Anna Karenina

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»Nun, dann wollen wir gehen«, sagte der eintretende Wronski.

Sie gingen zusammen, Wronski mit seiner Mutter voran, dahinter Frau Karenina mit ihrem Bruder. Am Ausgang holte sie der Stationsvorsteher ein und trat an Wronski heran.

»Sie haben meinem Assistenten zweihundert Rubel eingehändigt; haben Sie die Güte, sich darüber zu äußern, für wen das Geld bestimmt ist.«

»Für die Witwe«, antwortete Wronski achselzuckend. »Ich verstehe nicht, was da noch zu fragen ist.«

»Das haben Sie getan?« rief Oblonski von hinten her und fügte, indem er den Arm seiner Schwester an sich drückte, hinzu: »Allerliebst, allerliebst! Ein Prachtmensch, nicht wahr? Ich empfehle mich Ihnen, Gräfin.«

Er blieb mit seiner Schwester stehen, um sich nach deren Kammerjungfer umzusehen.

Als sie aus dem Bahnhofstor hinaustraten, war das Wronskische Geschirr schon weggefahren. Die Leute, die hinausgingen, sprachen immer noch von dem Vorgefallenen.

»Ein entsetzlicher Tod!« sagte ein vorübergehender Herr. »Es heißt, er wäre in zwei Stücke zerschnitten.«

»Ich meine im Gegenteil, ein so plötzlicher Tod ist der leichteste, den man sich nur denken kann«, bemerkte ein anderer.

»Unverantwortlich, daß gegen so etwas keine Vorsichtsmaßregeln getroffen werden«, sagte ein dritter.

Frau Karenina stieg in den Wagen, und Stepan Arkadjewitsch sah mit Erstaunen, daß ihre Lippen zitterten und sie nur mit Mühe die Tränen zurückhielt.

»Was ist dir, Anna?« fragte er, als sie ein paar hundert Schritte gefahren waren.

»Eine üble Vorbedeutung!« sagte sie.

»Was für Torheiten!« erwiderte Stepan Arkadjewitsch. »Du bist hergekommen, das ist die Hauptsache. Du kannst dir gar nicht denken, wieviel ich mir von deiner Einwirkung verspreche.«

»Kennst du Wronski schon lange?« fragte sie.

»Ja. Weißt du, wir hoffen, daß er Kitty heiraten wird.«

»Ja?« sagte Anna leise. »Nun, aber jetzt wollen wir von dir sprechen«, fügte sie hinzu und schüttelte mit dem Kopfe, als wollte sie durch diese Körperbewegung etwas verscheuchen, was sich ihr aufdrängte und sie störte. »Wir wollen von deinen Angelegenheiten sprechen. Ich habe einen Brief erhalten, und da bin ich nun hergekommen.«

»Ja, ich setze auf dich meine ganze Hoffnung«, versetzte Stepan Arkadjewitsch.

»Nun, so erzähle mir alles!«

Und Stepan Arkadjewitsch begann zu erzählen.

Als sie vor dem Hause angelangt waren, war er seiner Schwester beim Aussteigen behilflich, seufzte schwer, drückte ihr die Hand und begab sich nach seinem Amtsgebäude.

19

Als Anna eintrat, saß Dolly in einem kleinen Wohnzimmer mit einem hellblonden, dickbäckigen Knaben zusammen, der schon jetzt seinem Vater sehr ähnlich sah, und hörte ihm seine Aufgaben aus dem französischen Lesebuche ab. Der Knabe las und drehte dabei mit den Fingern einen Knopf seiner Jacke herum, der kaum noch daran festhing, und bemühte sich, ihn ganz abzureißen. Die Mutter hatte ihm schon mehrere Male die Hand davon weggenommen; aber das dicke Händchen faßte immer wieder nach dem Knopfe. Die Mutter riß den Knopf ab und steckte ihn in die Tasche.

»Du mußt die Hände still halten, Grigori«, sagte sie und griff wieder nach ihrer Decke, einer Arbeit, die sie schon vor langer Zeit angefangen hatte und die sie immer in schweren Stunden zur Hand nahm; auch jetzt häkelte sie nervös daran, indem sie bald mit dem Finger hin und her schlug, bald die Maschen zählte. Obgleich sie tags zuvor ihrem Manne hatte sagen lassen, daß es sie nichts weiter angehe, ob seine Schwester komme oder nicht, so hatte sie doch alles für ihre Ankunft vorbereitet und erwartete ihre Schwägerin in großer Aufregung.

