Im Schatten des Löwen

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D as hier war kein guter Traum, Junhi wusste es sofort. Es war Abend. Feuer brannten. In den Träumen der Mutter war es nie Abend. Abends schliefen die Tiere.

Sie schaute um sich. Viele Menschen waren da. Sie standen totenstill, so still, dass sie kaum zu atmen schienen. Als Junhi einen von ihnen vorsichtig berührte, fühlte sich der Mann hart und kalt wie Stein an. Alle steinernen Menschen schauten auf die Stelle, wo das größte Feuer brannte. Alle hatten sie die Hände vor den Mund geschlagen, die Augen aufgerissen. Sie sahen alles, aber sie sagten nichts.

Junhi erschauerte und zwängte sich zwischen ihnen hindurch bis zu der Stelle vor, auf die alle blickten.

Ihr Herz überschlug sich, als sie Uma und Dahs erkannte, ebenso versteinert wie die anderen. Vor ihnen auf dem Boden lag ein Mann. Ein anderer Mann stand über ihn gebeugt wie ein Löwe über seiner Beute. Ein scharfes Messer blitzte in seiner steinernen Hand. Aber der Mann auf dem Boden war nicht aus Stein.

Er keuchte und stöhnte leise, beide Hände auf den Bauch gepresst. Seine Finger schimmerten dunkelrot. Er drehte den Kopf und schaute Junhi geradewegs an. Sie wollte zu ihm, ihm helfen, ihn trösten, denn sie kannte ihn, aber sie konnte sich nicht bewegen. Die steinerne Uma hielt Junhis Arm mit ihren dicken Fingern umklammert.

«Lass los, lass mich los!»

Die Augen des Mannes verdrehten sich in ihren Höhlen. Er wurde schlaff und sein Kopf schlug auf dem Boden auf.

«Nein! Papa!»


Sie waren schon lange fort jetzt, die Jäger. Viel zu lange. Junhi betrachtete die Wand ihrer geheimen Lufthöhle und wischte sich über die Stirn. In der Ferne rief ein Schneehuhn, hoch am Himmel schrie ein Raubvogel. Der Frühling hatte begonnen. Der letzte Schnee war vor zwei Tagen geschmolzen. Langsam wurden das Tal und die Ebene wieder grün. Aber der Wind blieb eisig wie immer. Erst im Sommer würde es etwas milder werden. Und wenn es dann endlich möglich war, gab es nichts Schöneres als die ganzen Fellschichten auszuziehen und eine Brise auf der Haut zu spüren.

Nach Umas Ankündigung der Mammutjagd waren die Jäger nicht sofort losgezogen. Sie mussten neue Speere anfertigen, altes Gerät neu schärfen, Kleidung flicken. Zelthäute wurden gesammelt und gebündelt, sodass sie an Stöcken mitgetragen werden konnten. Am Ufer vor der Wohnhöhle übten die Jäger mit ihren Speeren. Ihre Schreie hatten jeden Tag durchs Tal geschallt, wenn sie ihr Ziel verfehlten. Und auch, wenn sie es trafen.

Am Tag des Aufbruchs der Jäger war es ungewöhnlich dunkel gewesen. Eine graue Wolkendecke hatte die Sonne verborgen. Windstöße peitschten wirbelnde Schneeflocken auf und wehten sie jedem ins Gesicht.

Der Schnee hatte Junhis Blick getrübt, während sie mit dem Rest des Stammes die Jäger auf dem Hang oberhalb der Wohnhöhle verabschiedete. Tukh hatte am Abend zuvor den Jagdtanz aufgeführt, um die Mutter um Hilfe zu bitten, und danach hatte eine der Frauen eine Flöte hervorgeholt und alle mit ihrem Spiel verzaubert. Aus dem Abend war Nacht geworden, aber alle tanzten weiter. Es machte nichts, dass die Jäger am nächsten Morgen in aller Frühe aufbrechen würden. Tanzen brachte Glück und ließ die Sorgen verschwinden.

