Tasuta

Kindheit

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Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Ich kann vor Tränen nicht weiterschreiben. Vielleicht sehe ich Dich nicht mehr; also danke ich Dir, mein teurer Freund, für alles Glück, daß Du mir in diesem Leben gegeben hast; ich werde dort Gott bitten, daß Er Dich belohnt. Leb wohl, lieber Freund, denk daran, daß, obgleich ich nicht mehr bin, meine Liebe zu Dir Dich nie und nirgends verläßt.

Leb wohl, Wolodja; leb wohl, mein Engel; leb wohl mein Benjamin, Nikolas! Werden die Kinder mich wirklich je vergessen?!« –

In diesem Brief lag ein gewandter und gefühlvoller Brief Mimis folgenden Inhalts:

»Les tristes sentiments dont elle vous parle ne sont que trop appuyés par les paroles du docteur. Hier dans la nuit elle a demandé qu'on envoie tout de suite cette lettre à la poste. Croyant que dans ce moment elle était en délire, j'ai attendu jusqu'à ce matin et j'ai osé la décacheter. A peine l'avais-je expédiée que Natalja Nikolajewna me demanda ce que j'avais fait de la lettre, et m'ordonna de la brûler, si elle n'était pas partie. Elle ne cesse d'en parier, même en délire et prétend que cette lettre doit vous tuer.

Ne mettez donc pas de retard à votre voyage, si vous voulez voir cet ange, avant qu'il vous quitte.

Excusez ce griffonage, je n'ai pas dormi trois nuits. Vous savez si je l'aime!«2

Natalie Sawischna, die vom 11. April die ganze Nacht in Mamas Schlafzimmer verbracht hatte, erzählte mir, Mama hätte nach Beendigung des ersten Teiles den Brief neben sich auf den Nachttisch gelegt und sei eingeschlafen. »Ich selbst,« sagte Natalie Sawischna, »nickte im Lehnstuhl ein, und der Strickstrumpf fiel mir aus der Hand. Da höre ich im Schlaf – es war so um ein Uhr – daß sie mit jemandem spricht. Ich öffne die Augen und sehe, daß mein Täubchen im Bett sitzt, hat die Hände gefaltet und Tränen fließen in Strömen aus ihren Augen. ›Also ist alles zu Ende,‹ sagt sie und bedeckt ihr Gesicht mit den Händen.

Ich sprang auf und fragte: ›Was ist Ihnen?‹

›Ach, Natalie Sawischna, wenn Sie wüßten, wen ich soeben gesehen habe!‹

Soviel ich auch fragte, sie sagte mir nichts weiter, befahl nur, den Tisch heranzurücken, schrieb noch etwas, hieß mich den Brief in ihrer Gegenwart siegeln und sofort befördern. Danach wurde es schlimmer und schlimmer.«

28. Was uns auf dem Lande erwartete

Am 15. April stiegen wir an der Treppe von Petrowskoie aus der Reisekutsche.

Bei der Abfahrt aus Moskau war Papa sehr nachdenklich, und als Wolodja ihn fragte, ob Mama vielleicht krank sei, blickte er ihn traurig an und nickte mit dem Kopf. Unterwegs beruhigte sich Papa merklich; als wir uns aber dem Hause näherten, wurde sein Gesicht immer trauriger, und beim Aussteigen, als er den keuchend herumlaufenden Foka fragte: »Wo ist meine Frau?« war seine Stimme unsicher, und in seinen Augen standen Tränen. Der gute alte Foka schlug, nach einem verstohlenen Blick auf uns, die Augen nieder, öffnete die Flurtür, wandte sich ab und sagte:

»Schon sechs Tage hat die gnädige Frau das Schlafzimmer nicht verlassen.«

Milka, die, wie ich später erfuhr, seit dem Tage, an welchem Mama erkrankte, unaufhörlich heulte, stürzte Papa freudig entgegen, sprang an ihm in die Höhe, winselte, leckte ihm die Hände; aber er stieß sie fort und ging ins Gastzimmer; von dort ins Diwanzimmer, dessen Tür direkt ins Schlafzimmer führte. Je näher er diesem Zimmer kam, desto deutlicher war seine Unruhe an der ganzen Körperhaltung zu erkennen. Beim Eintritt ins Diwanzimmer ging er auf den Zehenspitzen, wagte kaum zu atmen und bekreuzigte sich, bevor er den Griff der geschlossenen Tür anzurühren wagte. Im selben Augenblick kam aus dem Korridor verweint und unfrisiert Mimi gelaufen.

»Ach, Peter Alexandrowitsch!« flüsterte sie mit dem Ausdruck echter Verzweiflung, und fügte dann, bemerkend, daß Papa die Türklinke niederdrückte, kaum hörbar hinzu: »hier geht es nicht – durchs Kinderzimmer ist der Eingang.«

O, wie schwer wirkte das alles auf meine kindliche Phantasie, die bereits von schrecklichen Vorahnungen erfüllt war.