Dolly war von ihrem Kummer niedergebeugt und konnte kaum an etwas anderes denken. Aber dennoch überlegte sie, daß ihre Schwägerin Anna die Frau eines der einflußreichsten Männer in Petersburg und selbst eine Petersburger grande dame sei. Und infolgedessen brachte sie das, was sie ihrem Manne angekündigt hatte, nicht zur Ausführung, das heißt, sie ignorierte die Ankunft ihrer Schwägerin nicht. ›Schließlich hat ja Anna dabei keine Schuld‹, dachte Dolly. ›Ich weiß von ihr nur Gutes und habe persönlich von ihr nur Liebes und Freundliches erfahren.‹ Allerdings hatte ihr, soweit sie sich des Eindrucks erinnern konnte, den sie in Petersburg bei Karenins empfangen hatte, dieses Haus selbst nicht gefallen; in der gesamten Einrichtung ihres Familienlebens war ein gewisser Mangel an Offenheit spürbar gewesen. ›Aber warum sollte ich sie nicht empfangen? Wenn sie sich nur nicht beikommen läßt, mich trösten zu wollen!‹ dachte Dolly. ›Alle möglichen Trostgründe und Ermahnungen, und daß es Christenpflicht ist, zu verzeihen, das alles habe ich ja schon tausendmal überdacht; aber das alles hilft mir nichts.‹

Alle diese Tage her war Dolly mit ihren Kindern allein gewesen. Mit jemandem über ihren Kummer reden, das mochte sie nicht, und mit diesem Kummer auf dem Herzen von anderen Dingen zu sprechen, dazu war sie nicht imstande. Aber sie wußte, daß sie Anna gegenüber auf die eine oder andere Weise dazu kommen werde, sich völlig auszusprechen, und bald freute sie der Gedanke daran, wie sie das alles aussprechen werde, bald war es ihr kränkend, daß sie über ihre Demütigung mit ihr, seiner Schwester, sprechen und von ihr billige tröstende und ermahnende Redensarten werde anhören müssen.

Wie das oft vorkommt, erwartete sie sie, fortwährend nach der Uhr blickend, jeden Augenblick und verpaßte dabei gerade den Augenblick, da der Besuch kam, so daß sie das Klingeln nicht hörte.

Anna war bereits in der Tür, als Dolly das Rascheln eines Frauenkleides und das Geräusch leichter Schritte hörte; sie blickte sich um, und auf ihrem abgehärmten Gesichte zeigte sich ein Ausdruck nicht sowohl der Freude wie der Überraschung. Sie stand auf und umarmte ihre Schwägerin.

»Wie? Du bist schon da?« sagte Dolly und küßte sie.

»Wie freue ich mich, dich wiederzusehen, Dolly!«

»Ich freue mich auch«, antwortete Dolly mit einem schwachen Lächeln und suchte aus Annas Gesichtsausdruck zu erkennen, ob sie schon alles wisse. ›Sicherlich weiß sie es‹, dachte sie, als sie auf Annas Gesicht einen Ausdruck mitleidiger Teilnahme bemerkte. »Nun komm, ich will dich in dein Zimmer führen«, fuhr sie fort, bemüht, den Augenblick der Aussprache möglichst hinauszuschieben.

»Ist das Grigori? Mein Gott, wie ist der Junge gewachsen!« sagte Anna und küßte ihn, ohne die Augen von Dolly abzuwenden. Sie blieb stehen und sagte errötend? »Ach, laß uns doch noch ein Weilchen hierbleiben!«

Sie nahm das Tuch und den Hut ab, und da sie mit diesem an einer Strähne ihres schwarzen, durchweg lockigen Haares hängenblieb, so schüttelte sie mit dem Kopfe und machte dadurch das Haar wieder los.

»Du strahlst ja nur so von Glück und Gesundheit!« sagte Dolly beinahe neidisch.