Aber als der Tag wiederkam, viel zu früh, viel zu schnell, waren die Sorgen auch wieder da. Junhi hatte sich zurückhalten müssen, den Jägern nicht zuzuschreien, dass sie nicht gehen sollten. Sie verstand nicht, warum – hatte sie doch von einer Mutterherde und blutenden Mammuts geträumt. Es würde gutgehen, sie würden mit genügend Fleisch für den Stamm zurückkehren. So konnten sie noch einen Winter hier in dieser Wohnhöhle bleiben. Dahs wusste, was er tat. Die meisten Männer waren erfahrene Jäger. Es gab keinen Grund zur Besorgnis. Ganz und gar nicht.

Junhi legte die Hand auf den Felsen vor ihr. Ihre Wand, ihr Ort, ihre Zeichnungen, ihre Träume. Wenn Tukh wüsste, was er ihr damit geschenkt hatte, wie es alles besser machte! Aber solange Dahs fort war, konnte sie es ihm nicht sagen. Tira war immer in Tukhs Nähe, und Junhi wusste, dass Tukh ein Mann war, der zu seinem Wort stand. Sie musste sich mit den kleinen Präsenten begnügen, die er für sie bei seinem Farbenvorrat hinterließ, aus dem sie manchmal etwas entnahm, wenn niemand hinschaute. Ein Deckelkörbchen, geflochten aus festem Gras, in dem sie ihre Farbe aufbewahren konnte, oder so wie letztes Mal einen kleinen Bären aus gebranntem Ton. Sie hielt das Figürchen in der Hand und spürte, wie es ihre Körperwärme in sich aufnahm, als bräuchte es lediglich noch einen Hauch Atem, um zum Leben zu erwachen.

Wusste Tukh von ihrem Abenteuer in der Mutterhöhle? Sie dachte noch oft an den Bären, der sie beinahe erwischt hätte. Hatte auch er auf die Mutter vertraut, als er die Höhle betrat? Hatte er sie um Schutz gebeten?

Bevor der Junge den Bären mit seinem Geschrei erschreckt hatte, hatte sie ihn berührt. Der Bär war allein, genau wie sie. Sie hatte ihn verstanden und er sie. Sie wusste sicher, er hätte ihr nichts angetan, sondern sie toleriert und ihr seine Geheimnisse erzählt.

Manchmal machte Junhi Pläne, zur Mutterhöhle zurückzugehen und nachzuschauen, ob der Bär noch lebte oder vielleicht doch entkommen war, oder irgendwo in einer Ecke verendet dalag und nichts mehr war als ein stinkendes Gerippe. Tukh musste einfach davon wissen, er musste in der Zwischenzeit in der Mutterhöhle gewesen sein. Weshalb sonst sollte er ihr die Bärenfigur geschenkt haben?

Sie wünschte, sie hätte mit ihm darüber reden können. Zu wissen, dass er ihr zwar helfen wollte, es aber nicht konnte, war schwer. In der Wohnhöhle spürte Junhi fortwährend Umas misstrauische Blicke. Seit die Stammesmutter ihr das Träumen verboten hatte, war Junhi einige Male wie befohlen zu ihr gegangen. Dann erfand sie einen Traum über Wisente und Rentiere und hörte sich brav Umas Erklärungen an, die immer darauf hinausliefen, dass das alles nichts zu bedeuten hatte und sie sich deswegen keine Sorgen zu machen brauchte. Daraufhin nickte Junhi und sagte: «Hab Dank für deine Weisheit, Uma», woraufhin sie sich schnellstmöglich wieder aus dem Staub machte. Natürlich nahm Uma Junhi ihre plötzliche Unterwürfigkeit nicht ab. Die Stammesmutter wusste, dass Junhi etwas vor ihr verbarg, etwas Wichtiges. Aber Junhi war stolz darauf, dass Uma nicht herausgebracht hatte, was das war.