Wir gingen ins Mädchenzimmer. Auf dem Korridor begegnete uns der verrückte Akim, der uns stets durch seine Grimassen amüsiert hatte; aber in diesem Augenblick schien er mir durchaus nicht lächerlich, ja sein geistlos-gleichgültiges Gesicht berührte mich direkt schmerzlich. Die beiden Mädchen im Mädchenzimmer saßen bei einer Arbeit; sie erhoben sich bei unserem Anblick mit so gezwungen-traurigem Ausdruck, daß ich mich über ihre Verstellung schrecklich ärgerte. Nachdem wir noch Mimis Zimmer passiert hatten, öffnete Papa die Tür zum Schlafzimmer, und wir traten ein.

Die beiden Fenster rechts von der Tür waren mit Holzschalen besetzt und mit Tüchern verhängt. An einem Fenster saß Natalie Sawischna mit der Brille auf der Nase, strickend. Sie küßte uns nicht wie gewöhnlich, sondern stand nur auf und sah uns durch die Brille an, wobei ihr die hellen Tränen aus den Augen flossen. Es gefiel mir gar nicht, daß alle bei unserem Anblick weinten, während sie vordem ganz ruhig gewesen waren.

Links von der Tür stand ein Wandschirm, dahinter das Bett, der Nachttisch, ein Schränkchen mit Arzeneien und ein großer Sessel, auf welchem der Doktor schlummerte. Neben dem Bett stand ein junges, blondes, auffallend schönes Mädchen in weißem Morgenrock, die Ärmel ein wenig aufgestreift, und legte Mama, die ich in diesem Augenblick nicht sah, Eis auf den Kopf. Das war »la belle Flamande«, von der Mama geschrieben hatte, und die später im Leben unserer Familie eine so wichtige Rolle spielte. Sobald sie uns sah, nahm sie eine Hand von Mamas Kopf und zog die Falten ihres Morgenrockes auf der Brust zurecht; dann flüsterte sie traurig, fast unmerklich lächelnd: »Sie schläft jetzt.«

Ich war in diesem Augenblick tief betrübt, bemerkte aber unwillkürlich alle Einzelheiten; ich sah das an Papas Adresse gerichtete verführerische Lächeln des Mädchens und den flüchtigen Blick, den Papa dicht vor dem Bett auf ihre schönen, halb entblößten Arme warf.

Im Zimmer war es heiß, fast dunkel, und es roch gleichzeitig nach Pfefferminz, Eau de Cologne, Kamillen und Hoffmannstropfen. Dieser Geruch wirkte so auf mich, daß meine Phantasie, wenn ich ihn auch nicht mehr spüre, sondern nur daran denke, mich unverzüglich in dieses dunkle, schwüle Zimmer versetzt und mir die geringfügigsten Einzelheiten dieser schrecklichen Minute in die Erinnerung zurückruft.

Mamas Augen waren offen, aber sie sah nichts. Nie werde ich diesen schrecklichen Blick vergessen. Er drückte entsetzliche Leiden aus. Man brachte uns fort.

Als ich später Natalie Sawischna nach Mamas letzten Augenblicken fragte, erzählte sie mir: »Nachdem man euch weggebracht hatte, wälzte sie sich noch lange hin und her, als wenn sie gerade hier an dieser Stelle etwas drückte; dann sank ihr Kopf auf das Kissen, und sie schlief so sanft und ruhig ein, wie ein himmlischer Engel.

Nur einen Augenblick bin ich hinausgegangen, um zu sehen, warum das Getränk nicht kommt – da hat sie, als ich zurückkomme, schon alles auf dem Bett durcheinander geworfen und winkt den Papa zu sich heran; der beugt sich über sie, sie hatte aber offenbar nicht mehr die Kraft zu sagen, was sie wollte; sie öffnet nur die Lippen und beginnt wieder zu stöhnen: ›Ach Gott, mein Gott! Die Kinder! Die Kinder!‹ Ich wollte nach euch laufen, aber Iwan Wassilitsch hielt mich zurück und sagte, es beunruhige sie nur noch mehr; lieber nicht. Dann hob sie nur noch die Hand und ließ sie sinken; was sie damit sagen wollte, weiß Gott allein. Ich denke mir, daß sie euch dadurch abwesend segnete, da Gott ihr nicht beschieden hatte, vor ihrem Ende die Kinder noch einmal zu sehen.

Dann erhob sie sich, mein Täubchen, machte so mit der Hand und sprach mit einer Stimme, daß ich nicht mehr daran denken kann, plötzlich: ›Mutter Gottes, verlaß sie nicht! …‹

Dann trat ihr das Weh ans Herz – man sah den Augen an, daß die Ärmste sich schrecklich quälte; sie fiel auf die Kissen, biß in das Bettuch und ihre Tränen flossen ununterbrochen.«

»Und dann?« fragte ich.