»Ich? – O ja«, versetzte Anna. »Mein Gott, da ist ja Tanja!« wandte sie sich dem kleinen Mädchen zu, das hereingelaufen kam. »Sie ist ebenso alt wie mein Sergei«, fügte sie hinzu, nahm sie bei der Hand und küßte sie. »Ein reizendes Kind, ganz reizend! Du mußt mir deine Kinderchen alle zeigen.«

Sie zählte sie auf und kannte nicht nur ihre Namen, sondern wußte auch ihr Alter nach Jahren und Monaten, und welchen Charakter ein jedes besaß, und welche Krankheiten die einzelnen durchgemacht hatten. Gegen dieses teilnehmende Interesse konnte Dolly ihr Herz nicht verschließen.

»Nun, dann wollen wir zu ihnen gehen«, sagte sie. »Mein Wasili schläft leider gerade.«

Nachdem sie die Kinder angesehen hatten, setzten sie sich, nun allein, im Wohnzimmer an den Kaffeetisch. Anna fingerte am Präsentierbrett umher und schob es dann von sich weg.

»Dolly«, hob sie an, »er hat mit mir gesprochen.«

Dolly wandte die Augen mit kaltem Blicke zu Anna hin. Sie erwartete jetzt erheuchelte Teilnahmsbezeigungen; aber Anna sagte nichts Derartiges.

»Dolly, liebe Dolly«, fuhr sie fort, »ich will weder ihn zu verteidigen noch dich zu trösten suchen; das ist unmöglich. Ich will dir nur einfach sagen, daß du mir so leid tust, mein Herzchen, von ganzer Seele leid!«

Unter den dichten Wimpern ihrer glänzenden Augen drängten sich Tränen hervor. Sie rückte näher an ihre Schwägerin heran und ergriff mit ihrer eigenen festen kleinen Hand die Dollys. Dolly rückte nicht von ihr weg; aber ihr Gesicht verlor seinen starren Ausdruck nicht. Sie erwiderte:

»Mich zu trösten, ist unmöglich. Nach dem, was vorgefallen ist, ist alles verloren, alles zerstört!«

Aber sobald sie das gesagt hatte, wurde der Ausdruck ihres Gesichtes plötzlich weicher. Anna hob die dürre, magere Hand Dollys in die Höhe, küßte sie und sagte:

»Aber Dolly, was ist nun zu tun, was ist nun zu tun? Wie verhält man sich am besten in dieser schrecklichen Lage? Das ist's, was nun erwogen werden muß.«

»Es ist alles zu Ende; weiter kann ich nichts sagen«, antwortete Dolly. »Und, weißt du, das allerschlimmste ist, daß ich ihn nicht verlassen kann, der Kinder wegen; ich bin gebunden. Aber mit ihm länger zusammenleben, das kann ich auch nicht; es ist mir eine Qual, ihn zu sehen.«

»Dolly, liebe, gute Dolly, er hat es mir ja schon gesagt; aber ich möchte es doch auch von dir hören; bitte, sage mir alles!«

Dolly blickte sie fragend an.

Aufrichtige Teilnahme und herzliche Liebe waren auf Annas Gesicht zu lesen.

»Nun gut!« sagte sie plötzlich. »Aber ich muß von vorn anfangen. Du weißt, wie ich heiratete. Bei der Art, in der mich maman erzogen hatte, war ich nicht nur unschuldig geblieben, sondern geradezu dumm. Ich wußte von nichts. Ich weiß, es heißt, daß die Männer ihren Frauen ihr Vorleben erzählen; aber Stiwa«, sie verbesserte sich, »Stepan Arkadjewitsch hat mir nichts gesagt. Du wirst es kaum glauben, aber ich hatte bis auf die neueste Zeit gemeint, ich wäre die einzige Frau, der er nähergetreten sei. So habe ich acht Jahre lang gelebt. Verstehe wohl: ich habe keine Untreue geargwöhnt, ja ich habe so etwas geradezu für unmöglich gehalten. Und nun stelle dir vor, wie einem zumute ist, wenn man in solchen Anschauungen dahinlebt und nun auf einmal solche entsetzliche, abscheuliche Dinge hören muß. Verstehe wohl: wenn man sich in festem Glauben für eine glückliche Frau hält und dann auf einmal . . . « Dolly suchte ein Schluchzen zu unterdrücken, » . . . wenn man dann auf einmal einen Brief zu lesen bekommt – einen Brief von ihm an seine Geliebte, unsere frühere Erzieherin. Nein, das ist zu furchtbar!« Sie zog eilig das Taschentuch heraus und verbarg ihr Gesicht darin. »Ich könnte es noch begreifen, wenn er sich von einer augenblicklichen Leidenschaft hätte hinreißen lassen«, fuhr sie nach kurzem Stillschweigen fort, »aber mich mit Vorbedacht, in listiger Weise zu hintergehen – und mit wem! Daß er es fertigbringen konnte, mein Mann zu bleiben und gleichzeitig mit ihr ein Verhältnis zu haben, das ist furchtbar! Du kannst es nicht begreifen.«

