Im Schatten des Löwen

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2


«Junhi! Junhi, warte doch!»

Die Stimme klang von weit unter ihr. Junhi schirmte ihre Augen mit der Hand ab und spähte hinunter. Die dunklen Kurven des Flusses, die das Tal durchschnitten, erinnerten an die gewellten schwarzen Holzkohlelinien von Tukh auf den Felsen.

Junhis Augen tränten vom Starren in das grelle Sonnenlicht. Ihr Kopf schmerzte und sie wischte sich übers Gesicht. Wenn Ren nicht mit ihr Schritt halten konnte, war das schade für ihn. Sie winkte kurz, drehte sich um und kletterte weiter. Er hatte sie sicher gesehen und konnte ihr folgen, so langsam er wollte.

Auf dieser Talseite spürten die Felsen den warmen Kuss der Sonne. Auch Junhi spürte ihn, aber gleichzeitig schnitt ihr der eisige Wind ins Gesicht und ließ die letzten Schneereste aufwirbeln. Obwohl sie die Haare geflochten hatte, wehten ihr trotzdem noch schwarze Strähnen vors Gesicht.

Junhi schob den Riemen ihrer Tasche etwas höher auf die Schulter. Der Speer in ihrer Hand fühlte sich warm und glatt an. Sie lächelte. Es war gut, ihn dabei zu haben, obwohl sie ihn heute nicht gebrauchen würde. Uma hatte sie losgeschickt, um Dung für das Feuer zu sammeln. Die Herde hatte genug im Tal zurückgelassen; Junhis Tasche war schon angefüllt mit getrocknetem Rentierkot.

Aber wenn Uma wüsste, wo ich jetzt bin …

Junhi war klar, dass sie nicht so weit hinaufklettern sollte.

Sie hatte getan, was man ihr aufgetragen hatte, und jetzt erwartete man sie wieder in der Wohnhöhle. Im Winter wollte Uma nicht, dass sich jemand länger als nötig im Freien aufhielt. Wer zu lange wegblieb, musste gleich von mehreren Stammesmitgliedern abgeholt werden. Und Uma war nicht freundlich zu jemandem, der andere wegen nichts in Gefahr brachte. Draußen gab es Wölfe, Löwen, Hyänen. Und die hatten immer Hunger.

Wo bleibt Ren?

Beunruhigt schaute Junhi hinter sich. Sie hatte ihn schon beinahe vergessen, diesen kleinen Jungen mit dem dunklen Blick. Ren war ein Stück jünger als sie, also war sie für ihn verantwortlich. Dahs hatte es ihr vorhin nochmals mit lauter Stimme und in Anwesenheit aller eingeschärft. Es war eine Art, wie er und Uma dafür zu sorgen versuchten, dass sie sich nicht mehr absonderte. Und dass sie nicht mehr träumte. Sie schnaubte. Es funktionierte. Am liebsten hätte sie Ren in die Wohnhöhle zurückgeschickt, aber was sollte er dort sagen? Dass er Junhi unterwegs aus den Augen verloren hatte? Wenn Dahs selbst kommen und sie suchen musste, würde er persönlich dafür sorgen, dass sie in nächster Zeit überhaupt nicht mehr ins Freie käme. So blieb ihr nichts, als den Jungen mitzunehmen.

Sie hörte auf zu klettern und schaute um sich. Sie war sich sicher: Dort, auf dem höchsten Punkt, hatte sie ihn vor einigen Tagen dastehen sehen. Den Riesenhirsch, mit einem Geweih fast so groß wie die Stoßzähne eines Mammuts, und genauso gefährlich. Junhi wusste, dass die Riesenhirsche jeden Winter ihr Geweih verloren. Wenn sie heute ein solches Geweih mitnehmen konnte, würden alle stolz auf sie sein. Aus einem einzigen Exemplar konnten sie den restlichen Winter hindurch Speerspitzen und Nadeln und noch viel mehr anfertigen. Es musste hier irgendwo sein.

«Da bist du!»

Keuchend und mit roten Wangen kam Ren den Hang hinauf. Er stolperte, und Junhi konnte ihn gerade noch am Arm fassen, damit er nicht stürzte.

«W-was tust du hier?», fragte er außer Atem. «Wir müssen zurück, wir haben mehr als genug gesammelt!»

«Ja, sofort», antwortete Junhi, während sie mit der Hand über den Augen in sämtliche Richtungen spähte.

«Junhi!»

Ren zog sie am Arm. Verärgert sah sie ihn an und schüttelte seine Hand von sich ab.

«Ich will nicht, dass Uma böse auf mich wird», klagte Ren. «Besonders dann nicht, wenn es deine Schuld ist.»