Natalie Sawischna konnte nicht weiter sprechen; sie wandte sich ab und weinte bitterlich.

Mama starb unter schrecklichen Qualen.

Warum litt sie? Warum …

29. Trauer

Am nächsten Tage, spät abends, wollte ich sie noch einmal sehen. Das unwillkürliche Angstgefühl überwindend, öffnete ich leise die Tür und trat auf Zehenspitzen in den Saal.

Mitten im Zimmer stand der Sarg auf einem Tisch; ringsum heruntergebrannte Lichter in hohen silbernen Leuchtern; in einer entfernten Ecke saß der Küster und las halb im Schlaf mit leiser, gleichmäßiger Stimme den Psalter.

Ich blieb an der Tür stehen und schaute hin; aber meine Augen waren so verweint und meine Nerven so zerrüttet, daß ich nichts unterscheiden konnte. Licht, Brokat, Samt, die hohen Leuchter, das spitzenbesetzte rosa Kissen, das Stirnband, die Haube mit Bändern und noch etwas Durchsichtiges, Wachsfarbenes – alles floß ineinander. Ich stieg auf einen Stuhl, um ihr Gesicht zu sehen; aber an der Stelle, wo es sein mußte, war wieder das blaßgelbliche, durchsichtige Etwas. Ich konnte nicht glauben, daß das ihr Gesicht sei; ich blickte unverwandt hin und unterschied allmählich die bekannten, lieben Züge. Als ich mich überzeugte, daß sie es war, fuhr ich vor Schreck zusammen. Warum waren die geschlossenen Augen so eingefallen? Woher diese schreckliche Blässe und der schwärzliche Fleck unter der durchsichtigen Haut auf einer Wange? Warum war der ganze Gesichtsausdruck so streng und kalt? warum die Lippen so blaß und ihre Linie so schön, majestätisch, überirdisch ruhig, daß mich kalter Schreck bei ihrem Anblick überlief?

 

Ich schaute hin und fühlte, daß eine rätselhafte, unbezwingliche Macht meine Blicke an dieses schöne, leblose Antlitz fesselte. Ich wandte kein Auge von ihr, und meine Phantasie malte mir Bilder voll Leben und Glück. Ich vergaß, daß der Leichnam, der vor mir lag und den ich stumpfsinnig wie irgendeinen Gegenstand anstarrte, der nichts mit meinen Erinnerungen zu tun hatte, – sie war. Ich stellte mir die Mutter bald in diesem, bald in jenem Zustande vor – lebend, heiter, lächelnd; dann überraschte mich plötzlich ein Zug in dem blassen Gesicht, auf welches meine Blicke gerichtet waren – mir fiel die schreckliche Wirklichkeit ein, ich zuckte zusammen, wandte aber die Augen nicht ab. Und wieder traten Träume an Stelle der Wirklichkeit, und das Bewußtsein der Wirklichkeit zerstörte die Träume. Endlich war die Phantasie ermüdet; sie betrog mich nicht mehr; das Wirklichkeitsbewußtsein verschwand ebenfalls; ich war nicht mehr bei mir selbst.

Ich weiß nicht, wie lange dieser Zustand dauerte, weiß nicht, worin er bestand; ich weiß nur, daß ich eine Zeitlang das Bewußtsein meiner Existenz verlor und einen unerklärlich hohen und zugleich traurigen Genuß empfand.

Vielleicht blickte ihre reine Seele auf dem Fluge zur besseren Welt mit Kummer auf diese hernieder, in der sie uns zurückließ; sie sah meinen Schmerz, empfand Erbarmen mit ihm und ließ sich auf den allmächtigen Schwingen der Liebe mit himmlischem Lächeln des Mitleids auf die Erde nieder, um mich zu trösten und zu segnen.

Die Tür knarrte; ein Küster trat ein, um den anderen abzulösen. Dieses Geräusch ernüchterte mich, und der erste Gedanke, der mir kam, war, daß der Küster, da ich nicht weinte und in einer Stellung, die nichts Rührendes an sich hatte, auf einen Stuhl gestiegen war, mich für einen gefühllosen Jungen halten müsse, der aus Mutwillen oder Neugierde hinaufgeklettert war. Infolgedessen bekreuzigte ich mich, verneigte mich zur Erde und begann aus Gewohnheit zu weinen.

