Jan und Jutta

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»Nein. Wir drei sind mehr als genug.«

»Hm. Wir drei … aber sobald sie es merken, wird sofort alles alarmiert, die ganze Polizei … und wir sitzen nur in der Mausefalle.«

»Wo werden sie uns suchen? Was denkst du?«

»An der holländischen Grenze natürlich – über die müssen wir auf alle Fälle rüber.«

»Da kennst du dich ja aus, Franz. Das hast du mir doch schon ein paarmal erzählt.«

»Erzählt, ja, erzählt. Ich hab’ da schon meine Verbindungen, ich hab’ nicht geflunkert. Aber wenn die Streifen unterwegs sind?«

»Wie lange werden sie suchen?«

»Was heißt, wie lange? Was willst du damit sagen?«

»Daß wir erst nach der entgegengesetzten Seite gehen, in Richtung Hamburg. Dort muß uns der Christoph Papiere beschaffen. Bis wir an die Grenze kommen, haben sie das Suchen dort schon aufgegeben.«

»Jan, du bist gar nicht so dumm. Aber unsere Personalbeschreibung wird doch bekanntgemacht. Wenn sie von uns dreien auch nur einen wiedererkennen, ist es aus. Wir mit unseren Zuchthausjacken fallen überall auf.«

»Zivil bekomme ich in Hamburg für uns alle, Franz. In Hamburg trennen wir uns dann. Wenn wir Papiere haben und eingekleidet sind, trennen wir uns und fahren einzeln. Die Fahrkarten werden uns die Hamburger Genossen schon bezahlen. An der Grenze treffen wir uns wieder, an einem Punkt, den du bestimmen sollst.«

»Hm. An der Grenze, wie gesagt, da wüßte ich schon, wo und wie etwas zu machen ist … wenn es mit dem Christoph und den Papieren nur klappt – und wie kommen wir raus aus dem Bau hier?«

»Das laß nur meine Sorge sein. Es geht.«

»Nächsten Sonnabend? Weißt du … hör mal … du hast die Bande ja auch am eigenen Leibe kennengelernt. Ob sie nicht unsere Familien verhaften und sich an denen rächen?«

»Und wenn?«

»Ich hab’ eine Frau, Jan, und Kinder.«

»Du mußt es wissen.« Jan stand auf und brachte seinen geflickten Strohsack auf sein Bett. Es war nie gut, wenn sich zwei Gefangene zu lange miteinander unterhielten. Das fiel nur auf. Franz mußte mit seinem Entschluß allein fertig werden. Nur wenn er allein damit fertig wurde, konnte er ein zuverlässiger Gefährte bei dem kühnen Unternehmen sein.

Von diesem Wochenende an betrachtete Jan, der Gefangene, seine Umgebung mit anderen Augen als bisher. Er betrachtete sie mit den Augen eines Mathematikers, der sich vorgenommen hat, eine schwierige Aufgabe mit Genauigkeit zu lösen. Jede Örtlichkeit, jede Entfernung prüfte er mit den Augen wieder und wieder. Das Gitter und die sechs Holzschrauben, mit denen es außen am Fachwerk angebracht war, hätte er schon halb im Schlaf aufzeichnen können. Mehr als einmal schaute er vom Fenster in den Hof hinab und schätzte, daß drei aneinandergeknüpfte Laken genügten, um sich hinunterzulassen. Wenn er an der Ecke vorbeiging, in der der eiserne Ofen stand und in der noch einiges Holz aufgeschichtet war, das zum Feuern diente, falls Kaffee gewärmt oder Wäsche getrocknet werden sollte, so musterte Jan die Holzscheite, und als er das für seine Zwecke geeignetste einmal unbemerkt an sich nehmen konnte, tat er es und versteckte es bei seinem Bett.

Eines Abends hielt auch der Schlosser Wort und brachte den Schraubenschlüssel. »Jetzt bin ich neugierig«, sagte er dabei nur.

Jan steckte das Werkzeug zu sich.