«Still! Ich versuche, mich zu konzentrieren.»

«Worauf? Da ist nichts –»

Junhi hörte nicht mehr zu. Dort, gerade vor ihr, direkt hinter dem höchsten Punkt des Hangs. Ein dunkler Schemen, schnell wie Wasser. Sie spähte in die Ferne. Wo war er geblieben? Plötzlich stand er da, massiv, groß, stolz, der Buckel auf seiner Schulter wie ein Hügel am Horizont. Er trug kein Geweih mehr.

«Da ist er!»

«Wer? Junhi, warte!»

Der Hirsch sah sie kurz an, während sie auf ihn zu rannte, aber schon bald drehte er seinen mächtigen Kopf und trabte davon.

Ich darf ihn nicht verlieren, dachte Junhi.

Ihre Ohren sausten, und sie sah nur noch das riesenhafte Tier vor ihr, sein dickes Fell, seinen dröhnenden Galopp. Sie wollte nichts als ihm folgen. Der Boden unter ihren Füßen schien weich zu werden, während sie den Hang hinaufrannte, immer höher und immer weiter.

Ein Schatten am Rand ihres Blickfelds lenkte sie ab und sie schaute zur Seite. Ihr Herz überschlug sich, als sie die Silhouette des Löwenmannes erkannte. Sie stolperte und der Hirsch geriet außer Sichtweite.

«Wer bist du nur?», schrie Junhi. Ihre Stimme übertönte kaum den Wind. Und der Löwenmann sah sie bloß an, die gelben Augen so glänzend, wie es die Augen eines Raubtiers niemals tun würden. Es waren Menschenaugen in einer Verkleidung.

Langsam drehte er den Kopf, hob den Arm und zeigte. Junhi folgte seinem Blick.

Sie war auf der Spitze des Hangs, das Tal lag unten zu ihren Füßen, genau wie die Wohnhöhle und die Menschen von Umas Stamm. Im Talboden wand sich der Fluss, und die Berge in der Ferne bildeten launische Formen am Horizont.

«Ich sehe nichts», sagte Junhi.

Der Löwenmann berührte ihre Schulter und zeigte immer noch.

Sie schaute nochmals hinab und schirmte die Augen mit der Hand gegen die grelle Sonne ab. Da war etwas, in der Ferne, im Tal. Da bewegte sich etwas …

«Mammuts!»

Hohe Rücken wogten auf und ab und warfen breite Schatten auf die Felswand. Stoßzähne schwenkten sich träge im Rhythmus ihrer Schritte. Es waren große Tiere darunter, aber auch kleine. Junge vom letzten Frühjahr. Eine Mutterherde!

Junhi lachte und blickte zur Seite. Der Löwenmann war verschwunden. Stattdessen kam Ren den Hügel hinauf, mit wirrem Haar und einem bösen Blick in den Augen. Junhi rannte zu ihm, nahm in bei der Hand und zog ihn mit.

«Mammuts, Ren! Die Mammuts kommen!»

«Was? Wo? Junhi, lass mich los!»

«Keine Zeit!», rief Junhi. «Komm mit!»

Die Mammuts! Besser konnte es nicht sein! Nachdem die Rentiere weitergezogen waren, musste der Stamm ihnen eigentlich folgen. Aber wenn die Mammuts kamen … Diese Wohnhöhle war bequem und groß genug, und sie schützte den Stamm gegen Kälte und Wind. Sie war besser als alle Wohnhöhlen, auf die sie jemals gestoßen waren. Tukh träumte hier gut. Niemand wollte hier weg. Und jetzt konnten sie bleiben!

Erst Rens Gewimmer verriet ihr, dass sie seine Hand immer noch umklammert hielt. Sie ließ ihn los und rannte weiter, aber er folgte ihr nicht. Junhi hielt inne und drehte sich um. Ren war stehen geblieben, mit hängendem Kopf. Seine Schultern zuckten ein wenig.

«Ren! Was ist?», fragte Junhi, während sie zurückging.

«Du … du denkst überhaupt nicht an mich», schluchzte er. «Du rufst merkwürdige Sachen, und dann rennst du einfach so weg! Das gehört sich nicht. Alle im Stamm müssen aufeinander achten! Ich werde es Uma erzählen! Gib nur acht!»

«Pst, ganz ruhig, es tut mir leid», beschwichtigte ihn Junhi. «Die Mammuts kommen, Ren! Uma wird im Gegenteil sehr froh sein, dass wir den Hang hinaufgeklettert sind!»

«Ich habe nichts gesehen!»