Das verdankte sie auch Ren. Junhi hatte nächtelang wach gelegen und überlegt, wie sie ihn ins Vertrauen ziehen konnte. Nur zu gut erinnerte sie sich an Dahs’ Warnung. Er würde immer einer sein, der sie beobachtete. Ren war der Einzige, den sie bitten konnte, ihr zu helfen. Er war jung, aber er hatte sie nicht verraten, als sich die Gelegenheit dazu bot. Sie vertraute auch Cramh, aber der war mit zur Jagd. Außerdem setzte er sich nur dann für sie ein, wenn es ihm passte.

Einige Tage nach dem Aufbruch der Jäger hatte sie Ren zu dem entlegenen Ort am Fluss mitgenommen, der sich hinter einem Berg aus Steinen und einer einsamen Kiefer mit niedrig hängenden Ästen verbarg. Die Einbuchtung war fast so tief wie eine Wohnhöhle, allerdings mit einer geraden Wand, die in den blauen Himmel aufragte.

Ren war erst erstaunt gewesen, dann böse, dann ängstlich, aber zuletzt hatte er versprochen, Junhi zu helfen. Vielleicht, weil er Angst vor ihr hatte. Oder weil er neugierig auf ihre Träume und Zeichnungen war. Es war einerlei, solange er ihr nur half.

Immer wenn Junhi zu ihrem geheimen Ort wollte, begleitete Ren sie, und beide erzählten den Übrigen, sie gingen Fallen aufstellen oder Knochen sammeln. Ren tat das dann auch wirklich und ließ Junhi in ihrer Lufthöhle allein. Wenn er mit seiner Arbeit fertig war, kam er zurück und schaute stumm zu, wie sie ihre Träume der Felswand anvertraute.

Pferde, Wisente und Rentiere füllten Junhis Kopf mit Freiheit und Kraft. Und immer fühlte sie diese starke Bindung innerhalb der Herde, die über alles ging, die wichtiger war als die Tiere selbst, immer und überall. So, wie ihr Stamm sein sollte. Sie hätten für sie sorgen müssen. Besonders die Stärksten wie Uma und Dahs, aber stattdessen hatten sie sie verraten, sie einsam gemacht.

Sie träumte nicht mehr von dem steinernen Stamm und dem Mann auf dem Boden, aber sie dachte noch oft daran zurück. Warum war dieser Traum gekommen? Warum jetzt? Sie konnte ihn nicht zeichnen. Es war kein Traum der Mutter, der ihr etwas von der Welt und dem Stamm und dem Leben zeigte. Er hatte keine Tiere enthalten, nur Menschen.

In letzter Zeit hatte sie gar nicht mehr so viel an ihren Vater gedacht. Es hatte keinen Sinn, jemanden zu vermissen, der ja doch nicht wiederkam. Das hatte sie mittlerweile gelernt. Musste sie dennoch wieder und wieder erleben, wie sie ihn verloren hatte, vor so vielen Wintern? Sie hatten es geschehen lassen, Dahs und Uma, sie hatten ihren Vater auf dem Boden sterben lassen, als hätten sie darauf gewartet, als hätten sie es gewollt. Und niemand hatte Junhi getröstet, niemand hatte ihr gegenüber jemals noch etwas dazu geäußert, als hätten alle geglaubt, sie würde es vergessen, solange sie es nur nicht erwähnten. Die Leute wollten ohnehin nicht viel mit ihr reden oder ihr zu nahe kommen, als wäre sie krank und ansteckend mit ihrer Einsamkeit.

Cramh beschützte sie, wahrte jedoch Abstand. Dahs und Uma sprachen mit ihr, aber nur, wenn sie etwas Falsches getan hatte. Nur die Kinder, die zu jung waren, um sich an Junhis Vater zu erinnern, setzte sich manchmal zu ihr und baten sie dann um Geschichten oder ein Spiel. Aber auch sie bemerkten, dass etwas mit Junhi war, etwas Eigenartiges, wovon sie nichts verstanden. Junhi hob den Kopf und studierte ihre Lufthöhle. Da war Platz genug für neue Träume. Die Herde der Pferde wurde immer größer, hinzu kamen ein Bär und ein Hirsch. Aber wo waren die Mammuts? Sie hatte erwartet, dass sie von keinem anderen Tier träumen würde, seit die Jäger fort waren. Dass die Mutter sie einen Schimmer von dem auffangen ließe, wie es ihnen erging. Oder ihr erzählen würde, wo die Mammuts waren; in der Nähe oder weit weg. Letzteres würde erklären, warum die Jäger noch nicht zurück waren, warum noch niemand etwas von ihnen gehört hatte. Es dauerte schon viel zu lange.

