Im Schatten des Löwen

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Der Löwenmann, dachte Junhi, der Löwenmann hat mir den Weg gezeigt.

Aber sie konnte es nicht sagen. Wenn sie ihn mit Tukh teilte, ginge er vielleicht weg. Sie brauchte den Löwenmann. Er war ihr Freund.

«Ja», sagte sie also. «Nur der Hirsch. Ich bin ihm gefolgt, und als ich auf der Hangspitze war, habe ich hinuntergeschaut und die Mammuts gesehen.»

Tukh presste die Lippen zusammen und seufzte.

«Also gut. Ich vertraue dir. Aber ich denke, dass Umas Entschluss nicht weise ist. Es ist nur schwierig, ihr das beizubringen.»

«Würdest du es versuchen, Tukh? Bitte! Ich will lernen. Von dir.»

«Nicht jetzt, wo Dahs und die Jäger fortgehen. Tira ist dann allein, und es ist meine Aufgabe, sie zu beschützen, wenn ihr Vater fort ist. Das musst du verstehen. Tira sieht mehr als du glaubst. Sie fühlt sich bedroht.»

«Aber warum? Du kannst uns doch beide unterrichten. Das ginge doch?»

«Gewiss. Aber sie weiß, dass du besser träumst, besser zeichnest. Und für jemanden wie sie, die nicht jagen oder auch nur lange genug dasitzen kann, um einen Mantel anzufertigen, ist das schwer zu akzeptieren. Das hier ist ihr Platz, Junhi. Es ist ihr Leben.»

Junhi schluckte. Tukh hatte recht.

«Es tut mir leid.»

«Nicht nötig. Aber halte dich die nächste Zeit von uns fern. Versuche, nichts mit deinen Träumen zu tun, aber behalte sie, zeichne sie, und dann werden wir sie später besprechen, wenn Dahs wieder zurück ist. Es gibt eine kleine Lufthöhle an der anderen Uferseite. Ich nehme Tira nie mit dorthin, das heißt, sie kennt sie nicht. Du wirst sie finden, wenn du die Augen offenhältst. Aber sei vorsichtig. Uma darf nichts merken, bis ich mit ihr gesprochen habe.»

«Aber …»

«Nein, genug. Wir haben schon zu lange geredet. Geh zurück zur Wohnhöhle. Ich warte hier noch etwas. Vielleicht bitte ich den Hirsch noch, mir zu erzählen, was er dir erzählt hat.»

Tukhs Lächeln blitzte rot auf.

«Ich werde nichts sagen, wenn ab und zu etwas Farbe aus meinem Vorrat verschwindet. Aber vergiss nicht, dir nach dem Zeichnen gut die Hände zu waschen. Jedes Mal, immer. Und wage es nicht, mit farbigen Zähnen zurückzukommen. Du magst ja vielleicht träumen, aber das macht dich noch nicht zur Träumerin. Und nur Träumer zeichnen mit ihrem Atem.»

«Ich weiß. Danke, Tukh.»

«Und jetzt fort mit dir.»

Junhi sauste am Fluss entlang zur Wohnhöhle zurück. Vor dem Vorhang blieb sie kurz stehen. Drinnen tönte ein Singen und Klatschen, auch ein Schwirrholz war zu hören. Niemand würde sie hereinkommen sehen, wenn sie außerhalb des Lichtkreises blieb. Als ob sie nie fort gewesen wäre.

Aber sie war gerade erst durch den Vorhang gehuscht, da packte sie jemand beim Arm. Die kleinen Kohlen in Dahs’ Augen brannten wütend in seinem bemalten Gesicht. Junhi musste sich zusammennehmen, um nicht wie ein junger Hund aufzujaulen.

«Da bist du. Was hast du ausgefressen?»

«Nichts», sagte Junhi mit zusammengeklemmten Zähnen. «Es war heiß. Ich wollte die Sterne sehen.»

«Wo ist Tukh?»

«Das weiß ich nicht. Ich habe ihn nicht gesehen. Lass mich los, Dahs!»

Stattdessen zog er sie am Vorderteil ihres Mantels näher zu sich heran.