«Es tut mir leid, dass ich dich so schnell wieder mitgezogen habe. Aber wirklich, ich sah sie! Eine schöne Herde von Weibchen an der anderen Seite des Tales. Ihre Stoßzähne, Ren! Sie waren so weiß und groß! Wir müssen es Dahs und Uma erzählen. Ich werde langsamer gehen. In Ordnung?»

Er sagte nichts, sondern schaute nur böse unter seinen buschigen Augenbrauen hervor.

«Auch gut», sagte Junhi. Als sie wegging, kam er schmollend hinter ihr her.

Sie waren so weit abgeirrt, dass sie sich einen anderen Weg suchen mussten, um wieder vom Hang hinunterzufinden. Junhi versuchte, sich nicht über Rens Langsamkeit und seine dickköpfigen Fragen zu ärgern. Er konnte nicht wissen, was sie gesehen hatte.

Den Riesenhirsch, den Löwenmann, die Mammutherde …

Was habe ich eigentlich wirklich gesehen?

Der Gedanke überfiel sie wie ein Löwe seine Beute. Der Hirsch, ganz plötzlich wieder verschwunden. Der Löwenmann … Hatte sie geträumt? Und wenn ja, war es dann ein Traum der Mutter gewesen? Waren die Mammuts denn wirklich echt gewesen? Auf einmal konnte sie kaum mehr Luft holen.

«Da ist Tukh!», rief Ren und rannte plötzlich in die entgegengesetzte Richtung, zurück zu dem Felsen anstatt zu dem Fluss.

«Heja, Ren, warte!», rief Junhi. «Au!»

Sie hatte sich zu schnell umgedreht und war mit dem Fuß hinter einem Stein hängengeblieben. Die Hand, mit der sie ihren Sturz abgefangen hatte, war aufgeschürft und blutete ein wenig. Als sie den Kopf hob, war Ren schon aus ihrem Blickfeld verschwunden.

«Ren! Warte doch!», rief sie nochmals, bevor sie ihm folgte.

Tukh saß mit dem Rücken zu ihnen in einer runden Einbuchtung der Felswand. Es war eine seiner Lufthöhlen, wie er sie nannte: stille Orte mit glatten Wänden, wo er träumen und zeichnen konnte. Wohin er seine Schülerin mitnahm, um ihr alles beizubringen. Überall waren Linien, Punkte, Spiralen und Tiere zu sehen. Zwei schwarze Nashörner schauten sich böse an, ein rotes Mammut hob den Rüssel und ein Bär schnüffelte den Boden ab. Junhi hatte sich nie zuvor hierhergewagt, aber jetzt musste sie sich bezwingen, um die fließenden Linien nicht zu berühren und zu versuchen, ihre Wärme durch die Felsen hindurch zu spüren.

 

«Tukh!», rief Ren. «Junhi hat Mammuts gesehen!»

«Pst, Ren!», zischte Junhi ihm zu. «Du darfst Tukh nicht einfach so stören.»

Aber inzwischen klopfte ihr Herz immer schneller. Hier stand sie, bei Tukh, dem Träumer des Stammes. Mit ihrem Traum. Was würde er sagen?

«Was macht ihr denn hier?», klang unerwartet eine Mädchenstimme.

Junhi hatte Tira noch nicht dasitzen sehen. Das Mädchen erhob sich mühsam mithilfe eines Stocks und schaute sie böse an.

«Seht ihr nicht, dass Tukh gerade träumt? Haut ab! Er hat keine Zeit für euch.»

Sie hatte Farbspuren im Gesicht und ihre Hände waren rot.

«Es ist in Ordnung», sagte Tukh, während er sich umdrehte. Seine hellblauen Augen hielten Junhi sofort gefangen.

«Tira, begleite Ren in die Wohnhöhle.»

Tukh besah sich Junhis aufgeschürfte Hand.

«Sag, dass Junhi gestürzt ist und sich vielleicht das Bein gebrochen hat. Ich muss sie versorgen.»

«Aber …»

«Kein Aber, Tira! Ab zur Wohnhöhle. Sofort.»

Die ganze Zeit hindurch hatte Tukh Junhis Blick nicht losgelassen.

Einen Moment lang starrte Tira ungläubig von Tukh zu Junhi und wieder zurück. Dann ließ sie die Schultern hängen, und während sie sich auf ihren Stock stützte, ging sie langsam und mit unregelmäßigen Schritten zu Ren.

«Komm mit, Ren», sagte sie, und ohne sich noch umzusehen, fasste sie Ren beim Arm und führte ihn weg.

«Komm mal her», sagte Tukh zu Junhi.

Als sie bei ihm war, nahm er ihr den Speer und die Tasche ab.