 

»Doch, ich begreife es! Ich begreife es, liebe Dolly, ich begreife es«, antwortete Anna und drückte ihr die Hand.

»Und meinst du etwa, daß er für die ganze Furchtbarkeit meiner Lage Verständnis hat?« fuhr Dolly fort. »Nicht im entferntesten! Er ist glücklich und zufrieden.«

»O nein!« unterbrach Anna sie rasch. »Er ist in einem bedauernswerten Zustande, ganz gebrochen von Reue . . . «

»Ist er denn überhaupt fähig zu bereuen?« unterbrach Dolly ihre Schwägerin und blickte ihr aufmerksam ins Gesicht.

»Ja, ich kenne ihn. Ich habe ihn nicht ohne das tiefste Mitleid ansehen können. Wir kennen ihn ja alle beide. Er ist von guter Gemütsart; aber er hat auch seinen Stolz, und jetzt fühlt er sich tief gedemütigt. Was mich am meisten gerührt hat« (hier hatte Anna mit richtigem Empfinden herausgefühlt, welches Argument am ehesten Eindruck auf Dolly machen konnte), »zwei Dinge sind es, die ihn heftig quälen: erstens, daß er sich vor den Kindern schämen muß, und dann, daß er, der doch dich so liebt – ja, ja, er liebt dich über alles in der Welt –«, fügte sie schnell hinzu, um Dolly, die etwas erwidern wollte, nicht zu Worte kommen zu lassen, »daß er dir solchen Schmerz angetan und dir einen so schweren Schlag zugefügt hat. ›Nein, nein, sie wird mir nicht verzeihen‹, sagte er immer wieder.«

Dolly blickte nachdenklich an der Schwägerin vorbei, während sie deren Worte anhörte.

»Ja, daß sein Zustand schrecklich ist, das verstehe ich«, sagte sie; »der Schuldige ist schlimmer daran als der Unschuldige, – wenn er eben fühlt, daß das ganze Unglück durch seine Schuld gekommen ist. Aber wie kann ich ihm verzeihen, wie kann ich wieder sein Weib sein, nachdem er mit jener Person in Beziehungen gestanden hat? Es würde mir eine Qual sein, künftig mit ihm zusammen zu leben, eben deshalb, weil ich meine frühere Liebe zu ihm nicht aus meinem Gedächtnisse tilgen kann.«

Ein Schluchzen unterbrach ihre Worte.

Aber wie mit Absicht begann sie jedesmal, wenn sie weich wurde, wieder von dem zu sprechen, was sie so schwer gekränkt hatte.

»Sie ist ja jung und hübsch«, fuhr sie fort. »Aber verstehst du auch wohl, Anna, durch wen ich meine Jugend und meine Schönheit verloren habe? Durch ihn und seine Kinder. Ich habe einen schweren Dienst bei ihm gehabt, und in dieser Dienstzeit ist alles, was ich Gutes hatte, draufgegangen, und nun ist ihm natürlich dieses frische, wenn auch gemeine Geschöpf angenehmer. Sie haben gewiß untereinander über mich gesprochen, oder sie haben, was noch schlimmer wäre, mich mit Stillschweigen übergangen, – verstehst du wohl?«

Von neuem glühten ihr die Augen vor Haß.

