Jan und Jutta

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Mine, die Dralle, wälzte sich um jene Zeit des Nachts oft in ihren Kissen und kam in den geheimen Stunden, über die sich der dunkle sternenübersäte Maihimmel spannte, nicht mehr von dem Gedanken los, daß sie die erste Umarmung des kaltherzigen Zimmerers genießen müsse. Mine war weder prüde noch intrigant. Es wäre ihr schnöde erschienen, ihren Freund, den Schmiedegesellen, über das geplante Abenteuer im unklaren zu lassen, und sie weihte ihn eines Abends ein, als der Schnaps seine Wangen schon gerötet hatte. Er schlug mit der Faust auf die Platte, so daß der gescheuerte Tisch zu hüpfen schien, und war bereit, mit Mines krätzebehafteter Freundin Wache bei der Dorflinde zu stehen, während Mine heimlich in das bewußte weinumrankte Fenster einsteigen würde.

Die Abendluft war voll des betäubenden Dufts der Lindenblüten und von elektrischen Strömen geschwängert, die im aufsteigenden Dunste des feuchten Bodens ihr Wesen trieben. Der Mond schien; verführerisch und ironisch leuchtete sein Halbgesicht, und Mine lachte ihre melodischen Kadenzen schneller und vielfältiger, als ob eine Hand über ihre Nerven wie über Saiten streiche. Sie wußte selbst nicht mehr, ob sie einen Jungen zum besten halten, einen Mann lieben oder einen Burschen verführen wollte. Erinnerungen an alle ihre Erlebnisse, ihre tollen, verdorbenen und dennoch tierisch kräftigen Gefühle tanzten und huschten in ihr und verwirrten die Reste ihres geringen Verstandes.

Mine stieg leise durch das Fenster ein …

Jan ahnte durchaus nichts von den Genüssen des Lebens, die ihm in dieser Nacht zugedacht waren. Er war froh, als der Krauter, dessen bösartiges und lauerndes Schweigen den ganzen Tag auf ihn gedrückt hatte, vom Tische verschwand und sich offenbar schon zur Ruhe legte. Jan ging in den Stall, und so, wie die Meisterin ihm zuweilen einen Teller Suppe heimlich zuschob, gab er den abgetriebenen, vom Peitschenstock geschundenen Gäulen noch heimlich einen Arm voll Heu extra. Die beiden Braunen kannten schon Jans Schritt, und wenn er in den Stall kam, wurden sie nicht mehr unruhig. Jan strich dem Handpferd noch einmal über die Kruppe. Dann schritt er ohne Eile seinem Zimmer zu und machte die Tür auf.

Bleiches Mondlicht fiel durch das geöffnete Fenster in den dunklen Raum. Jan blieb an der Schwelle stehen. Er wußte selbst nicht, warum sein Fuß stockte, aber irgend etwas, zum Teufel, war doch hier verändert? Jan, den der ausgesprochene Sinn für Ordnung und Form beseelte, war in seiner Art ein Pedant; er haßte es, wenn andere seine Sachen anrührten, geschweige denn etwas unerlaubterweise umgruppierten. Heute aber war offensichtlich sein Bett anders gebaut, als er es des Morgens gerichtet hatte. Es war … wenn ihm nicht gar jemand Kletten … oder die Hauskatze …

Was sich weiter abspielte, ist nur dem Halbgesicht des Mondes bekannt geworden, und der Mond hütet bis heute sein Geheimnis.

Irdische Berichte konnten sich lediglich auf das ungeziemende Verhalten des Schmiedegesellen und seiner krätzebehafteten Begleiterin stützen. Die beiden schrieen unter den Linden plötzlich auf und brachen in ein kreischendes Gelächter aus, das bei dem Schmiedegesellen nur durch einen Kinnbackenkrampf, ausgelöst durch das Aushaken des Unterkiefers, auf eine ebenso wirksame wie plötzliche Art beendet werden konnte.

Mine war, wie Gott und reichliche Speckmahlzeit sie geschaffen, mit einem großen Satz aus dem grün umrankten Fenster gesprungen und hinter der nächsten Deckung verschwunden. Ihre Kleider flogen ihr in hohem Bogen nach.

Nur in völliger Unkenntnis dieses grundlegenden Ereignisses, das bestimmend blieb für gewisse kalte und feindselige Beziehungen zwischen Jan und Mine, konnte es eineinhalbes Jahr später beim herbstlichen Erntefest des Nachbardorfes zu einigen Irrungen und Wirrungen kommen.