 

Sie litten keinen Hunger, noch nicht. Es gab genügend Kleintiere, die sie fingen: Vögel und Hasen und Fische, auch zeigten sich mit dem anbrechenden Frühling schon die ersten Kräuter und Blumen. Aber das genügte nicht, um den Stamm bis zum nächsten Winter zu ernähren. Normalerweise wären sie der Rentierherde nach Osten gefolgt. Wisente kamen nicht hierher, und Pferde waren zu unvorhersagbar. Das eine Jahr zogen sie wohl durch das Tal, das andere Jahr nicht. Aber durch Junhis Traum, ihren Traum, hatten Uma, Tukh und Dahs sich dafür entschieden zu bleiben. Was sollten sie tun, wenn die Jäger nicht heimkehrten? Was sollten sie tun, wenn Tukh den Mammuttraum falsch verstanden hatte? Würden sie dann verhungern? Mussten sie dann weiterziehen? Dann würden die Jäger sie nie mehr finden.

Junhi blickte noch einmal auf die Felswand vor ihr und seufzte. Heute gelang es nicht. Gedanken an ihren Vater saßen ihr schon seit Tagen im Weg, wehrten die Tiere aus ihren Träumen und blockierten ihre Hand. Sie packte ihre Sachen ein und begab sich auf die Suche nach Ren.

Der Fluss war ungestüm heute. Das Wasser schoss mit weißen Schaumkronen an den Felsen vorbei. Was hatte Ren noch mal vorgehabt? Sie schirmte die Augen gegen die Sonne ab. Eine Silhouette erschien oben auf der Felskante. Der Löwenmann?

Junhi sah nochmals genau hin.

«Cramh!», rief sie, und gleichzeitig erschien ein zweiter Schatten, der sich langsam und stockend bewegte.

Sie rannte zu einem Stück, wo die Felswand weniger steil war, und kletterte so schnell sie konnte hinauf. Ihr Magen verknotete sich. Die Jäger waren zurück, aber irgendetwas stimmte nicht.

Als sie näherkam, sah sie es. Der zweite Schatten war Dahs. Er stand neben Cramh mit einem stumpfen Blick in den Augen, und seine Armen hingen schlaff an seinem Körper herab. Junhi verlangsamte ihren Schritt.

«Junhi, Mädchen», seufzte Cramh, und zu ihrer Verwunderung umarmte er sie. Er roch nach Schweiß und Blut.

«Was ist passiert?», fragte Junhi.

«Sie sind alle tot. Es gab keine Mammuts, wir konnten sie nicht finden. Aber stattdessen gab es Löwen. Ein ganzes Rudel. Und sie hatten Hunger.»

Sie fühlte, wie Cramh erschauerte, dieser starke Mann, ein erfahrener Jäger.

«Wir konnten nichts tun. Die Löwen haben uns von den anderen getrennt; sie wussten, dass wir die Stärksten waren. Sie haben geschrien, Junhi, die armen Jungen. Sie wurden zerrissen, zusammen mit den Männern, die versuchten, sie zu retten. Ich musste Dahs mit meinem Speer bedrohen, damit er zusammen mit mir die Flucht ergriff. Er wollte sie nicht zurücklassen, aber es war schon zu spät. Zu spät …»

«Ach, Cramh …»

«Weine, so viel du willst. Meine Tränen sind alle.»

«Ich bringe euch nach Hause», sagte Junhi mit zugeschnürter Kehle. «Ihr seid jetzt in Sicherheit.»