»Und wenn er nun nach allem, was geschehen ist, mir später irgend etwas sagt, – werde ich ihm dann etwas glauben können? Niemals. Nein, nun ist alles zu Ende, alles, was mir ein Trost, ein Lohn für alle meine Mühen und Leiden war. – Kannst du das glauben: ich habe soeben Grigori unterrichtet; früher war mir das eine Freude, jetzt ist es mir eine Qual. Wozu mühe ich mich ab und quäle mich? Was sollen mir die Kinder? Es ist entsetzlich, daß meine Seele auf einmal so umgewandelt ist und ich statt Liebe und Zärtlichkeit nur Haß gegen ihn empfinde, jawohl, Haß. Ich könnte ihn töten und . . . «

»Dolly, liebste Dolly, ich kann dir das nachfühlen; aber martere dich nicht so! Du bist so erbittert und aufgeregt, daß du vieles in einem falschen Lichte siehst.«

Dolly antwortete nicht, und einige Minuten lang schwiegen beide.

»Was soll ich tun? Ersinne du etwas, Anna! Hilf mir! Ich habe alles hin und her erwogen und sehe keinen Ausweg.«

Einen Rettungsweg vermochte auch Anna nicht zu ersinnen; aber jedes Wort, jede Miene ihrer Schwägerin griff ihr ans Herz.

»Ich will dir nur eines sagen«, begann Anna, »ich bin seine Schwester und kenne seinen Charakter; ich weiß, daß er imstande ist, alles zu vergessen, alles« (sie machte eine Handbewegung vor ihrer Stirn), »daß er imstande ist, sich haltlos hinreißen zu lassen, daß er aber dann auch wieder dem Gefühle tiefster Reue zugänglich ist. Er kann es jetzt gar nicht verstehen und begreifen, wie er das überhaupt hat tun können, was er getan hat.«

»Nein doch, er begreift es und hat es immer begriffen!« unterbrach Dolly sie. »Aber ich, – du vergißt mich ja ganz dabei, – ist mir denn leichter ums Herz?«

»Höre doch nur! Als er mit mir sprach, da hatte ich – das will ich dir offen gestehen – noch kein rechtes Verständnis für die ganze Furchtbarkeit deiner Lage. Ich sah nur, wie es um ihn stand und daß euer Familienleben zerstört war, und er jammerte mich. Aber nachdem ich nun mit dir gesprochen habe, sehe ich als Frau doch noch etwas anderes; ich sehe deine Leiden, und ich kann dir gar nicht ausdrücken, wie sehr du mich dauerst! Aber, liebe Dolly, ich habe volles Verständnis für deine Leiden; nur eines weiß ich nicht: ich weiß nicht . . . ich weiß nicht, wieviel Liebe zu ihm noch in deiner Seele vorhanden ist. Das weißt nur du, – ob du ihn noch so weit liebst, daß du ihm verzeihen kannst. Wenn das der Fall ist, dann verzeih ihm!«

»Nein . . . «, begann Dolly, aber Anna fiel ihr ins Wort, indem sie noch einmal ihre Hand küßte.

»Ich kenne die Welt besser als du«, sagte sie. »Ich kenne solche Männer, wie Stiwa einer ist, und weiß, wie sie solche Dinge ansehen. Du sagst, er habe mit ihr über dich gesprochen. Das ist bestimmt nicht der Fall. Solche Männer lassen sich wohl eine Untreue zuschulden kommen, aber ihr häuslicher Herd und ihre Gattin, das ist doch für sie ein Heiligtum. Jene Frauenspersonen sind ihnen im Grunde doch immer verächtlich und können in die Familie keine Störung hineinbringen. Zwischen ihnen und der Familie ziehen die Männer sozusagen eine unüberschreitbare Grenzlinie. Ich begreife das nicht recht, aber es ist so.«

»Ja, aber er hat sie doch geküßt!«

»Liebste Dolly, hör zu! Ich habe Stiwa gesehen, als er in dich verliebt war. Ich erinnere mich jener Zeit, als er zu mir kam und ihm jedesmal die Tränen über die Backen flossen, wenn er von dir sprach; du warst in seinen Augen wie ein hehres Wunderwesen der Poesie. Und ich weiß, daß du immer höher in seiner Liebe und Achtung gestiegen bist, je länger er mit dir zusammen gelebt hat. Wir haben manchmal über ihn gelacht, weil er hinter jedem Worte hinzusetzte: ›Dolly ist eine bewundernswürdige Frau.‹ Du warst für ihn immer eine Gottheit und bist es geblieben, und sein Herz weiß nichts von dieser Verirrung.«

