten die Rinder, die gehaart hatten und nur an einzelnen Stellen des Körpers damit noch nicht ganz fertig waren; krummbeinige Lämmchen spielten um die blökenden Mutterschafe, die ihre Wolle verloren; schnellfüßige Kinder liefen über die auftrocknenden Fußwege hin, auf denen dann die Abdrücke ihrer bloßen Füße zurückblieben; am Teiche schnatterten die munteren Stimmen der Bauernweiber, die dort Leinwand wuschen, und auf den Höfen erschollen die Beilschläge der Bauern, die die Pflüge und Eggen zurechtmachten. Der richtige Frühling war gekommen.