Jan war in diesem Herbst des Jahres 1920 wieder einmal Lehrling und Geselle seines Krauters zugleich. Detjen, der Altgeselle, den Jan erst drei Wochen nach Antritt seiner Lehrstelle kennengelernt hatte, war nach einer jener heftigen Szenen mit dem alten Schöning, wie Jan sie nun schon zur Genüge erlebt hatte, von der Arbeit weggeblieben. Als daher der Krauter den Auftrag erhielt, das große Festzelt in der Nachbargemeinde aufzustellen, fiel Jan dabei der schwierigste Teil der Arbeit zu.

Die Herbstsonne schien. Es war noch warm, fast konnte man von jener schwülen Wärme sprechen, wie sie Sommertagen eigen sein kann, wenn nicht ein milderer, zuweilen schon kühler Luftzug an das heraufziehende Ende der schönen Jahreszeit erinnert hätte. Im Westen stand eine graue Wolkenbank, und die Bauern, denen alle Zeichen der Witterung vertraut waren, rechneten mit herbstlichem Sturm und Regen. Um so freudiger wurde es begrüßt, daß das große Festzelt am Sonnabend noch unter blauem Himmel aufgestellt werden konnte. Vom Dorfe her kamen schon die Neugierigen, die dem Zeltbau zusahen, und sie erblickten hoch oben in der luftigen Höhe den Burschen, der sicher wie ein Artist auf dem Firstbalken des Gerüstes stand und Schritt für Schritt vorging, um die Dachsparren zusammenzufügen.

Der Wind umwehte ihn bei seiner halsbrecherischen Arbeit. Zuweilen trat ein plötzlicher Windstoß ein, der Jan fast aus dem unsicheren Stand warf und ihn zwang, für Augenblicke mehr an die Verteidigung des Gleichgewichtes gegen die Naturgewalt als an die Arbeit zu denken. Unten auf der Wiese stand der Krauter und sah kritisch zu; Walter Schöning hatte es eilig mit dem Zeltbau, und es war seinen Gehilfen schwer, ihm die Zeit für die sorgfältige Ausführung aller notwendigen Stützen und Sicherungen des großen Zeltes abzutrotzen.

Als Jan wieder hinunterkletterte und mit einem Sprung auf dem Boden landete, geriet er unversehens in eine Gruppe von Burschen aus der Nachbarschaft der Zimmerei; auch der Schmiedegeselle befand sich unter ihnen, und da jeder wußte, daß das Essen für die Lehrlinge bei Schöning knapp und Jan schlecht bei Kasse war, wurde er so rauh wie herzlich begrüßt und für den Festtag zum Biere eingeladen.

So saß Jan am folgenden Nachmittag mit den anderen auf der Holzbank am Holztisch unter dem Schutze des Zelts, an dem auch er gebaut hatte. Die mächtigen Töne der Blasmusik beschwingten die festlichen Gefühle, das Bier rann durch die Kehlen und machte die Durstigen durstiger; der Tanz der Burschen und Mädchen begann schon am Nachmittag und währte bis in die Nacht hinein. Immer heißer wurden die Körper, lauter das Lachen, kecker die Worte. Die Füße stampften, die Röcke flogen, Brust drängte sich an Brust, und in den Biergeruch mischte sich der schärfere des Schweißes und des Tabaks. Zu immer helleren Tönen lief das gluckernde Lachen Mines. Diese dicke Dirn tanzte gut. Sie ging von einem Arm in den anderen. Sie kicherte, und ihr ganzer Körper dünstete Begehrlichkeit. Wie es in der betrunkenen Wut der jungen Männer dann geschehen war, konnte später keiner sagen, aber plötzlich schlug sich der Schmiedegeselle mit einem Burschen des Festdorfs, einem grobschlächtigen Menschen, Sohn eines reichen Bauern, wie alle wußten. Dessen Freunde mischten sich ein. Gläser klirrten und splitterten. Es war, als ob mit Plötzlichkeit das Gewitter losbreche, auf das die Spannung der Übermütigen gewartet hatte. Bänke wurden zerbrochen, und die Messer blitzten. Das Festzelt war im Nu erfüllt von einem höllischen Gewühl, und die Menge der Raufenden drängte ungestüm gegen die eingerammten Stangen und die Zeltwände, die von Pflöcken und Stricken gehalten wurden. Gebrüll und einzelne Schreie hallten durch den Tabaksqualm. Der Zelteingang wurde aufgerissen. Von draußen pfiff der Herbststurm mit einem kalten Schauer in die überhitzte Atmosphäre. Die Zeltleinwand, die von den Ringenden, Stolpernden, Fliehenden hinausgedrückt wurde, bauschte sich unter der Gewalt des von außen und innen angreifenden Luftdrucks bald noch stärker hinaus, bald herein.