«Ich habe dich durchschaut», sagte er. «Bilde dir nur nicht ein, du könntest tun, was du willst, wenn ich fort bin. Du wirst unter Beobachtung stehen, dafür habe ich gesorgt. Du wirst meine Tira nicht mehr verletzen. Und ihr Tukh nicht wegnehmen. Hast du noch nicht genug? Einen gesunden, jungen Körper und einen guten Speer! Tira hat nichts! Nichts!»

«Sie hat einen Vater. Zumindest, falls er die Mammutjagd überlebt.»

Das Feuer in Dahs’ Augen verwandelte sich in Eis. Sie hörte seine Hand kommen noch bevor sie sie spürte. Der Schlag besorgte ihr Ohrensausen und eine brennende Wange. Ihre Lippe platzte auf und sie schmeckte Blut.

«Das war eine Warnung», sagte Dahs. «Sieh zu, dass es dabei bleibt.»

4


S o nah war sie ihnen noch nie gewesen. Sie hörte die Mammuts, fühlte ihre Wärme, vernahm ihren überwältigenden Geruch. Sie schnaubten und schmatzten, während sie liefen. Sie waren so groß! Jedes ihrer Beine war länger und dicker als Junhi selbst. Die Herde bewegte sich an ihr vorbei, sich träge wiegend, aber auch entschieden und stark. Aus der Nähe waren ihre Stoßzähne gelb, zerkratzt und verwittert. Die Herde wirkte endlos groß. Sie kamen noch näher und Junhi fühlte, wie ihre Stoßzähne ihr Gesicht fast streiften, fühlte den Erdboden unter dem Rhythmus ihrer Schritte erbeben.

«Heja!», rief sie, während sie ihren Kopf mit den Armen schützte. «Passt auf! Ich stehe hier!»

Aber die Tiere beachteten sie überhaupt nicht.

Plötzlich fühlte sie einen Tropfen auf der Wange. Sie wischte ihn mit den Fingern weg. Es war Blut. Weitere Tropfen fielen ihr auf den Kopf, ihren Mantel, auf den Boden. Sie schaute hoch. Das Blut kam aus den Augen des Mammuts. Sie weinten Blut. Aber sie liefen weiter und immer weiter, selbst als aus den Tropfen Ströme wurden und sich das gelbliche Weiß ihrer Stoßzähne in ein glänzendes Rot verwandelte, als Junhis Haare an ihrem Schädel klebte und das Blut ihr in die Nase, die Augen, den Mund drang …

Junhi schnappte nach Luft, während sie sich schlagartig aufsetzte. Sie befühlte ihre Haare und ihr Gesicht, aber da war nichts. Kein Blut. Keine Mammuts. Es war dunkel. Sie hörte nur die Schlafgeräusche ihrer über die Wohnhöhle verbreiteten Stammesgenossen. In der Feuerstelle glühte noch ein klein wenig Kohle.

Was bedeutet das?

Die Mammuts bluteten. Das war gut. Das musste ein Zeichen sein, dass die Jagd erfolgreich ausgehen würde! Aber warum empfand sie dann jetzt keinerlei Zufriedenheit oder Triumph? Sie hatte die Gewissheit, dass alle lebend zurückkamen. Dass alle Mütter und Väter ihre Söhne wieder in die Arme schließen konnten. Aber sie fühlte nur Trauer und Unruhe. Könnte sie Tukh nur fragen, was es bedeutete. Könnte sie den Löwenmann nur fragen. Könnte sie überhaupt jemanden etwas fragen.

«Pst, kommt mit», hörte sie jemanden am anderen Ende der Höhle flüstern, gefolgt von einem gedämpften Rascheln und Schlurfen. Dunkle Figuren standen auf und schlichen davon. In dem Dämmerschein konnte Junhi gerade noch unterscheiden, wer sie waren: die Jungen, die man für die Jagd ausgewählt hatte. Schon seit Tagen flüsterten sie in einer Ecke der Wohnhöhle miteinander. Sie hatten etwas vor. Als der letzte Junge den Vorhang beiseiteschob, erkannte sie Rens Silhouette. Was hatte er bei ihnen verloren? Sofort traf sie eine Entscheidung. Nach wie vor war sie für Ren verantwortlich. Ihm durfte nichts zustoßen.