Wenn ich jetzt an meine Eindrücke denke, finde ich, daß nur diese Minute des Selbstvergessens wirkliche Trauer war. Vor und nach dem Begräbnis hörte ich nicht auf zu weinen und traurig zu sein; aber ich schäme mich, an diese Traurigkeit zu denken, weil stets ein eigennütziges Gefühl dabei war; bald der Wunsch zu zeigen, daß ich trauriger sei als alle anderen, bald die Sorge um die Wirkung, die ich auf andere ausübte; dann zwecklose Neugierde, die mich veranlaßte, Betrachtungen über die Stiefel des Küsters, Mimis Haube und die Gesichter der Anwesenden anzustellen. Ich verachtete mich, weil ich nicht ausschließlich das eine Gefühl der Trauer empfand und suchte alle anderen Gefühle zu verbergen; deswegen war meine Trauer unaufrichtig und unnatürlich. Außerdem empfand ich eine Art Genuß im Bewußtsein meines Unglücks, suchte dieses Bewußtsein in mir wachzurufen, und dieses egoistische Gefühl erstickte am meisten dasjenige wahrer Trauer.

Nachdem ich diese Nacht, wie stets nach starkem Kummer, fest und ruhig geschlafen, wachte ich mit getrockneten Tränen und beruhigten Nerven auf. Um zehn Uhr wurden wir zur Totenmesse vor der Beerdigung geholt. Das Zimmer war voll von Hofgesinde und Bauern, die unter Tränen von ihrer Herrin Abschied nehmen wollten. Ich ärgerte mich über ihre Tränen und traurigen Gesichter, ärgerte mich beim Gedanken, daß mein Weh geradeso ausgedrückt wurde.

Während der Messe weinte ich, wie es sich gehört, bekreuzigte und verneigte mich bis zur Erde; ich betete aber nicht und war im Herzen ziemlich gleichgültig. Es verdroß mich, daß der neue Frack, den man mir angezogen hatte, unter der Achsel kniff; ich achtete darauf, beim Knien die Hose nicht zu beschmutzen und beobachtete insgeheim alle Anwesenden. Papa stand am Kopfende des Sarges; er war blaß wie ein Leinentuch und hielt nur mit merklicher Anstrengung die Tränen zurück. Seine hohe Gestalt im schwarzen Frack, sein blasses, ausdrucksvolles Gesicht und seine stets sicheren und ausdrucksvollen Bewegungen, wenn er sich bekreuzigte, verbeugte, mit der Hand den Boden berührte, ein Licht aus der Hand des Küsters entgegennahm oder an den Sarg trat – waren sehr effektvoll; aber ich weiß nicht wie es kam, mir gefiel gerade das nicht, daß er in diesem Augenblick so schön und erhaben sein konnte. Mimi stand gegen die Wand gelehnt und schien sich kaum auf den Beinen zu halten; ihr Kleid war zerknüllt und voller Daunen, die Haube auf die Seite gerutscht, die Augen rot und geschwollen, der Kopf wackelte; sie schluchzte fortwährend herzzerreißend und bedeckte ihr Gesicht häufig mit Schnupftuch und Händen. Mir kam es vor, als wenn sie das tat, um ihr Gesicht vor den Zuschauern zu verbergen und einen Augenblick von dem verstellten Schluchzen auszuruhen. Ich erinnerte mich, daß sie tags zuvor Papa gesagt hatte, Mamas Tod sei für sie ein so schwerer Schlag, daß sie ihn wahrscheinlich nicht ertragen würde; er hätte ihr alles geraubt; der Engel (so nannte sie Mama) hätte sie vor dem Tode nicht vergessen und den Wunsch geäußert, ihre und Katjas Zukunft für immer zu sichern. Sie vergoß bittere Tränen bei dieser Erzählung, und vielleicht war ihr Kummer aufrichtig; aber er war nicht rein und selbstlos.

Ljubotschka im schwarzen Kleid mit Trauerbesatz senkte ihr verweintes Köpfchen und blickte bisweilen auf den Sarg; dabei drückte ihr Gesicht kindliche Furcht aus. Katja stand neben ihrer Mutter und war trotz des verzogenen Gesichtes rosig wie immer.

Wolodja war bei seiner offenen Natur auch in der Trauer aufrichtig; bald stand er nachdenklich, regungslos auf einen Gegenstand starrend; dann wieder verzog sich plötzlich sein Mund, und er bekreuzigte und verneigte sich schnell. Alle Fremden, die bei der Beerdigung zugegen waren, kamen mir unerträglich häßlich vor. Die Trostworte, die sie Papa sagten, – ihr würde dort besser sein, sie wäre nicht für diese Welt bestimmt – erregten eine Art Wut in mir. Welches Recht hatten sie, von ihr zu sprechen und zu jammern? Einige nannten uns Waisen. Als ob man ohne sie nicht wüßte, daß Kinder, die keine Mutter haben, so benannt werden. Es machte ihnen wahrscheinlich Vergnügen, uns zuerst so zu nennen, wie man es eilig hat, ein Mädchen nach der Hochzeit mit »Frau« anzureden.