Jan war äußerlich ruhig geblieben. Er begriff die Gefahr, denn er vermochte ein Zelt zu bauen und konnte berechnen, was es vertrug und was geschehen konnte, wenn es zusammenbrach. Die betrunkenen, rasenden, schreienden, blutenden Burschen und die kreischenden, fliehenden Mädchen, die das erregte Durcheinander und das Gedränge nur verstärkten, verwirrten ihn nicht. Er dachte an das Zelt, und als er einen ordnenden Ruf vernahm, der schwach über das Kampfgewühl klang, stieß er vor und drang durch das Knäuel der Wütenden durch. Seine Fäuste, die die Sense geführt und das frische Rundholz geschleppt hatten, waren allen gewachsen, vielen überlegen. Keuchend, mit wirrem Haar und geröteter Stirn kam er bei der Gruppe an, aus der der Ruf ertönt war. Dort fanden die wenigen Nüchternen unter dem Kommando des Bürgermeisters sich eben zusammen und faßten sich an den Händen, um eine Kette zu bilden. Jan reihte sich ein, und dann ging es voran, Schritt um Schritt.

Der Zeltraum wurde »gefegt«, während draußen der Sturm immer stärker heulte.

Ein Teil der Festgäste kam zu sich, sobald die Reihe der Ordnung vordrang. War die Räumung des ersten Drittels ein Kampf gewesen, bei dem auch Jan mit den anderen seine Fäuste und Füße gebrauchen mußte, so leerte sich das letzte Drittel des Zeltraumes fast von selbst. Die Möglichkeit eines großen Unglücks war ausgeschaltet.

Der Bürgermeister lüftete den Hut, den er während des gesamten Kampfgedränges nicht vom Kopfe verloren hatte, und nickte seinen Helfern zu. Auch Jan traf ein anerkennender Blick. Die Ordner schauten sich um. In dem großen Zeltraum waren viele Bänke umgerissen, Tische zerstört, umgeschüttetes Bier tropfte herab, und Gläser mit zersplittertem Rand lagen auf dem Boden. Die Musiker der Blaskapelle saßen noch auf dem Podium, die großen Trompeten in den Händen, als warteten sie auf ein Zeichen ihres Dirigenten, um den Tusch auf die Zerstörung zu blasen. Aber der Dirigent wischte sich nur den Schweiß von der Stirn, trank einen letzten Rest abgestandenen Bieres aus und wies dann mit ausgestrecktem Arm auf die Zeltwände, die sich unter der unheimlichen Gewalt des Windes immer stärker blähten. Er klopfte ab, als ob die Musik bis dahin gespielt habe, die Mitglieder der Kapelle verwahrten schleunigst ihre Instrumente und verschwanden aus dem sturmgefährdeten Zelt. Es war eine sonderbare Szene, und der Bürgermeister und seine Helfer lächelten erstaunt und schüttelten den Kopf. Wenn man jetzt durchs Zelt schaute, wirkte es wie ein ödes, verlassenes Schlachtfeld; von Freude und Wut war nichts übriggeblieben als der bittere Nachgeschmack.

 

Jan hielt mit einigen anderen bei dem Festzelt Wache, bis der Sturm nachließ. Nach Mitternacht überdeckten die Wolken alle Sterne; es wurde stockfinster und begann zu regnen. Der Wind legte sich endlich. Die Gefahr war vorüber. Jan holte sein Rad und fuhr auf der Landstraße heimwärts.

Er war müde von Arbeit und Bier und mußte auf den Weg achten, der in Nacht und Regen durch den Schein der Fahrradlaterne nur jeweils auf einige Meter undeutlich sichtbar wurde. Als er in der nächtlich einsamen Landschaft die halbe Strecke zurückgelegt haben mochte, rührte es sich plötzlich im Buschwerk, das die Landstraße rechter Hand begleitete. Jan bemerkte es und trat auf die Pedale, um schneller vorwärts zu kommen. Aber zu spät. Drei Burschen sprangen aus dem Versteck, und ehe Jan entweichen und abspringen konnte, wurde sein Rad mit einem kräftigen Fußtritt umgeworfen. Jan flog auf die Straße und fiel hart auf. Die drei Angreifer sprangen herbei. Aber Jan hatte sich schon wieder aufgerafft, und sein einziger Gedanke war, daß er das Rad retten müsse, das ihm nicht gehörte und das er niemals bezahlen konnte. Er ging vor, um der größten und breitesten der drei Schattengestalten zu Leibe zu rücken. Da machten die anderen schon kehrt. Ein einziger drehte sich bei der Flucht noch einmal Jan zu; es war derselbe, der das Rad umgeworfen hatte. Jan erkannte ihn; er gehörte in das Nachbardorf, war Mines Tänzer und der erste gewesen, der mit dem Schmiedegesellen handgemein wurde. Auch dieser schien keine Lust zu haben, mit Jan in der Nacht weiter anzubinden, und verschwand wie seine Kumpane in Finsternis und Regen.