Sie ließ die warmen Häute von sich abgleiten und ging leise an der Höhlenwand entlang ins Freie. Junhi sah sich um. Der Mond leuchtete hell und rund. Die Jungen gingen in einigem Abstand vor ihr her. Sie kicherten und schubsten sich scherzhaft gegenseitig. Vorsichtig folgte sie ihnen, leiser als ein Fuchs im Schnee.

Die Jungen kamen an den Lufthöhlen vorbei, ohne sie zu beachten, aber Junhi konnte es nicht lassen, einen raschen Blick auf den Hirsch zu werfen, ihren Hirsch, badend im Mondlicht. Fast wäre sie mit den Jungen zusammengestoßen. Sie waren vor einer dunklen Öffnung in dem weißen Felsen stehen geblieben. Eins nach dem anderen erschienen die Flämmchen ihrer Steinlampen, flackernd im Wind.

Die Mutterhöhle!, dachte Junhi. Sie gehen in die Mutterhöhle!

Die Mutterhöhle reichte bis tief ins Herz des Felsens. Viel tiefer als ihre Wohnhöhle. Es war kein Ort zum Wohnen. Es war kein Ort für normale Menschen. In der Mutterhöhle erwachten Träume zum Leben. Alle wussten, dass sie hier flüsterten und sich regten, obgleich nur wenige das mit eigenen Augen gesehen hatten. Die Mutterhöhle war ein Ort, an dem Träumer ihre wichtigsten Träume zeichneten und ihren Handabdruck hinterließen, wenn sie ausgelernt hatten. Selbst Tukh kam nicht oft hierher.

«Die Träume sind schon schwierig genug, wenn sie einem nichts erwidern», hatte er einmal gesagt.

Was hatten die Jungen vor? Sie musste sie davon abhalten, sie musste Uma aufwecken und Tukh holen! Aber andererseits … Wenn sie sich jetzt entfernte, würden sie in die Mutterhöhle eindringen, ohne dass es jemanden gab, der verhindern konnte, dass sie etwas Dummes taten. Etwas beschädigten und damit die Mutter erzürnten. Nein. Sie musste ihnen folgen.

«Ich will nicht!», jammerte Ren am Rand der Gruppe.

«Du hast es versprochen», herrschte ihn jemand an. «Du würdest Wache stehen.»

«Ich will hier nicht alleinbleiben!»

«Still, Ren! Ich hatte geglaubt, du wolltest auch ein Jäger sein? Wenn du das für uns tust, werden wir Dahs fragen, ob du beim nächsten Mal auch mitdarfst.»

Einen Moment blieb es still.

«Na gut», sagte Ren schließlich.

«Sehr schön.»

Die jungen Jäger tuschelten aufgeregt miteinander, während sie einer nach dem anderen von der Dunkelheit verschluckt wurden. Ren blieb beim Eingang zurück. Er hatte sich hingehockt und hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Junhi konnte leicht an ihm vorbeihuschen, ohne dass er sie bemerkte. Sie hatte Mitleid mit ihm. Sie wusste, dass aus dem Versprechen der Jungen nichts werden würde. Dahs würde Ren sicher nicht zur Jagd mitnehmen. Er war noch viel zu jung.

Junhi ging tiefer hinein und ließ das Mondlicht hinter sich. Der unebene Boden fühlte sich körnig an, die Wand, an der sie Halt suchte, war scharf und kantig.

 

Ich habe keine Lampe, überlegte sie. Sie musste nah bei den Jungen bleiben und gut achtgeben, wohin sie ihre Füße setzte.

Die kleinen Lichter vor ihr bewegten sich langsam. Es wurde geplappert und gelacht, aber je tiefer die Jungen in die Höhle drangen, desto mehr verstummten sie. Die rauen Wände wurden glatt, und vor Junhi tauchten steinerne Türme auf, die im Licht der kleinen Flammen schimmerten. Die Jungen blieben stehen und bestaunten sie verwundert.

Da erst, nachdem alle standen, fiel Junhi die Stille auf. Keine Vögel, kein dahinfließendes Wasser. Und kein Wind. Die Luft war ruhig, fast schwül. Wenn sie die Augen schloss, hörte sie nur ihren eigenen Atem und das Pochen ihres Herzens.