Sie nahm Cramh an der Hand und führte ihn zu der Wohnhöhle. Dahs folgte ihnen schweigend, abwesend wie ein Geist.

Sobald sie eingetreten waren, war sie sie los. Leute sprangen auf und bestürmten Cramh und Dahs mit Begrüßungen und Fragen. Schon bald folgten Ausrufe der Trauer. Die beiden Jäger wurden zu Uma geführt, wo der Dämmer sie verschluckte. Junhi blickte verloren um sich. Direkt am Eingang stand Tira. Sie hatte die Aufregung gehört, die Schreie, aber sie konnte nicht schnell aufstehen, und jetzt hatten alle ihren Vater gesehen, nur sie nicht. Einen Moment empfand Junhi Mitleid. Sollte sie zu Tira hingehen? Ihr die Nachricht mitteilen? Sie machte einen ersten Schritt, aber da bemerkte Tira sie. Der Blick, den das Mädchen ihr sandte, war wie eine Speerspitze. Junhi floh aus der Höhle.

Weg. Alle weg. Die besten Jäger des Stammes. Die Jungen aus der Mutterhöhle. Der Bär hatte sie nicht erwischt. Aber dafür die Löwen.

Wie konnte das sein?

Mein Traum.

Es war ihr Traum gewesen, der sie in den Tod geschickt hatte. Aber sie hatte die Mammuts doch gesehen! Der Hirsch und der Löwenmann hatten ihr die Herde gezeigt! Was hatte sie falsch gemacht? Was hatte sie nicht verstanden? Sie musste Tukh sprechen. Bei Tira in der Wohnhöhle war er nicht gewesen. Vielleicht war er in seiner Lufthöhle am Fluss.

Normalerweise beruhigte sie das Geräusch dahinfließenden Wassers, aber diesmal nicht. Sie wollte, dass es aufhörte. Sie wollte, dass alles aufhörte. Ihretwegen waren die Jäger jetzt tot. Uma hatte recht gehabt. Sie wollte schreien, sie wollte brüllen, schlagen, treten.

«Tukh!», rief sie. «Tukh, wo bist du?»

«Junhi!»

Seine Stimme klang hohl.

«Tira kann dich hören. Wir hatten eine Vereinbarung!»

Er trat aus dem Schutz seiner Lufthöhle und musterte sie streng, aber als er ihr Gesicht sah, veränderte sich sein Blick und er schnellte zu ihr hin.

«Was ist passiert?»

«Dahs und Cramh sind zurück. Es gab keine Mammuts, sondern Löwen, Tukh, und es ist meine Schuld! Alle anderen sind tot! Es war mein Traum, und er war falsch! Was soll ich tun, Tukh? Was soll ich tun?»

Erst sagte er nichts. Seine Augen waren leer, während er die Nachricht in sich aufnahm.

«Ach, Mädchen», sagte er dann und zog sie an sich. Junhi ließ ihre Stirn auf seiner mageren Schulter ruhen.

«Ich bin dumm gewesen. Vielleicht … Ja. Es ist Zeit.»

Er nahm ihr Gesicht in seine beiden Hände und sah sie eindringlich an. Dann drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn.

«Tukh …»

«Kein Aber. Du gehörst jetzt mir. Ich werde mit Uma sprechen. Und mit Tira. Hab keine Angst, Junhi. Ich hätte das schon früher tun sollen. Nicht du, sondern ich bin für den Tod dieser tapferen Jäger verantwortlich. Ich hatte beschlossen, Uma und Dahs deinen Traum zu erzählen, und sie davon überzeugt, ihn zu befolgen. Merke dir für den Rest deines Lebens, dass das hier nicht deine Schuld war. Versprich es mir.»

«Ich verspreche es.»

Sie sagte es so leise, dass es beinahe nicht zu verstehen war.

«Lauter.»

«Ich verspreche es», sagte sie.

«Lauter!»

«ICH VERSPRECHE ES!»