«Diese Sachen brauchst du nicht. Hier.»

Er drückte ihr ein Stück Holzkohle in die Hand.

«Was genau hast du gesehen? Wer hat dir erzählt, was du sehen solltest? Schließ die Augen, denk nach und öffne sie dann wieder. Such dir eine Stelle aus. Erzähl. Und zeichne.»

Erst wagte Junhi nicht, sich zu regen. Zeichnen, sie? Was würde Uma sagen? Es war, als ob Tukh ihre Gedanken hören konnte.

«Denk nicht an Uma oder Dahs. Augen zu. Konzentriere dich. Und geh zu deinem Traum zurück.»

Als Junhi die Augen schloss, verwandelte sich das Dunkel schon bald in eine Serie von Lichtblitzen, die in der Schwärze tanzten. Wer hatte es ihr erzählt? Der Löwenmann? Er hatte ihr die Mammuts gezeigt, aber sie wäre nie zu ihm gekommen, wenn …

«Der Riesenhirsch», sagte sie, und sofort öffnete sie die Augen. Sie ließ den Blick über die Felswand schweifen. Ihr Blick fiel auf einen Felsspalt neben dem roten Mammut. Der Buckel eines Hirschrückens.

«Nur zu», ermunterte sie Tukh.

Der Fels fühlte sich nicht kalt an, wie sie erwartet hatte, sondern warm, als sie mit der Hand über die Stelle strich. Während sie die Spitze ihrer Holzkohle auf den Felsen setzte, begann sie zu sprechen.

«Ich hatte den Riesenhirsch vorher schon gesehen. Auf dem Hang über der Wohnhöhle.»

Die Felswand fraß die Holzkohle langsam auf, während sie Linien zog. Der Staub verschwand in den Poren des Steins.

«Da hatte er sein Geweih noch, breit und schwer. Heute rief er mich, und ich sah ihn wieder. Sein Geweih war weg.»

Sie kam mit ihrer Holzkohle zu dem Spalt. Der Schatten darunter war ebenso schwarz wie die Linien, die sie zeichnete. Sie hob die Hand und machte auf der anderen Seite weiter.

«Er rief mich, obwohl ich seine Stimme nicht hörte. Ich rannte ihm hinterher. Auf dieser Spitze habe ich ihn verloren. Der …»

Sollte sie von dem Löwenmann erzählen? Nein. Der Löwenmann gehörte ihr, ihr allein. Sie kannte seine Geheimnisse noch nicht. Vielleicht später.

«Da sah ich die Mammuts, auf der anderen Seite des Tals», fuhr sie fort. «Sie liefen langsam. Eine Mutterherde mit Jungen. Sie sind unterwegs.»

Ihre Hand hielt inne und Junhi musste blinzeln. Die Holzkohle war bis zu ihren Fingerspitzen aufgebraucht. Sie trat einen Schritt zurück. Dort, auf der Felswand, stand der Riesenhirsch. Den Kopf etwas erhoben, als ob er die Luft einsog, die Beine fest auf dem Boden.

«Er ist …»

«Mächtig», sagte Tukh. Er ging zu der Zeichnung und ließ die Finger über die Linien gleiten. Plötzlich drehte er sich um und legte seine Hände auf Junhis Wangen. Sein Gesicht war ganz nah bei ihrem. Seine Lippen und Zähne waren wieder rot. Es war seine Lieblingsfarbe.

«Du weißt sicher, dass es Mammuts waren?», fragte er eindringlich.

«Ja, Tukh. Ich bin mir sicher.»

«Dann gehen wir jetzt zur Wohnhöhle, um es Uma und Dahs zu erzählen. Deine Hand wurde von der Mutter geführt, das kann ich sehen. Der Hirsch hat Kraft. Die Mammuts sind echt.»

Tukh suchte Junhis Sachen zusammen.

«Erzähle niemandem, was du getan hast. Wasch dir die Hände im Fluss. Sorge dafür, dass kein Schwarz mehr zu sehen ist! Ich werde sagen, dass es mein Traum war. Zum Glück ist das mit deinem Bein halb so schlimm, obwohl: ganz in Ordnung ist es auch nicht. Ich werde es verbinden, sodass keiner dir Fragen stellt.»

«Gut.»

Junhi ging zum Flussufer und hockte sich hin, um sich die Hände in einem Eisloch zu waschen, das Tukh zuvor schon geschlagen hatte. Wie kalt das Wasser war! Ihre Finger wurden rot und dick, und ihre Haut brannte. Aber sie wusste, dass Tukh recht hatte. Wenn jemand das Schwarze sähe …

Tukh ging fort und kam mit Händen voll Moos zurück. Mit seinem steinernen Messer schnitt er Stücke von den Stricken an ihren Mänteln und Taschen ab und knotete sie zusammen.