»Aber wenn sich diese Verirrung wiederholt?«

»Das ist unmöglich, soviel ich davon verstehe.«

»Ja, aber würdest du ihm denn verzeihen?«

»Das weiß ich nicht; ich kann es nicht beurteilen. – Oder doch, ich kann es beurteilen«, fuhr sie nach kurzem Überlegen fort, nachdem sie im Geiste gleichsam die ganze Lage zusammengefaßt und auf die Waage gelegt hatte, und sie fügte hinzu: »Ja, ich kann es beurteilen, ich kann es wirklich. Ja, ich würde ihm verzeihen. Ich wäre wohl nach dem Geschehenen nicht mehr dieselbe wie vorher, das mag sein; aber ich würde ihm verzeihen und würde ihm so verzeihen, als ob das nicht geschehen wäre, überhaupt nicht geschehen wäre.«

»Ja, selbstverständlich«, fiel ihr Dolly hastig ins Wort, als ob jene nur ausspräche, was sie selbst sich schon oft gesagt habe. »Sonst wäre es ja keine Verzeihung. Wenn man einmal verzeihen will, dann muß man es auch völlig und ganz tun. Aber komm nun, ich möchte dich in dein Zimmer führen«, sagte sie, indem sie sich erhob, und umarmte Anna im Gehen. »Liebe Anna, wie freue ich mich, daß du gekommen bist! Mir ist jetzt leichter ums Herz, viel leichter.«

20

Diesen ganzen Tag blieb Anna zu Hause, das heißt bei Oblonskis, und empfing niemanden, obgleich mehrere ihrer Bekannten, die bereits von ihrer Anwesenheit gehört hatten, gleich an diesem Tage vorsprachen. Anna verbrachte den ganzen Vormittag mit Dolly und den Kindern zusammen. Nur ihrem Bruder schickte sie ein Briefchen, er möge unter allen Umständen zu Hause zu Mittag essen. »Komm! Gott ist barmherzig«, schrieb sie ihm.

Oblonski speiste zu Hause; das Gespräch bei Tische war allgemein, auch seine Frau sprach mit ihm und nannte ihn dabei du, was sie vorher nicht getan hatte. In dem Verhältnisse des Gatten zur Gattin dauerte die bisherige Entfremdung fort, aber es war jetzt von keiner Trennung mehr die Rede, und Stepan Arkadjewitsch sah die Möglichkeit einer Aussprache und Versöhnung.

Gleich nach dem Mittagessen kam Kitty. Sie kannte Anna Arkadjewna, aber nur wenig, und kam jetzt zu ihrer Schwester nicht ohne eine leise Bangigkeit, wie diese Petersburger Weltdame, von der alle des Rühmens voll waren, sie wohl aufnehmen werde. Aber sie gefiel Anna Arkadjewna, das merkte sie sofort. Anna war augenscheinlich entzückt von dem schönen jungen Mädchen, und ehe Kitty sich noch recht besinnen konnte, fühlte sie, daß sie nicht nur in Annas Bann geraten war, sondern sich auch in sie verliebt hatte, wie sich eben junge Mädchen in verheiratete Frauen, die etwas älter sind als sie, zu verlieben fähig sind. Anna machte gar nicht den Eindruck einer Weltdame oder der Mutter eines achtjährigen Sohnes, sondern ähnelte eher einem zwanzigjährigen Mädchen in der Biegsamkeit ihrer Bewegungen, in der Frische ihres Wesens und in der ein wenig zurückgehaltenen Lebhaftigkeit des Gesichtes, die bald in einem Lächeln, bald in einem Blicke zum Durchbruch kam, wenn nur nicht der ernste, bisweilen sogar traurige Ausdruck ihrer Augen gewesen wäre, der Kitty betroffen machte und dabei, doch anzog. Kitty fühlte, daß Anna sich vollkommen natürlich gab und nichts verbarg, daß aber in ihrer Seele eine Welt von höheren Gedanken ruhte, von ernsten, poetischen Gedanken, die ihr, dem jungen Mädchen, unfaßbar waren.