Ihre Stimme schallte über den Fluss.

«Sehr gut», sagte Tukh. «Ich muss jetzt zu Uma. Warte hier. Komm zur Ruhe. Ich werde Ren schicken, dich zu holen, wenn es Zeit ist. Bereite dich vor, Junhi. Du musst stark sein und darfst dich den bösen Worten und kalten Blicken nicht beugen. Wenn du stark bist, werde ich es auch sein, stark genug, um Uma und Dahs einsehen zu lassen, dass du deine Träume nicht einfach so stoppen kannst. Und dass du meine Hilfe brauchst.»

«Warum tust du das, Tukh?»

«Weil deine Träume gefährlich sind», antwortete er. «Für den Stamm und auch für dich.»

Dann drehte er sich um und eilte zur Wohnhöhle.

Tukhs Kuss brannte auf Junhis Stirn. Der Kuss des Träumers. Genau das hatte sich Junhi gewünscht, seit ihre Träume anfingen, seit sie ihre Eltern verloren hatte … Aber warum hatte Tukh mit seinem Kuss nicht gewartet? War das wirklich der richtige Moment, den Stamm noch mehr in Verwirrung zu stürzen und Uma und Dahs gegen sich aufzubringen, während sie alle so trauerten? Tukhs Worte geisterten ihr weiter durch den Kopf.

Deine Träume sind gefährlich.

Tukh hatte ihr den Kuss nicht gegeben, weil er ihn ihr gönnte oder es gewollt hatte, sondern weil er musste. Weil sie sonst mit ihren Träumen noch mehr Tote verursachen würde. Das sorgte nicht dafür, dass sie sich besser fühlte.

Mit einer Fingerspitze betastete sie vorsichtig die Stelle direkt über ihren Augenbrauen. Verwundert betrachtete sie anschließend die rote Farbe an ihrem Finger.

«Nicht berühren», klang plötzlich eine Männerstimme. «Nicht, bevor alle dich gesehen haben!»

«Cramh! Wo ist Ren? Er sollte mich holen kommen.»

«Ren ist aus der Fassung. Ich wollte ihn so nicht gehen lassen.»

Cramh starrte auf Junhis Stirn.

«Tukh erzählte mir, was er getan hat. Ich weiß nicht, ob es eine vernünftige Idee ist, aber ob Uma und Dahs so vernünftig sind, weiß ich auch nicht. Also wer weiß.»

«Wie geht es … allen?»

«Wie du dir wohl vorstellen kannst. Alle sind traurig, böse und durcheinander. Tukh hat noch nie jemanden in den Tod geschickt. Keiner versteht, wieso das geschehen ist. Und Dahs hat noch nichts gesagt, seit er zurück ist, auch nicht zu Tira. Sie ist in Panik.»

«Können wir noch etwas warten, bevor wir zurückgehen, Cramh?»

Cramh schüttelte den Kopf. «Tukh bat mich, dich sofort mitzubringen. Bestimmt hat er einen Plan. Auch bat er mich, dich an dein Versprechen zu erinnern. Ich weiß nicht, was das beinhaltet, aber denk an dein Versprechen, Junhi. Und jetzt gehen wir.»

Stark sein. Sie sollte sich nicht schuldig fühlen und stark sein. Sie hatte nicht gedacht, dass es so schwierig sein würde, sich an dieses Versprechen zu halten. Aber Tukh wollte eine Träumerin aus ihr machen. Sie musste jetzt zeigen, was sie wert war. Sie musste zeigen, dass sie nicht nur gefährlich war, sondern eine gute Träumerin sein und dem Stamm in schwierigen Zeiten helfen konnte, wenn Tukh einmal nicht mehr war.

Ich werde für den Stamm sorgen, wie dieser nie für mich gesorgt hat.