In einer entfernten Saalecke, fast hinter der offenen Büfettür, lag ein gebücktes, altes Weib auf den Knien. Mit gefalteten Händen, die Augen gen Himmel gerichtet, betete sie ohne Tränen. Ihre Seele strebte zu Gott; sie bat ihn, sie mit der zu vereinigen, die sie am meisten auf der Welt geliebt hatte und hoffte bestimmt, daß das bald der Fall sein würde.

Die hat sie wahrhaft geliebt, dachte ich und schämte mich.

Die Totenmesse war zu Ende; das Gesicht der Verstorbenen wurde enthüllt, und alle Anwesenden, mit Ausnahme von uns, traten nacheinander an den Sarg, um ihn zu küssen.

Als eine der letzten trat eine Bäuerin mit einem hübschen fünfjährigen Mädchen auf dem Arm heran, das sie, Gott weiß warum, mitgebracht hatte. In diesem Augenblick ließ ich unversehens mein feuchtes Taschentuch fallen und wollte es aufheben. Kaum hatte ich mich gebückt, da drang ein sonderbarer, durchdringender Schrei an mein Ohr, ein Schrei, der solch fürchterliches Entsetzen ausdrückte, daß, wenn ich hundert Jahre alt würde, ich ihn nie vergäße, und wenn ich daran denke, mir stets kalte Schauer durch den Körper rinnen. Ich richtete mich auf – auf einem Schemel neben dem Sarg stand jene Bäuerin und konnte das kleine Mädchen kaum auf den Armen halten; mit den Händen abwehrend und das schreckensstarre Gesichtchen zurückgeworfen, hatte die Kleine ihre Augen auf das Antlitz der Toten gerichtet und schrie mit entsetzlicher, unnatürlicher Stimme. Da stieß ich einen wahrscheinlich noch schrecklicheren Schrei aus und lief aus dem Zimmer.

Erst in diesem Augenblick begriff ich, woher der beklemmend starke Geruch kam, der mit Weihrauchduft vermischt, das Zimmer erfüllte. Der Gedanke, daß das vor einigen Tagen noch so schöne, zarte, von mir über alles in der Welt geliebte Gesicht Abscheu und Schrecken einflößen konnte, hatte mir zum erstenmal eine bittere Wahrheit enthüllt und meine Seele mit Verzweiflung erfüllt.

30. Weitere, die letzten traurigen Erinnerungen

Mama war nicht mehr; unser Leben aber ging ganz den alten Gang. Wir gingen zu Bett und standen auf um dieselbe Zeit und in denselben Zimmern; Morgentee, Abendtee, Mittagessen, Abendessen – alles zur gewohnten Zeit; Tische und Stühle standen auf demselben Fleck, nichts im Hause, nichts an unserer Lebensweise hatte sich geändert; nur sie war nicht mehr.

Mir schien aber, nach einem solchen Unglück müßte alles neue Form annehmen; unsere gewöhnliche Lebenseinteilung kam mir wie eine Beleidigung ihres Andenkens vor und erinnerte zu sehr an ihr Fehlen. Jetzt liebe ich diese traurigen Erinnerungen; damals fürchtete ich sie und suchte sie fernzuhalten.

Am Tage vor der Beerdigung wollte ich nach dem Mittagessen schlafen und ging in Natalie Sawischnas Zimmer; dort wollte ich auf ihrem Bett, auf dem weichen Daunenkissen unter der warmen Steppdecke ruhen. Als ich eintrat, lag sie selbst auf dem Bett und schlief. Beim Geräusch meiner Schritte erhob sie sich, warf die Wolldecke, mit der der Kopf zum Schutz vor den Fliegen bedeckt war, zurück und setzte sich, die Haube zurechtrückend und die Augen reibend, auf den Bettrand.

Da ich schon früher ziemlich häufig nach dem Essen in ihr Zimmer gekommen war, um zu schlafen, erriet sie meine Absicht und sagte, sich vom Bettrand erhebend: »Sie wollten sicher etwas ruhen, Liebling. Legen Sie sich nur hin.«

»Was fällt Ihnen ein, Natalie,« sagte ich und faßte sie an der Hand, »ich denke nicht daran … bin nur so gekommen; Sie sind selbst müde, legen Sie sich lieber hin.«

»Nein, Freundchen, ich habe schon ausgeschlafen,« sagte sie – dabei wußte ich, daß sie drei Tage und Nächte nicht geschlafen hatte. »Mir ist auch jetzt nicht nach Schlafen zumute,« schloß sie mit einem tiefen Seufzer.

Ich hatte den Wunsch, mit Natalie Sawischna über unser Unglück zu sprechen; ich kannte ihre aufrichtige Liebe; deswegen war das Weinen mit ihr für mich ein Trost.