Bald schon wurde der Gang schmaler, sodass die Jungen nah hintereinander gehen mussten, Lichtchen für Lichtchen. Ein großer Stein blockierte fast den gesamten Weg und sie zwängten sich einer nach dem anderen an ihm vorbei. Leise folgte Junhi, und einen Moment war sie wie gefangen im Stein, kühl und massiv an Bauch und Rücken. Es war ein merkwürdiges Gefühl, beängstigend und beruhigend zugleich.

«Sind wir schon da?», fragte einer der Jungen. Sie hielten ihre Lämpchen hoch und erleuchteten so die Felswände.

«Noch etwas weiter», sagte ein anderer.

Dann: «Seht mal hier!»

Plötzlich waren alle Lämpchen zusammen.

«Und hier!»

Junhi schlich näher an die orangegelben Gesichter, die in die Höhe starrten.

«Wir sind fast da, noch ein bisschen weiter, kommt!»

Bevor Junhi selbst etwas hatte sehen können, waren die Lichter schon wieder fort. Aber sie konnte erraten, was es da gab. Ein Kitzel durchzog ihren Körper. Die Zeichnungen. Die lebenden Träume. Fast konnte sie sie im Dunkeln sehen. Durfte sie die Wand denn berühren? Oder würde sie die Zeichnungen damit verschmieren und verderben? Einen Augenblick lang zweifelte Junhi, aber sie musste. Die Felswand war ihr einziger Halt.

«Es muss hier irgendwo sein», murmelte einer der Jungen. «Schaut ihr mal auf der anderen Seite.»

Zwei Lichter spalteten sich von der Gruppe ab und bewegten sich vorsichtig zur anderen Seite der Höhle. Dort, im Schein der Lampen, waren sie deutlich zu sehen. Handabdrücke.

Junhi hielt den Atem an. Rote Farbe hatten die Träumer auf die Felswand gespien. Hier hatten Tukh und die Träumer vor ihm zum ersten Mal ihren Atem der Mutter geschenkt. Hier würde Tira ihre Hand verewigen, wenn sie keine Schülerin mehr war, sondern eine echte Träumerin.

Einer der Jungen streckte vorsichtig die Hand zu einem der Handabdrücke aus, um ihn zu berühren, um zu sehen, ob es passen würde …

«Nein, nicht!», rief Junhi, bevor ihr klar war, was sie tat, und sprang hervor, um den Jungen wegzuschubsen. Niemand durfte sie anfassen! Erst recht keine Jäger wie er!

Ein Chaos mit Geschrei, Gerufe und Geschubse folgte. Junhi zog den Jungen am Ärmel und er fiel rücklings hin. Seine Lampe schlug auf den Boden und die Flamme erlosch sofort. Er zog sie mit sich, knurrte wie ein wütender Hund und sie spürte eine Faust im Magen. Sie stöhnte vor Schmerz, schlug aber fest zurück. Dann waren da weitere Hände, die sie hochzogen und von ihrem Widersacher trennten. Keuchend ließ sie sich festhalten.

«Was machst du denn hier?»

Einer der Jungen hielt ihr seine Lampe so nah ans Gesicht, dass sie die Augen zukneifen musste.

«Lass das!»

«Kian darf tun, was er will!», sagte der Junge, der sie festhielt, hochmütig. «Du bist ein Eindringling! Du gehörst nicht hierher!»

«Und ihr vielleicht?», schnaubte Junhi. «Ihr seid in der Mutterhöhle! Nur Träumer dürfen hierherkommen. Wartet nur, bis ich es Uma erzähle.»

Mit einem Schlag waren sie still.

«Das wirst du nicht wagen», sagte schließlich ein anderer Junge. «Alle wissen, dass Uma dich auf dem Kieker hat! Anstelle von uns wird sie dich bestrafen!»

«Meinst du wirklich? Möchtest du es ausprobieren?»

Wieder Stille. Junhi riss sich los.

«Ihr müsst hier verschwinden. Wie könnt ihr es wagen, die Hände der Träumer zu berühren?»

«Nein. Wir gehen hier nicht weg. Du musst verschwinden, sonst sagen wir es Uma.»

«Na klar», fauchte Junhi. «‹Uma, Junhi war in der Mutterhöhle, aber woher wir das wissen, sagen wir nicht.› Nein, ich bleibe. Um dafür zu sorgen, dass ihr nichts Falsches tut.»

«Was weißt du denn davon? Tukh redet nicht mit dir. Aber wohl mit uns!»