«Gib mir dein Bein», sagte Tukh.

Junhi setzte sich und streckte ihr rechtes Bein aus. Ohne zu zögern durchschnitt er das Leder ihrer Hose.

«Tukh!», rief Junhi erschrocken.

Verstört hob er den Kopf. «Es würde nicht echt aussehen, wenn ich den Verband über deine Hose wickeln würde.»

Das Moos kribbelte und kratzte, und das zusammengeknotete Seil, das es zusammenhielt, spannte straff um ihre Wade.

«Das macht es nur leichter, so zu tun, als wärest du verletzt», sagte Tukh, als sie sich darüber beklagte.

Er half ihr auf und drückte ihr ihre Sachen in die Hände.

«Hier. Und vergiss nicht: hinken. Lehne dich auf deinen Speer. Ich werde dich stützen.»

Junhi schulterte ihre Tasche und hielt ihren Speer kräftig umfasst.

«Auf geht’s.»

3


Schon tagelang saß Junhi in der Wohnhöhle fest, verurteilt zu häuslichen Tätigkeiten. Es war gar nicht so einfach, Tukhs List durchzuhalten. Sie vergaß oft, dass ihr Bein wehtun musste, und hatte schon einige Male für die Jagd bereitgestanden. Manchmal hinkte sie gedankenlos mit dem falschen Bein und konnte nur hoffen, dass es niemandem aufgefallen war.

Inzwischen beratschlagten Tukh, Uma und Dahs hinten in der Wohnhöhle. Der Träumer, die Stammesmutter und der Jäger, die Anführer des Stammes. Junhi wusste, dass Dahs sie beobachtete. Sie sah es, sie fühlte es. Er durchschaute, dass etwas nicht in Ordnung war. Aber er schwieg. Und der Einzige, von dem sie gewollt hätte, dass er nach ihr schauen und etwas zu ihr sagen würde, tat es nicht. Tukh ignorierte sie so vollkommen, dass es einfach auffallen musste, und auch Ren gab sich alle Mühe, sie zu meiden. Letzteres war vielleicht auch gut. Ren wusste, was geschehen war. Er wusste, dass sie nicht verletzt war und dass Tukh und sie Uma belogen hatten. Junhi hatte keine Ahnung, ob sie Ren noch gerade in die Augen blicken konnte. Wenn Uma und Dahs ihn nur nicht befragten, und wenn er dann nur nichts sagte!

«Junhi, dürfen wir noch eine Geschichte hören?»

Sie schaute auf von dem Vorhang, den sie gerade flickte, und lächelte. Die Einzigen, die sich über ihr Vorhandensein freuten, waren die kleinen Kinder. Sie rutschte zur Seite, um Platz für die vier Kleinen mit ihren vom Toben und Spielen im Freien geröteten Wangen zu machen. Eines von ihnen hatte eine Speerschleuder in der Hand. Sie war nachlässig geschnitzt, und das Loch am Ende war nicht ganz sauber durchbohrt. An ihr baumelte ein grobes Seil.

«Hast du die selbst gemacht?», fragte Junhi. «Wie gut! Soll ich sie für dich verzieren? Was möchtest du darauf haben? Ein Mammut? Oder ein schnelles Pferd? Das wirst du dann sicher fangen!»

«Ein Pferd! Ja, ein Pferd!», rief der Kleine.

Junhi suchte um sich herum nach einem scharfen Stein und nahm die Speerschleuder von dem Jungen entgegen. Sie betrachtete das Stück Geweih, die Linien und Unebenheiten, die es schon von Natur aus besaß. Hier der Beginn einer Schnauze, da ein wehender Schweif, ein starrendes Auge …

«Was tust du da?»

Tiras Stimme war eisig wie der Winterwind. Die Kinder waren sofort still und starrten mit großen Augen in die Höhe. Tira sah sie nicht an. Ihr Blick war auf Junhi gerichtet.

«Du darfst nicht zeichnen», sagte sie. «Das hat Uma gesagt.»

«Es sind doch nur Verzierungen. Alle tun das. Die ganze Höhle ist voll davon!»

«Aber du darfst es nicht. Wem gehört die Speerschleuder? Gib sie mir. Ich werde es tun.»