»Natalie Sawischna,« sagte ich nach kurzem Schweigen und setzte mich auf das Bett, »hatten Sie das erwartet?«

Die Alte sah mich verständnislos und neugierig an; wahrscheinlich begriff sie nicht, weshalb ich sie danach fragte.

»Wer hätte das erwartet,« wiederholte ich.

»Ach, mein Kind,« sagte sie mit einem Blick zärtlichsten Mitgefühls, »nicht erwartet – ich kann auch jetzt noch nicht daran denken. Was mich alte Frau betrifft, wäre es längst an der Zeit, die müden Knochen zur Ruhe zu bringen, denn was habe ich nicht schon erlebt! Den alten Herrn, Ihren Großvater, Gott hab ihn selig, den Fürsten Nikolai Michailowitsch, zwei Brüder, meine Schwester Anuschka – alle habe ich begraben, und alle waren jünger als ich, mein Freund. Jetzt aber muß ich, offenbar meiner Sünden wegen, auch noch sie überleben! Es war Sein heiliger Wille! Er hat sie zu sich genommen, weil sie würdig war und weil Er auch im Jenseits Gute braucht.«

Dieser einfache Gedanke tröstete mich; ich rückte näher an Natalie Sawischna heran. Sie faltete die Hände auf der Brust und blickte aufwärts; ihre eingefallenen feuchten Augen drückten tiefe, aber ruhige Trauer aus. Ihre feste Hoffnung war, Gott würde sie nicht allzulange von der trennen, auf die sie so viele Jahre die ganze Kraft ihrer Liebe verwandt hatte.

»Ja, mein Liebling, es ist wohl schon lange her, daß ich sie gewiegt, in Windeln gewickelt habe und daß sie mich ›Nascha‹ nannte. Wie oft kam sie zu mir gelaufen, schlang ihre Arme um mich und plapperte unter Küssen: ›Mein Naschachen, meine Süße, was bist du für eine Pute!‹ Ich machte bisweilen Scherz und sagte: ›Nicht wahr, Liebling; du liebst mich gar nicht; werde nur erst groß, dann heiratest du und vergißt deine Nascha.‹ Dann dachte sie wohl nach: ›Nein,‹ meinte sie, ›ich will lieber nicht heiraten, wenn ich Nascha nicht mitnehmen kann; Nascha werde ich nie verlassen.‹ Nun hat sie es dennoch getan und hat nicht auf mich gewartet. Und wie hat sie mich geliebt, die Verstorbene! Wen hat sie überhaupt nicht geliebt? Ja, Liebling, Ihre Mutter dürfen Sie nicht vergessen; sie war kein Mensch, sondern ein Engel vom Himmel. Wenn ihre Seele im Himmelreich angekommen sein wird, wird sie euch auch dort lieben und sich über euch freuen.«

 

»Warum sagen Sie: wenn sie angekommen sein wird, Natalie Sawischna? Ich denke, sie ist jetzt schon da.«

»Nein, Liebling,« meinte Natalie, die Stimme dämpfend und rückte mir auf dem Bette näher, »jetzt ist ihre Seele hier,« dabei deutete sie auf die Zimmerdecke. Sie sprach fast im Flüsterton mit solcher Überzeugung, daß ich unwillkürlich den Blick aufwärts richtete, den Fries ansah und etwas suchte. »Sehen Sie, mein Liebling, das will ich Ihnen sagen,« fuhr die Alte fort, »zwei Wochen nach dem Tode bleibt die Seele in ihrem Hause und fliegt hier überall herum; nur sieht man sie nicht; nach vierzehn Tagen hat sie die erste Prüfung zu bestehen, dann die zweite, die dritte und so geht es vierzig Tage. Wenn sie alle bestanden hat, erst dann läßt sie sich im Himmelreich nieder.«

Sie sagte das alles so einfach und zuverlässig, als wenn sie die gewöhnlichsten Dinge erzählte, die sie selbst gesehen und die niemand auch nur im geringsten bezweifeln könnte. Ich hörte ihr mit stockendem Atem zu, und obgleich ich nicht recht verstand was sie sagte, glaubte ich ihr vollkommen.

»Ja, mein Kind, jetzt ist sie hier, sieht auf uns und hört vielleicht, was wir reden,« schloß Natalie Sawischna, senkte den Kopf und schwieg. Sie mußte weinen; um die Tränen abzutrocknen, stand sie auf, sah mir gerade ins Gesicht und sagte mit einer Stimme, die vor Erregung zitterte: »Um wieviele Stufen hat Gott mich hierdurch sich näher gebracht. Was bleibt mir jetzt noch übrig? Für wen soll ich leben? Wen soll ich lieben?«

»Lieben Sie uns denn gar nicht?« rief ich vorwurfsvoll und enthielt mich kaum der Tränen.