Als Dolly sich nach dem Mittagessen in ihr Zimmer begeben hatte, stand Anna rasch auf und trat zu ihrem Bruder, der sich gerade eine Zigarre anzündete.

»Stiwa«, sagte sie, indem sie ihm lustig zuzwinkerte, ihn bekreuzte und mit den Augen zur Tür wies, »geh, und Gott möge dir beistehen!«

Er verstand sie, warf die Zigarre beiseite und verschwand hinter der Tür.

Als Stepan Arkadjewitsch das Zimmer verlassen hatte, kehrte Anna zu dem Sofa zurück, auf dem sie gesessen hatte, von den Kindern umringt. Ob es nun daher kam, daß die Kinder sahen, wie sehr ihre Mama diese Tante liebte, oder daher, daß sie selbst an ihr ein besonderes Gefallen gefunden hatten: genug, die beiden älteren und, ihrem Beispiel folgend, auch die jüngeren hatten sich, wie man das bei Kindern nicht selten sieht, schon vor dem Mittagessen wie die Kletten an die neue Tante gehängt und waren keinen Augenblick von ihr gewichen. Ja, es hatte sich bei ihnen eine Art Spiel herausgebildet, das darin bestand, möglichst nahe neben der Tante zu sitzen, sie anzufassen, ihre kleine Hand zu halten und zu küssen oder wenigstens den Faltenbesatz ihres Kleides zu berühren.

»Halt, halt! So, wie wir vorher gesessen haben!« sagte Anna Arkadjewna, indem sie sich wieder auf ihren Platz setzte.

Grigori schob von neuem den Kopf unter ihren Arm, schmiegte sich mit dem Kopfe an ihr Kleid und strahlte vor Stolz und Glück.

»Also jetzt sagen Sie mir, bitte, wann eigentlich der Ball sein wird«, wandte sich Anna an Kitty.

»In der nächsten Woche. Und es wird ein sehr schöner Ball werden. Einer von den Bällen, auf denen man immer vergnügt ist.«

 

»Gibt es denn solche, auf denen man immer vergnügt ist?« fragte Anna mit einem leisen, heiteren Lachen.

»Ja, es ist merkwürdig, aber es gibt solche. Bei Bobrischtschews geht es immer lustig zu, auch bei Nikitins, aber bei Meschkows ist es immer langweilig. Ist Ihnen das nicht auch aufgefallen?«

»Nein, mein Herz, für mich gibt es solche Bälle nicht mehr, auf denen es lustig ist«, erwiderte Anna, und Kitty erblickte in ihren Augen jene besondere Welt, die ihr verschlossen blieb. »Für mich gibt es nur solche, auf denen es weniger öde und langweilig ist als auf anderen.«

»Wie können Sie sich denn auf einem Balle langweilen?«

»Warum sollte gerade ich mich auf einem Balle nicht langweilen?« fragte Anna.

Kitty merkte, daß Anna im voraus wußte, welche Antwort nun folgen werde.

»Weil Sie immer die Schönste von allen sind.«

Anna besaß die Eigenschaft, leicht zu erröten. Auch jetzt wurde sie rot und erwiderte:

»Erstens ist das ganz und gar nicht der Fall, und zweitens, selbst wenn es der Fall wäre, was hätte ich davon?«

»Werden Sie diesen Ball besuchen?« fragte Kitty.

»Ich glaube, ich werde wohl nicht umhinkönnen. Da, nimm ihn«, sagte sie zu Tanja, die an einem Ringe zog, der sich leicht von Annas schlankem, an der Spitze dünner werdendem Finger streifen ließ.

»Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie hinkämen. Ich möchte Sie so gern auf einem Balle sehen.«

»Dann wird mir, wenn ich wirklich hin muß, wenigstens der Gedanke tröstlich sein, daß ich Ihnen damit ein Vergnügen mache. – Grigori, in meinem Haar darfst du aber nicht zausen; das ist auch so schon immer unordentlich genug«, sagte sie und brachte eine losgegangene Strähne in Ordnung, mit der Grigori gespielt hatte.