Jan holte sich das Rad wieder und untersuchte es. Es hatte keinen Schaden genommen, und der siebzehnjährige Lehrling fuhr unbehelligt vollends nach Hause. Die blutunterlaufene Stelle an der Hüfte hinderte ihn am nächsten Tage nicht an der Arbeit, obwohl er sich eingestehen mußte, daß er sie kräftig spürte.

Jan vergaß den feigen Angriff nicht. Es war nicht seine Art, zu vergessen. Ein Jahr später, im Herbst 1921, als das Erntefest in dem Dorfe des Zimmermeisters gefeiert wurde, ging Jan hin und sah sich die Festgäste an. Derjenige, den er suchte, war unter ihnen. Jan ließ ihn nicht aus den Augen. Das Leben und Treiben am Festabend führte die Gelegenheit herbei, die er suchte. Die Burschen und Mädchen hatten sich auf den Dorfwegen zerstreut, und bei den Linden, durch deren breite Kronen die Nachtluft wehte und rauschte, bildeten sich kleine Gruppen. Wolken zogen über den Mond und ließen dessen bleichen Schimmer bald frei über Straßen, Bäume und Menschen gleiten, bald verbargen sie das große Nachtgestirn und hüllten damit alles in ungewisse düstere Schatten.

Die grobschlächtige, große Figur des Bauernsohnes aus dem Nachbardorf bewegte sich von der einen Gruppe der Festteilnehmer fort, und ihr Schattenriß kam langsam, ganz für sich allein, schräg über eine Wiese. Vielleicht suchte er Mine.

Jan steuerte auf seinen Gegner zu. Als er ihm unmittelbar gegenüberstand, hielt der andere den Schritt an. Es schien noch ungewiß, ob er Jan erkannt hatte.

»Wir machen es jetzt aus«, sagte Jan mit unterdrückter Stimme. »Das vor einem Jahr. Du hast mich vom Rad geworfen.« Beim letzten Wort packte Jan den Kerl mit seinen Fäusten an und zwang ihn augenblicks in die Knie, obwohl der andere einen halben Kopf größer und an Gewicht nicht leichter war als Jan.

Jan hatte sich ein Jahr lang auf diesen Moment gefreut; er wollte dem heimtückischen Burschen eine Tracht Prügel verabfolgen.

Da drang ein unerwarteter Ton an sein Ohr. Jan stockte. Was war das?

Der Mond hatte soeben wieder ein Wolkentor gefunden und grinste mit seiner farblosen Helligkeit in das Gesicht des fremden Burschen, der gezwungenermaßen vor Jan kniete.

Jan schaute in das Gesicht des andern.

»Phh-hh«, sagte er dann tief enttäuscht und ließ los. »Mann … heulen?«

Jan steckte die Hände in die Hosentaschen, drehte seinem Opfer den Rücken und ging langsam über die Wiese davon. Heulen? Nee … Nee … Nicht einmal verprügeln konnte man solch einen Schuft. Schade.

Als Jan zum Wiesenrain kam, strich etwas an ihm vorbei, zärtlich und leise, wie eine Katze um die Beine streicht. Jan pfiff. »Geh«, sagte er dann vor sich hin, »geh, auf der Wiese sitzt er. Aber vergiß nicht, ein sauberes Taschentuch mitzunehmen, wenn du eins hast.«

Es antwortete ein Ton, als ob ein Rad kreische. Dann war Mine verschwunden.

Um die Mitte dieser Nacht pirschte sich der Schmiedegeselle an Jan heran; er war ausnehmend guter Laune und lud den jüngeren ein, zu einem Rendezvous mitzukommen. Jan sagte in einem Anflug von Galgenhumor zu.