»Gott weiß, wie ich euch liebe, mein Täubchen; aber so wie sie kann und werde ich niemanden mehr lieben.«

Sie konnte nicht weitersprechen, wandte sich ab und brach in lautes Schluchzen aus.

Ich dachte nicht mehr an Schlaf; wir saßen uns schweigend gegenüber und weinten beide.

Foka trat ins Zimmer; da er unseren Zustand bemerkte und wahrscheinlich nicht stören wollte, blieb er schweigend mit schüchternen Blicken in der Tür stehen.

»Was willst du, Foka?« fragte Natalie Sawischna, die Tränen trocknend.

»Anderthalb Pfund Rosinen, vier Pfund Zucker und drei Pfund Reis zum Leichenschmaus.«

»Sofort, sofort, Freund,« sagte Natalie Sawischna, nahm schnell eine Prise und trippelte zum Vorratskasten. Die letzten Spuren des durch unsere Unterhaltung hervorgerufenen Kummers verschwanden, als sie ihre Tätigkeit begann, die ihr wichtig erschien.

»Wozu vier Pfund?« fragte sie brummig, den Zucker hervorholend und auf der Schnellwage abwiegend, »dreieinhalb Pfund sind genug,« dabei nahm sie ein paar kleine Gewichtstücke fort.

»Was soll denn das heißen; gestern erst hab' ich acht Pfund Reis ausgegeben, und nun wird schon wieder welcher verlangt. Mach, was du willst, Foka Demidytsch, aber Reis gebe ich nicht. Wanka freut sich wohl, daß im Hause alles drunter und drüber geht und denkt, man merkt es nicht. Nein, mit dem Herrschaftsgut wird nicht geschleudert. Ist das wohl erhört: acht Pfund Reis.«

»Was soll ich machen? Er sagt, alles sei draufgegangen.«

»Na, dann nimm! Er soll daran ersticken!«

Mich überraschte damals dieser plötzliche Übergang von der Rührung in der Unterhaltung mit mir zur Brummigkeit und kleinlichen Berechnung. Bei späterem Nachdenken verstand ich, daß Natalie trotz der seelischen Erregung noch genug Geistesgegenwart besaß, um ihre Arbeit zu verrichten, zu der die Macht der Gewohnheit sie hinzog. Der Kummer wirkte so stark auf sie, daß sie es nicht für nötig hielt zu verbergen, daß sie es vermöchte, sich auch noch mit anderen Dingen zu beschäftigen; sie hätte wahrscheinlich gar nicht verstanden, wie man so etwas denken könne.

Eitelkeit ist das mit aufrichtiger Trauer am wenigsten zu vereinigende Gefühl; dabei ist diese Eigenschaft der menschlichen Natur so tief eingeimpft, daß selbst die stärkste Trauer sie kaum unterdrücken kann. Eitelkeit in der Trauer äußert sich in dem Wunsch, entweder sehr betrübt, oder unglücklich, oder besonders fest zu erscheinen; und dieses niedrige Verlangen, das wir nicht eingestehen, das uns aber fast nie, selbst beim heftigsten Schmerz nicht verläßt, nimmt unserem Kummer jede Kraft, Würde und Aufrichtigkeit. Natalie Sawischna war von dem Unglück so tief betroffen, daß in ihrem Innern kein Wunsch übriggeblieben war und daß sie nur aus Gewohnheit weiterlebte.

Nachdem sie Foka die verlangten Dinge ausgeliefert und an den Kuchen erinnert hatte, der für die Popen gebacken werden müsse, entließ sie ihn, nahm ihren Strumpf vor und setzte sich wieder neben mich.

Die Unterhaltung betraf wieder denselben Gegenstand; wir weinten abermals und trockneten unsere Tränen.

Die Gespräche mit Natalie Sawischna wiederholten sich jeden Tag; ihr stilles Weinen und die ruhigen frommen Reden verschafften mir Trost und Erleichterung.

Aber bald wurden wir getrennt; drei Tage nach dem Begräbnis siedelten wir mit dem ganzen Hause nach Moskau über, und es war mir nicht bestimmt, Natalie je wiederzusehen.

Großmutter erfuhr die Schreckenskunde erst bei unserer Ankunft. Ihr Schmerz war außerordentlich. Wir wurden nicht zu ihr gelassen, da sie eine ganze Woche lang ohne Bewußtsein lag. Die Ärzte waren um ihr Leben besorgt, weil sie nicht nur keine Arzenei nahm, sondern mit niemandem sprach, nicht schlief und nichts genoß. Bisweilen saß sie in ihrem Zimmer allein auf ihrem Sessel, begann plötzlich zu lachen, dann ohne Tränen zu schluchzen, bekam Krämpfe und schrie unnatürlich laut unsinnige oder schreckliche Worte. Es war der erste starke Kummer, der sie traf, und dieser äußerte sich in Wut und Haß gegen Gott und Menschen. Sie mußte jemanden haben, dem sie ihr Unglück zum Vorwurf machte, und nun sprach sie entsetzliche Worte, fluchte Gott, ballte die Fäuste, drohte jemandem heftig, sprang von ihrem Sessel auf, ging mit großen schnellen Schritten durchs Zimmer und fiel dann ohnmächtig zu Boden.