Noch nie hatte der Vorhang zur Wohnhöhle so bedrohlich ausgesehen. Cramh schob ihn mühelos zur Seite. Er sagte nichts, sondern bedeutete ihr durch Gesten, einzutreten. Mit geschlossenen Augen überschritt Junhi die Schwelle. Als sie die Augen wieder öffnete, war Cramh verschwunden. Alle starrten sie an. Als ob ihnen erst jetzt wieder klar geworden wäre, dass es Junhi gab. Langsam ging sie weiter in die Höhle hinein, zu den Schatten, durch die sie nicht hindurchsehen konnte, wo Uma war, und Tukh und wer weiß wer noch. Sie fühlte, dass sich der Dämmer hinter ihr schloss, sie vor den Augen des Stammes verbarg. Vielleicht würden sie gleich den Kopf schütteln und vergessen, was sie gesehen hatten, als wäre Junhi mit dem roten Kuss nur ein Traum gewesen.

«Junhi.»

Umas Stimme war kalt.

«Uma», antwortete Junhi.

«Es stimmt also. Er hat dir den Kuss gegeben.»

«Ja, Uma.»

Junhis Blick gewöhnte sich langsam an die Dunkelheit, und sie sah Umas umfangreiche Konturen, den Kopf bedeckt mit einem feinen Netz mit kleinen Felsmuscheln. Unter den Augen waren mit schwarzer Holzkohle Striche angebracht; das Zeichen der Trauer. Tukh stand neben ihr, Dahs an der anderen Seite. Er schaute mitten durch sie hindurch.

«Tukh hat uns alles erzählt», fuhr Uma fort. Junhis Herz stand für einen Moment still. «Ich hatte dich gebeten, nicht mehr zu träumen. Danach hatte ich dir befohlen, nicht zu träumen. Aber hörst du auf mich? Nein. Du träumst einfach weiter, du besuchst Tukh und erzählst mir irgendwelche Ausreden.»

«Uma –»

«Halt! Ich will deine Stimme nicht hören.»

«Es tut mir leid», sagte Junhi und beugte den Kopf.

«Ich glaube dir nicht», sagte Uma kalt. «Aber deshalb bist du nicht hier. Tukhs letzter Traum hat … hat gesorgt für …»

Uma blickte seitwärts zu Dahs, aber der reagierte nicht.

Stark sein, dachte Junhi.

«Tukh befürchtet, dass er zu alt wird, um der Träumer des Stammes zu sein», fuhr Uma fort. «Dass er nach vielen Wintern seine Träume nicht mehr richtig deuten kann. Natürlich hat er Tira.»

Die Stammesmutter zögerte.

«Aber Tira ist … nicht genug. Sie braucht jemanden, der ihr hilft. Jemand, der stark ist und weiß, was es bedeutet, ein Träumer zu sein. Tukh erwählt dich.»

Junhi schwieg.

«Komm her», befahl Uma.

Möglichst langsam kam Junhi näher. Uma griff sie am Mantel und zog sie zu sich. Sie umfasste Junhis Kinn und betrachtete Tukhs Kuss auf ihrer Stirn.

 

«Vergiss nicht, Junhi: Du bist die Nummer zwei. Du bist nur dazu da, um Tira zu helfen. Wenn Tukh nicht mehr träumen kann, wird Tira die Träumerin des Stammes sein. Wage es nicht einmal zu denken, sie zu übergehen. Sonst bekommst du es mit schlimmeren Dingen als mit mir zu tun. Verstanden?»

Junhi schluckte, doch dann fasste sie sich. Beuge dich nicht vor bösen Worten und kalten Blicken, hatte Tukh gesagt.

«Ja, Uma. Ich werde es mir merken.»

«Und du, Tukh», sagte Uma, ohne sich nach ihm umzudrehen. «Du auch. Tira ist deine Nachfolgerin. Vergiss das nicht.»

«Natürlich nicht, Uma», antwortete Tukh ruhig. «Junhi ist nur dazu da, zu helfen.»

«Sehr gut.» Sie ließ Junhi los und seufzte. «Wir haben nicht einmal Knochen, die wir begraben könnten.»

Noch nie hatte Umas Stimme so traurig geklungen.

«Ihr könnt gehen. Alle.»

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