Tira streckte die Hand aus. Ihr dünner, sehniger Arm zitterte ein wenig. Junhi hob den Kopf. Tiras Wangen waren eingefallen, und sie hatte dunkle Ringe um die Augen. Der Kopf stand nicht richtig in Bezug zu ihrem Körper, zu viel zur Seite durch die Krümmung in ihrem Rücken, zu viel nach vorn durch ihren Buckel. Wie ein verwitterter alter Baum, der durch den Wind seitwärts gewachsen war anstatt in die Höhe. Nur war Tira noch jung.

Ganz kurz zögerte Junhi. Was war eigentlich so besonders an Tira, dass die ihr sagen konnte, was sie tun durfte und was nicht? Sie war ebenso alt wie sie. Sie war doch nicht Uma! Aber schon bald verschwand dieses Gefühl. Auch Tira wusste von dem Betrug. Sie war ohnehin schon böse auf sie. Da bräuchte es nicht mehr viel, um sie beschließen zu lassen, dass es Zeit wäre, Junhi mal wieder so richtig eine zu verpassen.

«Also gut, hier. Sie gehört Tiph.»

Tira schloss die Finger um die Speerschleuder und sah auf die Kinder herab.

«Morgen ist er fertig, Tiph. Komm dann einfach zu mir.»

Tiph nickte, schaute von Tira zu Junhi und wieder zurück und beschloss dann, sich aus dem Staub zu machen. Die anderen folgten so schnell sie konnten.

Junhi seufzte, zog den Vorhang wieder auf ihren Schoß und tastete um sich her nach der Nadel. Wo war die geblieben?

«Ich war noch nicht fertig.»

Tira nahm ihren Stock in die andere Hand, wodurch sie ihr Gewicht verlagern musste. Ihr Gesicht verzerrte sich für einen so kurzen Moment, dass es fast nicht zu sehen war. Sie war gut darin, ihre Schmerzen zu verbergen. Junhi wartete ab.

«Ich will nicht, dass du nochmals mit Tukh sprichst.»

«Aha?»

Was gab Tira das Recht, ihr etwas zu verbieten? Junhi fühlte, wie ihr eine böse Wärme ins Gesicht stieg, und auch Tiras Wangen hatten plötzlich Farbe bekommen.

«Tukh hat geträumt, einen sehr wichtigen Traum, das weiß ich genau, aber er will mir nichts erzählen. Er spricht nur mit Uma und meinem Vater darüber. Ich kannte immer alle seine Träume!» Ihre Stimme bebte. «Und das kommt durch dich. Ich weiß nicht, was du getan hast, aber es ist deine Schuld. Wenn du noch ein Mal mit ihm sprichst, erzähle ich meinem Vater alles über dein angeblich verletztes Bein. Was dann passiert, darfst du dir selbst ausdenken.»

«Tukh hat sich diese List ausgedacht, nicht ich!»

«Als ob jemand Tukh etwas verübeln würde. Tukh ist viel wichtiger als du. Auf dich können wir verzichten. Genau wie auf deinen Vater.»

«Wie kannst du es wagen!»

Junhi sprang auf und wollte sich auf sie stürzen. Aber Tira stieß ihren Stock nach vorn, schneller als Junhi es für möglich gehalten hätte. Er landete hart in ihrem Magen, und mit einem Knurren fiel Junhi zu Boden, sich den Bauch mit beiden Armen haltend.

«Sei bloß vorsichtig mit deinem Bein», sagte Tira. «Es ist eindeutig noch nicht verheilt.»

Dann drehte sie sich um und entfernte sich. Aber sie kam kaum vorwärts und ihr Rücken wirkte krummer denn je. Junhis Wut erlosch sofort. Zurück blieb nur Leere.

Sie schaute sich um. Falls jemand gesehen hatte, was geschehen war, gab dieser sich alle Mühe, so zu tun, als wäre dem nicht so. Die meisten Stammesmitglieder waren unterwegs, und die Kleinen würden es nicht verstehen. Vorläufig war sie sicher.

 

Der Löwenmann saß auf der Klippe, seine Löwenschnauze in die Luft gereckt und seine Männerbeine über dem Rand baumelnd. Junhi drückte sich mit dem Bauch gegen die Felswand unter ihm und sah auf seine Fußsohlen. Ihre Finger griffen Halt suchend nach Rissen, ihre Zehen suchten Vorsprünge, auf denen sie stehen konnte, während der Wind versuchte, sie wegzupusten. Ihre Hände taten weh, ihre Beine zitterten. Aber sie musste klettern! Sie musste den Löwenmann fragen, ob die Mammuts echt waren, ob sie dem Riesenhirsch auch hatte folgen dürfen. Er schaute herunter, seine Miene unleserlich wie immer.

«Hatte ich recht?», schrie Junhi gegen den Wind an. «Habe ich es richtig gemacht?»