«Hat Tukh euch hierhergeschickt?»

Das konnte doch nicht wahr sein! Das würde er niemals tun!

«Na ja … vielleicht. Er hat gesagt, wir sollten die Mutter um Glück bei der Jagd bitten. Und wo könnten wir das besser als hier?»

Einen Moment lang schwieg Junhi.

«Also gut», antwortete sie zuletzt. «Tut, was ihr wollt. Aber ich bleibe, damit ihr nichts Verbotenes anstellt. Im Tausch dafür werde ich Uma nichts sagen.»

Die Jungen im Schein ihrer Lampen wechselten einen Blick miteinander. Junhi wusste, dass sie gewonnen hatte. Ihnen blieb keine Wahl.

«Einverstanden», sagten sie dann. «Aber du darfst uns nicht stören!»

«Meinetwegen. Wenn ich eine Lampe bekomme.»

Unter großem Ächzen und Stöhnen trat ihr einer der Jungen seine Lampe ab. Er sagte nichts, guckte aber ziemlich wütend.

«Es tut mir leid», sagte Junhi.

«Ach was!», erwiderte er und ging, um sich den Übrigen anzuschließen.

Aus einiger Entfernung schaute Junhi zu, während die Jungen mit ihren Lampen den Boden ableuchteten, flache Steine sammelten und sich kniend um sie scharten. Aus Taschen, die ihr in der Dunkelheit noch nicht aufgefallen waren, holten sie Feuerstöcke und getrockneten Dung hervor. Bald schon brannte ein kleines Feuer auf dem Boden, dessen Flammen einen Teil von Wand und Decke sichtbar machten.

Sie schüttelten etwas aus einem Lederlappen und begannen es auf einem der flachen Steine zu zermahlen. Das Geräusch hallte durch die Höhle. Hatten sie Farbe von Tukh gestohlen? Oder hatte er sie ihnen gegeben?

Während manche beim Feuer sitzen blieben, nahmen die Übrigen ihre Lampen und gingen damit zur Wand. Einer von ihnen hatte ein Stück Stein in der Hand. Bedachtsam besah sich der Junge den kahlen Felsen vor ihm, auf der Suche nach der besten Stelle. Dann drückte er die Spitze des Steins gegen den Felsen und begann zu ritzen.

Es klang noch schlimmer als das Mahlgeräusch für die Farbe. Der Stein quietschte und kratzte, als ob der Felsen selbst seinen Schmerz hinausschrie. Junhi hätte ihm am liebsten den Stein aus den Händen gerissen, aber sie beherrschte sich. Einige Jungen lachten.

«Willst du das Mammut schon umbringen, bevor wir es gesehen haben? Hört nur, wie es kreischt!»

Aber der Zeichner schwieg und ritzte unbeirrt weiter.

«Die Farbe ist fertig!», rief jemand beim Feuer. «Wir haben nicht so viel, also seid sparsam damit.»

Der Farbmischer verteilte flache Steine mit einem roten Staub darauf an alle. Die Jungen spuckten hinein und verrührten ihn mit den Fingern zu einem Brei. Sie ließen ihre roten Finger über die Felswand streichen, über Vorsprünge und die dünnen Steinpfeiler, die sich hier aus dem Boden erhoben.

Junhi schauderte. Wie konnten sie so arglos draufloszeichnen? Aber jedenfalls ließen sie die Handabdrücke in Ruhe. Kindische Spielereien waren es, sonst nichts. Sie seufzte. Diese Höhle hatte Besseres verdient. Die Mutter hatte Besseres verdient. Aber wenn diese nichts dagegen unternahm, würde es wohl in Ordnung sein.

Junhi hob ihre Lampe hoch und drehte sich vorsichtig um. Die Höhle führte noch tiefer in die Erde. Langsam entfernte sie sich von den Jungen und ihrem lärmenden Unsinn. Junhis Schritte waren leise und behutsam, während sie die sie umgebende Schwärze mit ihrem Flämmchen verjagte. Die Stimmen der Jungen verfolgten sie weiter, wurden von den Wänden zurückgeworfen. Ihre Münder waren weit weg, aber manchmal klangen sie wie von ganz nah.