Es ging zu einem entfernten Hause des Dorfes, das schon in tiefem nächtlichem Frieden lag. Alle Fenster waren dunkel, der Haustürschlüssel abgezogen. Der Schmied ging vorsichtig zur Scheune, zog den Holzriegel aus dem Tor und drang ein. Jan wartete, bis der andere mit der Leiter wiederkam.

Ein letzter Blick ringsumher … die Einbrecher oder Liebesleute waren unbeobachtet. Der Schmied stellte die Leiter an und stieg Sprosse um Sprosse zu einem blumengeschmückten Fenster empor. Leise öffneten sich die Fensterflügel. Die Blumentöpfe wurden beiseite gestellt. Dann begann ein Geflüster, und Jan beobachtete eine Frauenhand, die dem Schmied einen Schnaps kredenzte. Der also Begrüßte legte den Kopf in den Nacken und trank, dann stieg er ins Fenster ein und winkte Jan, mitzukommen. Die Leiter blieb stehen.

In dem Zimmerchen befand sich ein Bett, das für den Rest der Nacht drei Personen zum Lager dienen mußte. Jan war taktvoll genug, die Augen zu schließen und sich auf seine Ohren zu verlassen.

Die Folgen dieser eigentümlichen Kollegialität zeigten sich in den nächsten Wochen vor allem in einer Scheu des Lehrlings Jan Möller, seine Hände sehen zu lassen. Er brauchte geraume Zeit, bis er sich der freundlichen Meisterin offenbarte, die ihm mit einer unfehlbar wirkenden Salbe gegen Krätze zu helfen vermochte.

Seine Vorstellungen über Mädchen faßte Jan nach diesen Abenteuern dahin zusammen, daß gebrauchte Ware zumeist Schund sei. Nur frisch vom Bäcker dufteten die Brötchen gut.

So verliefen die Feierabend- und Festtagserlebnisse Jans zuweilen heiter und niemals ungünstig. Sein Alltag aber war düster und selbst für einen starken Menschen kaum zu ertragen. Zwar fühlte sich Jan auch hier noch glücklich, solange er mit dem Holz allein war. Nach einem halben Jahr Lehrzeit verstand er sich schon auf das Wesentliche aller Arbeiten. Er tat draußen im Wald die uralte Arbeit des Holzfällers; seine Arme schwangen die Axt, und die Eiche zitterte bis in den Wipfel. Er lud das Holz auf und führte die Gäule über abschüssige und morastige Wege. Er schälte die Rinde ab und lernte, den Stamm mit dem Beil zu behauen, bis der Balken vierkantig für den Hausbau bereitlag. Er stapelte das Holz zum Trocknen, und seine starken und gewandten Hände »spielten« mit dem Gewicht der Bretter, Bohlen und Balken. Jan kannte rasch alle Holzarten, die für die Zimmerei gebraucht werden konnten. Er freute sich, wenn ihm edles Holz unter die Hand kam; und er dachte daran, daß Häuser und Scheunen, deren Fachwerk und Dachstuhl aus trockenem Holz zuverlässig gebaut waren, jahrzehnte- und jahrhundertelang stehen und dem Leben und Schaffen der Menschen dienen konnten.

Tagelang arbeitete Jan mit dem jungen Schöning zusammen an dem hohen Sägebock, über den der zugerichtete Stamm gelegt wurde. Der kleine Schöning stand oben auf dem Stamm, der größere Jan unten, und sie führten gemeinsam die lange Säge, um Brett für Brett fadengerade aus dem Stamm zu schneiden. Der Faden wurde mit Kreide geweißt oder mit verkohltem Eschenholz geschwärzt, gespannt und dann mit der Hand gefaßt und geschnellt – »geschlagen« –, so daß sich auf dem Holz der gerade Strich des Kreide- und Kohlenstaubs abzeichnete. Hin und wieder tauchte der Krauter auf. »Bist du auf der Kreide?« pflegte er zum Sohn hinaufzurufen, und der junge Schöning antwortete regelmäßig im gleichen Tonfall: »Grad daneben!« Dann runzelte der Krauter die Stirn, ungewiß, ob er zum besten gehalten werde oder nicht, brummte etwas Unverständliches oder fluchte laut, je nach seiner Laune, und verschwand in absehbarer Zeit wieder.