Er hörte sie schon. Er neigte den Kopf, als verstünde er nicht recht, was sie fragte. Dann schwenkte er seine Beine nach oben und stand auf.

«Nicht weggehen!», rief Junhi. «Nicht weggehen!»

Er schaute noch einmal herab und entfernte sich dann von der Klippe. Schon bald konnte Junhi ihn nicht mehr sehen.

«Nicht weggehen», flüsterte sie.

Ganz kurz schaute sie auf den Fluss unter sich. Der war klein, unten im Talboden, tiefer als sie ihn je gesehen hatte. Sie hielt sich noch etwas kräftiger fest. Ein neuer, wilder Windstoß umtoste sie, zerrte an ihren Armen und Beinen. Sie versuchte sich festzuhalten, aber ihre Finger konnten nicht mehr, ihre Füße fanden nichts als Luft. Sie schrie und fiel rückwärts ins Leere.


Junhi zog sich die Kapuze ihres Mantels über den Kopf und wickelte sich in das Wisentfell, das sie irgendwo aufgehoben und mitgenommen hatte. Sie schmiegte sich in einen Winkel möglichst weit vom Feuer entfernt. Uma hatte angekündigt, dass sie diesen Abend etwas zu berichten hätte. Und für Junhi war es leicht zu erraten, worum es ging.

Jetzt braucht Tira nicht mehr böse zu sein. Gleich erfährt sie von dem Mammuttraum. Alle werden es erfahren.

Uma würde von den Mammuts berichten, als ob Tukh sie gesehen hätte. Es würde sein Traum sein und nicht der von Junhi. So hatte er es sich ausgedacht, und es war das einzig Mögliche. Aber Junhi war nicht gut darin, auf Lügen zu beharren, das hatte ihr angeblich verletztes Bein sie gelehrt. Wenn jemand sie jetzt sah, würde er oder sie sofort mitbekommen, dass etwas nicht stimmte. Und daraufhin befragt würde sie zweifellos etwas sagen, das sie – oder schlimmer noch Tukh – verraten würde.

Besonders Dahs. Er wird mich heute Abend nicht sehen, dafür muss ich sorgen.

Als Uma ins Licht trat, hielt Junhi den Atem an. Die Stammesmutter schien zu funkeln. Ihre Kleidung war mit unzähligen Perlen besetzt, manche weiß, andere rot gefärbt, in einem komplizierten Muster, das Junhi noch nie gesehen hatte. Wer hatte das angefertigt? Es musste in den Schatten geschehen sein, denn diese Arbeit wäre allen aufgefallen. Das Gewand schien Uma noch größer zu machen als sie schon war.

Dahs stand rechts von ihr, seinen Speer in der Hand, ein Bärenfell um die Schultern und neue Eulenfedern im Haar, weiß wie frisch gefallener Schnee. Er trug seine sämtlichen Halsketten, angefertigt aus den Zähnen der gefährlichsten Tiere, die er eigenhändig erlegt hatte. Den Bären, die Hyäne, den Wolf. Junhi kannte die Geschichten gut.

Sie fühlte, wie ihr die Anspannung bis zum Hals stieg. Alle fühlten es. Die gesamte Wohnhöhle schwirrte davon. Aber wo war Tukh?

«Es ist so weit», sprach Uma mit ihrer leisen, heiseren Stimme. «Die Mammuts sind gekommen. Tukh hat sie geträumt. Sie laufen durch das Tal, nicht weit von hier entfernt. Die Mutter hat beschlossen, unsere Zeit hier zu verlängern. Wir sind ihr dankbar.»

Das ist mein Traum, dachte Junhi, er gehört mir, mir allein.

Sie fühlte sich leicht im Kopf.

«Aber es wird nicht leicht werden», fuhr Uma fort. «Ich kann Dahs und seine tapferen Jäger nicht beschützen, solange sie die Mammuts jagen. Und wir werden für uns selbst sorgen müssen, bis sie uns brauchen, um das Fleisch zu tragen. Dahs?»

Dahs trat vor, während Uma in den Schatten verschwand, als ob sie nie daraus zum Vorschein gekommen wäre. Alle Augen waren jetzt auf Dahs gerichtet.

Der beste Jäger des Stammes, der stärkste, mit dem schärfsten Blick und den schnellsten Entscheidungen. Alle Jungen wollten sein wie er. Es war fast unvorstellbar, dass Tira seine Tochter war.

«Das wird eine schwierige Jagd», begann er. «Wir wissen nicht genau, wo die Mammuts sind. Wir wissen nicht, wie schnell sie sich bewegen. Darum nehme ich alle Männer mit, die zur Jagd imstande sind. Und einige Jungen, die uns helfen und anschließend schnell mit unseren Nachrichten zurücklaufen können.»