Je weiter sie ging, desto tiefer wurde die Dunkelheit. Bald würde ihr Lämpchen nicht mehr stark genug sein, das Dunkel zurückzudrängen. Sie erzitterte trotz der milden Luft, die sie umgab. Dann wäre ihr das steinerne Brenngefäß fast aus der Hand gefallen. Das Mammut, das vor ihr auftauchte, war gigantisch. Seine Stoßzähne krümmten sich nach vorn, und die Wölbung seines Rückens war dunkel in den Schatten, die das Lämpchen auf die Felswand warf. Es sah aus, ab ob es sich bewegte.

Junhi blinzelte mit den Augen, aber das Mammut lief weiter. Seine Beine bewegten sich im Rhythmus ihres flackernden Lichtscheins.

Träume erwachen zum Leben, dachte sie, sie leben tatsächlich.

Sich die Lampe über den Kopf haltend ging sie weiter.

Mit der Herde mit, dachte sie, genau wie in meinen Träumen. Ich muss ihnen folgen.

Die Tiere führten sie tiefer in die Höhle hinein. Nicht nur Mammuts, sondern auch Hirsche, Wisente, sogar Bären … Wenn sie genau darauf achtete, konnte sie sie hören. Ihr Schnauben und Brüllen, ihre dröhnenden Schritte und schnellen Hufe. Wenn Junhi ihre Lampe hoch genug hielt, konnte sie die Decke sehen. Auch da waren Tiere, in Rot und Schwarz, versteckt in den Falten des Felsens.

Die Wirklichkeit existierte nicht mehr, die kalte Außenwelt war verschwunden, die Stimmen der Jungen verschwammen zu einem Rauschen. Die Tiere flüsterten ihr Dinge ins Ohr. Sie sahen sie an, liefen ihr voraus oder folgten ihr.

Fast hätte sie es überhört. Dieses Geräusch war anders. Und es war nah. Es klang, als ob sie aus einem tiefen Schlaf erwachte. Die Höhle wurde wieder still und die lebenden Träume kehrten an ihren Ort auf der Wand zurück. Junhi war allein mit dem unbekannten Geräusch. Es kam aus dem entlegensten Teil der Höhle. Es bewegte sich. Es kam näher. Ein Brummen, ein Schnauben. Tritte auf dem Steinboden. Klauen. Es waren Klauen.

Aber ich sehe nichts, dachte Junhi, wo ist es? Wo ist es?!

Ein ohrenbetäubendes Kratzen sorgte dafür, dass Junhi fast ihr Licht fallen ließ. Es klang, als würde ein Dutzend Jungen gleichzeitig lange Striche in die Felswand ritzen. Der Geruch eines großen Tieres kam in Stößen auf sie zu. Ein feuchtes Fell, wie eine frische Rentierhaut, die irgendwo zu lange aufgerollt gelegen hatte. Ein grollendes Brummen hallte durch die Höhle. Bebend hielt Junhi ihr Lämpchen in Richtung des Geräuschs, während sie so schnell sie konnte rückwärts schlurfte. Wieder scharrten die Klauen auf dem Felsboden, schneller diesmal. Als sie das Tier endlich sehen konnte, wusste Junhi schon, was es war.

Die Augen des Bären glänzten grün, während er sich auf die Hinterbeine stellte und sie somit turmhoch überragte. Noch nie hatte Junhi einen Bären aus einer solchen Nähe gesehen. Sie fühlte seine Wärme. Als er sich wieder auf seine vier Pfoten fallen ließ, schien die Erde zu beben.

«Was ist da los?», rief eine Stimme in der Ferne.

Sie wagte nicht, etwas zurückzurufen. Und sie wagte es nicht, ihren Blick von dem Bären abzuwenden. Er griff nicht an. Hatte ihn das Geschrei der Jungen aus seinem Winterschlaf geweckt? Dann war er sicher durcheinander. Und hungrig. Junhi wusste, dass diese Bären nur Pflanzen fraßen. Aber es gab genug Jäger, die auf einen schönen, dicken Bärenpelz aus gewesen waren und das nicht überlebt hatten. Bären hatten Zähne und Klauen, sie waren schnell und stark. Das hätte genügen müssen, um Junhi zur Flucht zu bewegen.