Einmal ergab es sich, daß der Krauter Walter Schöning in jenem Dorfe, in dem Jan zuletzt als Hirt und Ackerknecht gedient hatte, einen Auftrag erhielt. In jenen Tagen empfand Jan in besonderem Maße, daß er etwas gelernt und daß sein Leben sich dadurch verändert hatte. Handwerker, die der Bauer brauchte und die ihr Fach verstanden, hatten im Dorfe ein gutes Ansehen. Aber Jan fühlte in diesen Tagen zugleich, wie einsam er geworden war. Wohl grüßte ihn dieser oder jener, wohl gab es da und dort ein paar Worte und ein Erinnern, aber diejenigen, an die Jans Erleben im Jahre des Knechtsdienstes gebunden war, Jochen, Liese, die anderen Kollegen, sie waren gegangen, in alle Winde verstreut.

Bei dem Krauter Walter Schöning aber hatte Jan keinen Menschen gefunden, an den sich sein junges, kräftiges Gefühl auf irgendeine Weise, als Verehrung des Älteren, als Freundschaft mit dem Gleichaltrigen oder als Liebe, anschließen konnte. Die Herrschaft des Krauters lag über dem ganzen Hause wie ein nebliger Novemberschatten, der schon frostreif macht und das Licht verdrängt; besonders aber verdunkelte er Jans Dasein.

Der Krauter haßte den Jungen im Grunde, wie ihm überhaupt Mensch und Tier verhaßt waren. Nie gaben ihm die Gäule an Kraft genug her. Er trieb sie des Morgens schon mit der Peitsche aus dem Stall; er schlug und trat sie, fluchte und riß am Zügel. Er zog die Bremse zu spät, wenn es abwärts ging; er nahm das Tempo zu scharf, wenn die Straße anstieg; er belud die Wagen schwer und gab den Tieren seinen Zorn zu fühlen, sobald er selbst in einer scharfen Wegbiegung nicht umsichtig genug gelenkt hatte. Dieser Mann mit den Fuchsaugen und der breiten, aber niedrigen Stirn war unter den wortkargen Bewohnern der Geest der schweigsamste. Niemand sollte wissen, was in seinem Kopf vorging, aber auf seinem Gesicht stand es geschrieben, in seinen Flüchen wurde es laut, daß er nur an seinen Besitz dachte und daran, daß Mensch und Tier seine Feinde waren, weil sie ihm nicht soviel Kraft zur Arbeit hergeben konnten, wie er bei ihnen holen wollte. Der Krauter hatte Jan kaum begrüßt. Von der ersten Stunde an dachte Walter Schöning nichts anderes, als daß dieser neue Lehrling »auch so einer« sei, der mehr essen wollte, als er verdient hätte, und weniger leisten würde, als Schöning zu verlangen gedachte. Der Meister war bissig wie ein verärgerter Hund aus einem Widerspruch heraus, über den er durchaus nicht Herr werden konnte und in dem er sich immer wieder mit steigender Wut verfing. Er, der Meister, mußte nicht nur dulden, er mußte selbst dazu beitragen, daß ein fremder Junge sein Handwerk erlernte; damit wurde der Lehrling auch sein Konkurrent in allen Kenntnissen und Fertigkeiten des Zimmerers. Schöning verlangte von Jan sämtliche Arbeiten; er erklärte ihm jedoch nichts und ärgerte sich täglich, daß Jan trotzdem alles verstand. Aus diesem Grunde war vom ersten Tage an Feindschaft gesetzt zwischen Meister und Lehrling. Jan erging es dabei nicht anders als dem Krauter. Wie der Alte ihn haßte, so haßte er den Alten, der ihm weder Essen noch Auskunft gönnen mochte. Wie der Alte den Jungen brauchte, um ihn für sich arbeiten zu lassen, so brauchte der Junge den Alten, um etwas zu lernen. Die beiden haßten einander und waren trotzdem unlöslich aneinander gebunden; eben dies erbitterte sie noch mehr. Walter Schöning war der geschickteste und zuverlässigste Zimmermeister weit und breit und Jan der beste Lehrling, der es bald mit einem jeden Gesellen aufnehmen konnte. Aber wenn sie einander des Morgens begegneten, so schlossen sich einem jeden die Lippen, die Augenlider senkten sich halb, um nur den andern nicht zuviel zu sehen, und in die Stirn legten sich die Falten der Abwehr beim Jungen, der Mißgunst bei dem Alten. Der Krauter hatte sich allgemach an solches Wesen gewöhnt; in Jahrzehnten war ihm die Atmosphäre der Feindschaft und Gehässigkeit zu einer Gewohnheit geworden, aus der hinauszukommen er gar nicht mehr bestrebt war. Er hatte diese Luft um sich geschaffen; sie war die Ausdünstung seines einseitigen Wollens und Denkens, und er paßte sich ihr an, sie war sein Lebenselement geworden. Jan aber war jung und leidenschaftlich. Er wollte wachsen und gedeihen, schaffen und sich freuen. Er wehrte sich wie ein junger Baum gegen das Ersticken unter der Last eines schweigsamen und boshaften Neides. Schon in der zweiten oder dritten Woche hatte die erste Kraftprobe zwischen Krauter und Lehrling stattgefunden. Schöning war gewohnt, Pferde zu peitschen und Lehrlinge zu ohrfeigen. Als er zum ersten Mal gegen Jan zu einem Schlag ausholen wollte, hatte Jans Haltung keinen Zweifel darüber gelassen, daß auch er von seinen Kräften Gebrauch machen würde, und Schöning hatte die Hand zurückgezogen. Gerade diesen Widerstand konnte der Krauter nicht vergessen. Jan aber gab den Widerstand nicht auf, obgleich er völlig allein stand. Der junge Schöning war zwar sein Kollege, aber auch der Erbe; mit ihm konnte Jan niemals über den Vater sprechen. An Detjen, den gutmütigen Gesellen, schloß Jan sich wohl an; er verbrachte zuweilen einen Sonntag oder einen Feiertag bei ihm und half ihm dafür, sein Stückchen Feld zu bestellen. Eines Abends, als Frau Augustine Detjen vom Eieraufkauf noch nicht zurück war und Jan mit dem Gesellen allein im Dämmer der Stube bei dem kleinen Fenster saß, hatte er einmal versucht, mit Detjen ins Einvernehmen zu kommen.