Er wies die Jungen einen nach dem anderen an. Sie sprangen auf, jeder mit einem Freudenschrei. Dahs lachte, während sie sich gegenseitig auf den Rücken schlugen, rot vor Erregung. Das hier war ihre große Chance, und Junhi freute sich für sie. Aber wo nur blieb Tukh?

Leise erhob sich Junhi. Alle hatten nur noch Augen für die jungen Jäger, und Tira saß zu sehr in der Nähe ihres Vaters, um Junhi sehen zu können. Sie schlich zu den Vorhängen am Eingang und huschte hindurch.

Die Nachtluft verwandelte ihren Atem in weißen Nebel. Der blauschwarze Himmel war mit Lichtpunkten übersät, die das Dunkel endlos erscheinen ließen. Junhi schaute gern zu den Sternen auf. Das war fast wie Träumen.

Sie ging am Ufer des vereisten Flusses entlang. Sie hatte so eine Ahnung, wo sie Tukh finden konnte.

«Tukh», sagte Junhi leise, als sie ihn dasitzen sah, eine schwarze Silhouette vor der hellen Wand der Lufthöhle. «Warum bist du nicht in der Wohnhöhle?»

«Ich mache mir Sorgen», sagte er.

Der Träumer klopfte mit der Hand neben sich auf den Boden. Zögernd nahm Junhi Platz. Sie hob den Kopf. Ihr Riesenhirsch, vom Boden aus fast lebensgroß, begrüßte sie. Seine Linien waren verschwommener in der Dunkelheit, aber er war ebenso kraftvoll wie damals, als sie ihn auf dem Hang gesehen hatte. Eine Herde von Pferden leistete ihm jetzt Gesellschaft. Sie galoppierten nebeneinander, wie sich eine echte Herde über die Ebene fortbewegte, alle zusammen und doch auch allein. Überall auf der Felswand waren Tiere. Nicht nur gezeichnet, sondern auch ins Gestein geritzt, scharfe Linien im Schein der Sterne. Junhi vermisste die Pferde. Sie hatte schon eine ganze Weile nicht mehr von ihnen geträumt.

«Siehst du deinen Hirsch?», fragte Tukh. «Siehst du seine muskulösen Beine, seinen massiven Rücken, wie stolz er ist? Siehst du ihn atmen? Ich sehe es.»

Tukh ließ ganz langsam die Luft aus den Lungen entweichen, sodass der Dampf vor seinem Gesicht hängen blieb.

«Und jetzt sieh dir den Wisent links davon an. Schau gut hin. Was siehst du?»

Es war ein kraftvolles Tier, dieser Wisent. Viel Körper, wenig Kopf. Seine Beine waren kurz und standen etwas merkwürdig ab. Eigentlich hatte es nicht viel Ähnlichkeit mit einem Wisent.

«Ich … ich weiß nicht …», sagte Junhi zögernd. Was meinte Tukh?

«Genau», antwortete Tukh. «Ich weiß es auch nicht. Das hier ist … Wandschmuck. Das ist kein Traum der Mutter, der lebt und atmet und erzählt. Es ist Tiras Werk.»

Er seufzte. «Dein Hirsch und seine Echtheit, die Linien, haben mich überrascht. Dieses Tier steckt in dir, und du hast es hervorgebracht. Etwas, das Tira immer noch nicht kann, nach all den Jahren. Ich weiß, dass Uma dir verboten hat zu träumen. Aber die Träume der Mutter lassen sich nicht aufhalten. Und ich habe Angst.»

Tukh drehte sein Gesicht zu Junhi und starrte sie so nachdenklich an, als wollte er ihr in den Kopf sehen.

«Ich war vielleicht zu schnell, zu schnell mit deinem Traum. Ich habe ihn genommen und weitergegeben, obwohl er nicht von mir war. Aber ich war so froh! Dieser Ort ist gut, besser als alle anderen, die wir kennen, und ich möchte so gern, dass der Stamm hierbleiben kann. Du hast die Mammuts gesehen, da bin ich mir sicher. Ich sah es in deinen Augen, ich sah es an deiner Zeichnung. Aber was bedeutet das, Junhi? Das kannst allein du wissen. Nur hat niemand dir je etwas über das Träumen beigebracht. Du kennst nicht die Bedeutung dessen, was du siehst, du weißt nicht, wie die Träume einen manchmal in die Irre führen können. Das heißt, vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Sag mir, Junhi: War der Hirsch das einzige Tier, das dir den Weg gezeigt hat?»