Aber sie bewegte sich nicht. Der Bär kam langsam auf sie zu. Sie spürte seinen Atem auf ihrem Gesicht, roch den üblen Gestank von getrocknetem Speichel und langem Schlaf. Er beschnüffelte sie, seine Schnauze berührte ihre Haare, ihre Wangen. Junhi hielt das Lämpchen eng an sich gepresst. Der Bärenkopf schien in der Dunkelheit vor ihr zu schweben. Langsam streckte sie ihre freie Hand aus. Ihre Fingerspitzen berührten sein borstiges Fell.

«Junhi!», klang eine Jungenstimme plötzlich ganz nah. Dann sah er den Bären und schrie. Der Bär öffnete das Maul und brüllte so laut, dass es Junhis Haare nach hinten wehte. Der Gestank aus seinem Maul ließ sie beinahe würgen. Eine Faust umfasste ihr Handgelenk und zog sie zurück.

«Los, wir verschwinden!»

Ihr Lämpchen fiel zu Boden, die Flamme erlosch sofort. Der Junge riss sie mit sich. Junhi stolperte, stieß sich den Ellbogen und den Kopf, aber er ließ nicht los.

Der Bär brüllte noch einmal, und durch das Echo schien er überall gleichzeitig zu sein. Der Junge schrie in Panik und rannte noch schneller, zurück zu den Händen der Träumer, zum Feuer, um das die andere Jungen standen, den Rücken den Flammen zugekehrt und mit ängstlichen Blicken.

 

«Was war das? Ist die Mutter böse auf uns?»

«Wir müssen weg, sofort! Es ist ein Bär, und er ist uns auf den Fersen!»

Aber die Jungen bewegten sich nicht. Sie starrten an Junhi und ihrem Retter vorbei, als ob sie Luft wären. Junhi drehte sich um. In der Glut des Feuers erschien ihr der Bär noch größer, schwer wie ein Felsblock, mit Beinen dicker als Baumstämme. Er schüttelte den Kopf, als wäre das helle Licht der Flammen ihm zu viel. Einer der Jungen schrie. Da griff der Bär an.

Mit dröhnenden Schritten rannte er auf sie zu, das Maul drohend aufgerissen. Junhi und die Jungen stoben zur Seite. Die meisten Lampen gingen aus, und der Bär donnerte quer durch das Feuer hindurch. Funken sprühten zu allen Seiten hin auf. Alle Jungen riefen und schrien.

Junhi kreischte, als sie wieder eine Faust ums Handgelenk spürte, und wieder wurde sie mitgezogen. Wo war der Bär? In der Nähe. Er schnaubte und knurrte. Sie wollte rennen. Die Jungen wollten rennen. Aber das ging nicht, denn sonst würde es die letzten Lampen auswehen, und ohne Licht würde sie der Bär sicher zu fassen bekommen. Also gingen sie so schnell sie konnten, die kostbaren Flämmchen ängstlich mit ihren Händen umschließend.

«Wo ist er? Wo?», fragte ein Junge.

«Nicht daran denken. Weitergehen!», sagte ein anderer.

Er wirkte ruhig, aber Junhi wusste, dass sein Herz hämmern musste, dass ihm der Atem bei jedem kleinen Geräusch im Hals stockte, dass er das Lämpchen umklammerte, als ob es das Einzige wäre, was ihn am Leben hielt.

«Da! Der Stein! An dem kann er bestimmt nicht vorbei!»

Natürlich kann er das, dachte Junhi, er ist doch auch in die Höhle hineingekommen!

Aber sie schwieg. Nacheinander zwängten sie sich an dem Stein vorbei. Ihre Hände hinterließen Schweiß und rote Farbe. Während sie wartete, bis sie an der Reihe war, blickte Junhi rückwärts ins Dunkel. Hörte sie den Bären noch schnauben? Fühlte sie seine Wärme?

Das Brüllen, das folgte, klingelte ihr in den Ohren. Der Bär richtete sich auf und ließ sich gegen den Stein fallen, sodass der Boden erbebte und kleine Felsbrocken herabgerieselt kamen. Junhi schrie und gab dem letzten Jungen, der an dem Stein vorbeimusste, einen Schubs.

«Beeil dich!», rief sie.

«Junhi!»

«Lass sie doch zurück!»

«Nein! Dann wissen alle, was wir getan haben!»