 

»Daß der Schöning das Jahr für Jahr so treiben kann«, sagte Jan in die Stille hinein, während in der Stube nur die Uhr tickte und zuweilen der Kuckuck hervorschoß, um die Stunde zu rufen.

»Ja, ja«, meinte Detjen. »Dat is man so und wird wohl auch so bleiben.«

»Du bist doch schon lang bei ihm?« fragte Jan vorsichtig.

»Ja, ja.« Detjen rauchte bedächtig ein schlechtes Kraut. »Siehst du wohl, ich hab’ man das Häuschen hier und das Feld, und die Frau handelt mit Eiern. Ich hab’ zimmern gelernt und muß was zuverdienen, das kann ich nur beim alten Schöning. Deswegen, wenn ich Krach mit ihm gehabt habe und ein paar Wochen sind um und der Zorn verraucht, so geh’ ich wieder zu ihm hin. Dat is man so, und ich kann es auch nicht ändern.«

»Ja, ja«, antwortete Jan nachdenklich. »Du und deine Frau, ihr habt bißchen was, da hängt ihr auch dran. Ich aber hab’ nichts. Das macht die Menschen anders.«

»Das ist es.« Detjen nickte. »Darum kannst du auch gehen, wohin du willst, wenn du ausgelernt hast.«

Jan gab darauf keine Antwort mehr. Wenn er ausgelernt hatte! Es war ein schwacher Trost. Vier Jahre dauerte die Lehrzeit. Um ein Bett, karges Essen und zehn Mark im Jahr mußte Jan vier Jahre seiner Jugend fronen. Hin und wieder wurde er sich schon bewußt, daß Schönings Wesen auf ihn abzufärben begann, daß er auch immer wortkarger wurde, zuweilen grob und auch feindselig gegen die Menschen. Aber er wollte das nicht, nein, er wollte es nicht.

Wann endlich würde der Tag kommen, an dem er nicht mehr den hängenden Schnauzbart, nicht mehr den verkniffenen Mund, nicht mehr diese Augen zu sehen brauchte, die immer etwas zu verbergen hatten und darum immer auf der Flucht waren?

Die Zeit schlich langsam dahin. Es waren die Jahre, in denen Jan vom Burschen zum Manne wurde, und diese Jahre waren hart und qualvoll für ihn. Ihre Spuren ließen sich nie mehr ganz verwischen.

Das dritte Weihnachtsfest der Lehrzeit rückte heran. Am 24. Dezember befahl der Krauter seinem Lehrling barsch, ins Holz zu fahren und dem Bäcker im nahen Städtchen noch das bestellte »Meterholz« zu bringen.