»Ich stelle Sie mir auf dem Balle in Lila vor.«

»Warum denn gerade in Lila?« fragte Anna lächelnd. »Aber nun, Kinder, müßt ihr gehen. Hört ihr wohl? Miß Hull ruft euch zum Teetrinken«, sagte sie, indem sie sich von den Kindern losmachte und sie in das Eßzimmer schob. »Ich weiß auch, warum Sie mich auf diesem Balle sehen möchten. Sie erwarten für sich etwas Wichtiges von diesem Balle, und da möchten Sie, daß alle dabei wären und Anteil daran nähmen.«

»Woher wissen Sie das? – Nun ja!«

»Oh, in was für einem schönen Alter stehen Sie!« fuhr Anna fort. »Ich kenne aus der Erinnerung diesen bläulichen Nebel, ähnlich wie der auf den Schweizer Bergen, diesen Nebel, der unseren Augen alles verhüllt in jener seligen Zeit, da die Kindheit eben zu Ende geht und dieser weite, glückliche, lustige Tummelplatz sich dem Dahinwandelnden immer mehr und mehr zu einem schmalen Pfade verengt; frohen Herzens begibt man sich auf diesen Pfad und doch nicht ohne Bangigkeit, mag er auch noch so sonnig und schön erscheinen. – Wer hätte das nicht durchgemacht?«

Kitty lächelte und schwieg. ›Aber wie, ja wie mag sie das durchgemacht haben? Wie gern möchte ich ihren ganzen Liebesroman kennen‹, dachte Kitty in Erinnerung daran, wie schrecklich prosaisch Annas Mann, Alexei Alexandrowitsch, aussah.

»Ja, ja, ich weiß etwas von Ihrem Geheimnisse«, fuhr Anna fort. »Stiwa hat mir davon erzählt, und ich wünsche Ihnen von Herzen Glück; er gefällt mir sehr. Ich bin mit Wronski auf dem Bahnhof zusammengetroffen.«

»Ach, war er da?« fragte Kitty errötend. »Was hat Ihnen denn Stiwa gesagt?«

»Stiwa hat alles ausgeplaudert. Und ich würde mich sehr, sehr freuen. – Ich bin gestern mit Wronskis Mutter zusammen hierher gereist«, fuhr sie fort, »und die Mutter hat zu mir ununterbrochen von ihm geredet; er ist ihr Liebling. Ich weiß, wie eingenommen Mütter oft von ihren Kindern sind, aber . . . «

»Was hat Ihnen denn seine Mutter erzählt?«

»Oh, vieles, vieles! Ich weiß ja, daß er ihr Liebling ist; aber so viel ist doch sicher, daß er eine vornehme, ritterliche Gesinnung besitzt. So erzählte sie mir zum Beispiel, er habe das ganze Vermögen seinem Bruder überlassen wollen; schon als Knabe habe er eine außerordentliche Tat vollbracht, indem er eine Frau aus dem Wasser gerettet hat. Mit einem Worte: ein Held«, sagte Anna lächelnd; sie dachte dabei auch an die zweihundert Rubel, die er auf dem Bahnhofe für die Hinterbliebenen des Verunglückten gespendet hatte.

Aber von diesen zweihundert Rubeln erzählte sie nichts. Eine unwillkürliche Abneigung hinderte sie daran, dies zu erwähnen. Sie fühlte, daß in dieser Handlung etwas gelegen hatte, was zu ihr in einer persönlichen Beziehung stand und was nicht hätte sein dürfen.

»Sie hat mich sehr gebeten, sie doch zu besuchen«, fuhr Anna fort. »Ich freue mich darauf, die alte Dame wiederzusehen, und will morgen zu ihr fahren. Aber Gott sei Dank, Stiwa bleibt lange bei Dolly in ihrem Zimmer«, fügte Anna, das Gesprächsthema wechselnd, hinzu und stand auf. Kitty hatte den Eindruck, daß sie mit irgend etwas unzufrieden sei.

»Nein, ich zuerst! Nein, ich!« schrien die Kinder, die mit ihrem Tee fertig waren und nun wieder zu Tante Anna hereingestürmt kamen.

»Alle zugleich!« rief Anna und lief ihnen lachend entgegen, umarmte sie und warf sich mit diesem ganzen kribbelnden, vor Entzücken kreischenden Kinderschwarm auf den Boden.