Der Bär wandte sich ihr zu. Er brüllte wütend, spannte seine Muskeln an und sprang. Das Licht war gerade ausreichend, ihn ankommen zu sehen, ein Bündel aus Kraft, das Maul weit aufgerissen …

«Junhi!»

Ein Ruck an ihrem Arm und ihr Gesicht schrammte über die Felswand, ihr Fuß knickte um, ein Schlag, ein Schrei, und dann war wieder Platz.

Keuchend sank Junhi zu Boden. Ihr Knöchel tat weh. Als sie mit der Hand über ihre Wange fuhr, fühlte sie warmes Blut. Der Bär brüllte noch ein letztes Mal, und es dauerte lange, bis die letzten Echos verhallt waren. Danach hörten sie nichts mehr.

«Er ist weg», sagte einer der Jungen. «Warum konnte er nicht durch?»

«Der Stein muss zu Anfang des Winters heruntergefallen sein», antwortete Junhi. «Wenn es keinen anderen Eingang gibt, kommt er hier nicht mehr heraus.»

Einen Moment herrschte Stille, bis auf Junhis Stöhnen, als sie aufstand und mit ihrem verletzten Fuß auftreten wollte.

«Lasst uns zurückgehen.»

Zwei Lämpchen waren ihnen noch geblieben, von denen eines schon ein wenig unstet flackerte.

Junhi musste hinken, aber niemand half ihr. Es war nicht schlimm. Sie gingen langsam, betäubt wie in einem Traum. Ihr Fußknöchel pochte im Rhythmus ihres Herzens.

Der schneidende Wind draußen ließ sie aufatmen. Im Licht des Mondes konnten sie sich jetzt wieder gut sehen, als ganze Menschen und nicht nur als Gesichter und Hände in einem orangegelben Schein. Ren war spurlos verschwunden.

«Wo ist er?», fragte jemand.

«Bestimmt unterwegs, um uns zu verraten», sagte ein anderer.

«Lasst ihn in Ruhe!», sagte Junhi. «Sicher hatte er Angst. Er muss den Bären gehört haben.»

«Wie auch immer, keiner erzählt irgendwem etwas hiervon», fuhr der letzte Junge fort. «Wir sind hier nie gewesen. Junhi, du siehst wüst aus. Du musst dich waschen und dir dann etwas wegen der Schürfwunden und deinem Knöchel ausdenken.»

«Gut», sagte Junhi. Kein Problem. Es war ja nicht das erste Mal.

Während die anderen zur Wohnhöhle zurückkehrten, kniete Junhi am Flussufer nieder, durchbrach die dünne Eisschicht auf dem Wasser und wusch sich Hände und Gesicht.

«Geht’s?», klang plötzlich eine Stimme neben ihr. Junhi erschrak.

Cramh hockte sich neben sie und berührte sie an der Schulter.

«Cramh!»

«Lässt du mich mal sehen?»

«Was tust du hier?»

«Was meinst du?», entgegnete er mit ernster Miene. «Dich wieder zusammenzuflicken ist mein Hobby geworden. Kopf in den Nacken!»

Er schöpfte mit der Hand Wasser aus dem Fluss und goss es ihr übers Gesicht.

«Ren hat dich geholt», sagte Junhi.

«Er ist ein lieber Junge. Er hätte ebenso gut Dahs oder selbst Uma rufen können, aber er wollte niemanden in Schwierigkeiten bringen. Ich hoffe, deine Freunde machen sich das klar.»

«Es tut mir leid. Ich hätte sie zurückhalten sollen.»

«Das wäre vernünftig gewesen. Aber tja, so kenne ich dich nicht.»

Junhi knurrte und Cramh lachte leise.

«Ich kann durchaus vernünftig sein», sagte sie dann. «Ich werde dafür sorgen, dass sie Ren in Ruhe lassen.»

«Sehr gut.»

Während Cramh ihr die letzten Blutreste aus dem Gesicht wischte, fragte Junhi: «Was sollen wir Uma und Dahs sagen?»

«Dass du einen hässlichen Sturz hattest, als du heute Nacht zum Austreten aus der Wohnhöhle gegangen bist», sagte er. «Du hast ziemliches Pech in letzter Zeit. Zum Glück war ich zufällig auch gerade aufgestanden.»

«Danke, Cramh.»

«Dein Vater war mein Freund. Und jemand muss doch auf dich aufpassen.»