Jan gehorchte wortlos. Er gehorchte in gleichgültiger Weise. Obwohl sich in ihm eine schüchterne Freude auf den ruhigen Abend, ein besseres Essen und auf das freundliche Gesicht der Meisterin geregt hatte, waren seine Erwartungen nicht groß gewesen, und er strich sie schnell aus seinen Gedanken aus. Die Fahrt in den Wald, zum Bäcker und zurück nahm viele Stunden in Anspruch. Was Jan holen sollte, war Meterholz. Wenn es auch üblich war, daß dazu zwei oder drei mit dem Fahrzeug in den Wald gingen, so konnte es am Ende auch einer allein schaffen. Jedenfalls brauchte Jan nicht das mürrische Gesicht des Krauters zu sehen; er konnte sich seine Arbeit einteilen und, mit den Pferden umgehen, wie er wollte. Die Gäule folgten ihm mit lahmenden Beinen, als er sie am Zügel zum Wagen führte, um sie einzuspannen; sie waren von den Vortagen her noch erschöpft und überanstrengt. Aber als sie dann in Gang kamen, liefen sie wieder gewohnheitsgemäß die Landstraße, die sie schon kannten. Sobald der Wald erreicht war, ging der Wagen schwerer. Die schwarze, morastige Erde gab unter den Rädern nach; es entstanden tiefe Furchen. Über den Wiesen und zwischen den Buchen webte der Dezembernebel, so grau wie die glatte Rinde der Stämme. Der Wald lag vollkommen still und einsam. Spechte und Eichhörnchen huschten hin und wieder aus ihren Schlupfwinkeln, um Nahrung zu suchen. Die Käfer hatten sich verkrochen.

Als Jan bei den Holzstößen am Wege anhielt, war der Nebel schon so dicht geworden, daß der Bursche seine Umgebung mehr aus Gewohnheit denn aus deutlicher Sicht erkannte. Er griff zu und warf das Holz auf den Wagen. Jedes Stück kam genau auf den vorgesehenen Platz. Es wurde Nachmittag, bis Jan alles aufgeladen hatte. Die wenigen Wärmegrade, die eine kraftlose Sonne hervorgebracht hatte, wichen dem Frost. Über den Pfützen bildeten sich dünne Eishäute, und der nasse Boden gefror an der Oberfläche.

Jan trieb die Pferde an. Knirschend liefen die Pferdehufe, die Räder und Jans schwere Schuhe über das entstehende Glatteis des Fuhrwegs. Jan war nicht aufgestiegen, er führte die Tiere, die unsicher gingen. Vom Waldrand her flog eine Eule übers Feld. Ihr lautloser Flug, die von Nebel und Dämmerung verwischten Umrisse ihrer dunklen Flügel wirkten gespenstisch.

Die Pferde und Jan wurden feucht im Nebel, und sie schwitzten zugleich vor Anstrengung. Jan kam sich mit seinem Fuhrwerk selbst wie ein Gespenst vor, so vereinsamt blieb er samt seinen Tieren in dem schneelosen, dunklen, schlafenden Wald am Weihnachtstag.

Draußen auf den Feldern und Wiesen war es noch etwas lichter. Aber auch sie lagen still und verlassen, denn das Vieh war längst in den schützenden Ställen, und die Menschen hatten sich in den Stuben versammelt, um die Kerzen am Baume anzustecken, Kuchen zu essen und das Lachen der Kinder zu hören.

Jan fuhr mit seinem Wagen Holz in das Städtchen ein. Das Pflaster war durch die Eishaut noch glatter geworden als der Erdboden der Wald- und Feldwege. Die müden Pferde stolperten und folgten nur mit lang gestreckten Köpfen dem Zügel, den Jan führte. Am Eingang des Städtchens lief die Straße über eine Brücke, und eine leichte Steigung mußte überwunden werden. Jan hatte diese Stelle schon die ganze Fahrt hindurch gefürchtet; sie war die schwerste für die Pferde. Wenn jetzt ein oder zwei Männer am Wagen angefaßt und nachgeschoben hätten, wären die Schwierigkeiten geringer gewesen, aber Jan hatte keine Hilfe. Er nahm die Zügel wieder lang, ging zurück und drückte mit der rechten Schulter helfend mit allen Kräften, während er mit der linken Hand noch lenkte. Seine Zurufe ermunterten die Tiere zur äußersten Anstrengung, und der Wagen begann die leichte Steigung hinaufzurollen. Da setzte das heftige, klappernde Stolpern und Rutschen des Handpferdes ein, und ehe Jan es hindern konnte, stürzte das übermüdete Tier. Es machte noch ein paar hastige, vergebliche Versuche, wieder aufzukommen, dann streckte es die Beine und legte sich zur Seite.

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