Einmal betrat ich ihr Zimmer. Sie saß wie gewöhnlich auf ihrem Sessel und war anscheinend ruhig; aber ihr Blick machte mich stutzig. Die Augen waren weit offen, der Ausdruck aber unbestimmt und stumpf; sie sah mich gerade an, erkannte mich aber offenbar nicht. Ihre Lippen begannen langsam zu lächeln, und sie sprach mit rührender, zarter Stimme: »Komm her, mein Liebling, komm mein Engel …«

Ich glaubte, sie spräche zu mir und trat näher; aber sie sah mich nicht an.

»Ach, wenn du wüßtest, mein Herz, wie ich mich gequält habe und wie ich mich freue, daß du gekommen bist …« Da wurde mir klar, daß sie sich einbildete, Mama zu sehen, und ich blieb stehen.

»Dabei hat man mir gesagt, du wärest nicht mehr,« fuhr sie stirnrunzelnd fort. »Dieser Unsinn! Wie kannst du vor mir sterben!« Sie lachte schrecklich, hysterisch.

Nur Menschen, die starker Liebe fähig sind, können schweres Leid durchmachen; dieses Liebesbedürfnis aber bildet bei ihnen ein Gegengewicht für Kummer und lindert ihre Schmerzen.

Daher kommt es, daß die moralische Natur des Menschen noch lebenskräftiger ist als die physische, und daß Kummer niemals tötet.

Nach einer Woche war Großmutter imstande zu weinen, und ihr wurde besser. Ihr erster Gedanke, als sie zu sich kam, waren wir; ihre Liebe zu uns nahm noch zu. Wir wichen nicht von ihrem Sessel; sie weinte still vor sich hin, sprach von Mama und streichelte uns zärtlich.

Niemandem, der Großmutters Kummer sah, konnte der Gedanke kommen, daß sie ihn übertrieb. Der Ausdruck dieses Kummers war stark und rührend. Trotzdem, ich weiß nicht wie es kam, fühlte ich mich mehr zu Natalie Sawischna hingezogen, und ich bin bis jetzt überzeugt, daß niemand Mama so rein und aufrichtig geliebt und beweint hat, wie dieses einfache, hingebende Wesen.

Mit Mamas Tode endete für mich die glückliche Zeit der Kindheit, und es begann eine neue Epoche – die des Knabenalters. Da aber die Erinnerungen an Natalie Sawischna, die ich nicht wieder sah, die aber einen so starken und wohltätigen Einfluß auf meine Richtung und mein Empfinden ausübte, der ersten Epoche angehören, will ich noch einige Worte über Natalie und ihren Tod sagen.

Nach unserer Abreise litt sie, wie mir später Leute erzählten, die auf dem Lande blieben, sehr unter der Untätigkeit. Obgleich alle Kisten und Kasten unter ihrer Obhut standen, und sie unablässig darin kramte, sie umpackte, wog, verteilte, fehlten ihr doch der Lärm und das Getriebe des von der Herrschaft bewohnten Landhauses, an welche sie von kleinauf gewöhnt war. Der Kummer, die veränderte Lebensweise und das Fehlen der Sorgen entwickelten bei ihr bald eine Alterskrankheit, zu der sie neigte. Gerade ein Jahr nach Mutters Tode bekam sie die Wassersucht und legte sich ins Bett.

2»Die schlimmen Vorgefühle, von denen sie Ihnen schreibt, werden nur zu sehr durch die Worte des Arztes bestätigt. Gestern nacht verlangte sie, dieser Brief sollte sofort zur Post geschickt werden. Im Glauben, sie spräche im Fieber, wartete ich bis heute morgen und nahm mir die Freiheit, den Brief zu öffnen. Kaum hatte ich ihn abgesandt, da fragte mich die gnädige Frau, was ich mit dem Brief angefangen, und befahl mir, ihn zu verbrennen, falls er nicht abgegangen sei. Sie spricht unaufhörlich von dem Brief, sogar im Fieber, und behauptet, er müsse Sie töten. Schieben Sie Ihre Reise nicht auf, wenn Sie diesen Engel noch einmal sehen wollen, bevor er Sie verläßt. Entschuldigen Sie diese Schmiererei – ich habe drei Nächte nicht geschlafen. Sie wissen, wie lieb ich Sie habe!«