Als Christoph wieder einmal des Abends mit Jan am Fenster stand und Jan in seiner gewohnten Schweigsamkeit irgendwohin schaute, vielleicht nach der Tür, vielleicht nach einem Mitgefangenen, vielleicht nach dem »Spionenfenster« der Wachstube … wer wußte es? …, konnte Christoph nicht an sich halten. »Wie du nur so gleichgültig sein kannst, Jan«, meinte er. »Als ob wir am nächsten Sonnabend zum Kegelschieben verabredet seien. Schließlich …«

»Schließlich …?«

»Also schließlich ist es doch etwas anderes!«

»Wägen und zielen muß man da und da!«

Es war dämmrig. Die meisten Gefangenen schwatzten oder aßen noch. Jan lehnte mit dem Rücken gegen das geöffnete Fenster. In seiner Rechten, in dieser großen, muskulösen, dunkelgebräunten Hand, hielt er den Schraubenschlüssel. Christoph stand so, daß die anderen Gefangenen das Werkzeug nicht hätten sehen können, auch wenn sie nach Jan hinblickten. Aber sie schauten gar nicht hin. Jan betrachtete noch einmal die Holzschrauben, mit denen die Gitter am Fachwerk festgemacht waren. Gitter und Schrauben waren verrostet, und Jan fürchtete, daß die Schrauben quietschten, wenn sie gelöst wurden. Darum mochte er nicht nachts daran arbeiten, wenn in der Stille jedes Geräusch auffiel. Er wollte lieber die Abendstunden benutzen, in denen es im Saal noch unruhig war. Mit unauffälligen, wie selbstverständlichen Bewegungen setzte er den Schraubenschlüssel an und lockerte die eine, dann auch eine zweite Schraube ein wenig.

»Geht’s?« fragte Christoph gespannt.

»Wird schon. Wir haben ja noch ein paar Abende Zeit.« Jan steckte den Schraubenschlüssel wieder zu sich. »Haltet euch bereit – du und Franz. Nächsten Sonnabend. Nach Mitternacht, wenn der Vürmann und seine Kumpane und der Hauptwachtmeister eingeschlafen sind. In der Nacht zum Sonntag schlafen sie fester als sonst, und morgens merken sie später, daß wir weg sind.«

Christoph trommelte mit den Fingern auf das Fensterbrett.

»Das wird ein Ding. Na schön.«

Die Woche ging dahin. Den Gefangenen war es immer erschienen, als ob die Tage unendlich langsam vorwärts krochen. Aber jetzt hatte sich in der Vorstellung von Jan, Christoph und Franz das Tempo des Zeitablaufs geändert. Die Stunden und Tage schienen trotz Hitze und Mühsal zu fliegen. Montag, Dienstag – Mittwoch – Donnerstag. Am Freitag hatte Jan die vierte Schraube locker gemacht.

Der 30. August brach an.

Am Morgen dieses Tages wurde ein Gefangener, genannt Hannes, aus der Strafzelle, die sich im Keller des Gebäudes befand, entlassen und trat wieder mit den anderen zur Arbeit im Moor an. Hannes gehörte nicht zu den »Politischen«; er büßte für einige gemeine Vergehen, wußte der Teufel, was er eigentlich angerichtet hatte. Jan, Christoph und Franz hatten sich früher kaum nach Hannes umgesehen. Als er mit seinem losen Mund den Wachtmeister Hinrich Vürmann reizte, ohne sich selbst dessen recht bewußt zu sein, hatten die drei Freunde nur mit dem Kopf geschüttelt. Aber heute schauten sie verstohlen immer wieder nach dem Köll’schen jung. Wie verändert erschien er! Sein Gesicht war blutleer, die Augen dunkel umrändert. Er ging krumm, und als er anfing, Torf zu stechen, lahmte er in der Schulter. Dennoch hastete er bei der Arbeit. Hin und wieder blickte er dabei scheu nach Vürmann, in dessen Zügen der Hohn glänzte.

»Den Hannes hat der Vürmann fertiggemacht«, sagte Christoph zu Jan. »Der Vürmann, der Schuft, der prügelt …«

Jan nickte.

»Der Hannes ist nicht der erste, den er geprügelt hat …«, bemerkte ein Gefangener, der Christophs Worte mitgehört haben mußte. »Der macht mit uns, was er will!«

Die Gefangenen verstummten, denn der Wachtmeister kam näher.

Die Gefangenen arbeiteten weiter. Geduckt, wie ein mißhandeltes Tier, schuftete Hannes.

Als die Sonne dieses Tages sank und die Gefangenen im Saal ihre Suppe in Empfang nahmen, war die allgemeine Stimmung noch gedrückter und mißmutiger als in der Woche zuvor. Zwar hatte die Augusthitze nachgelassen und einem milden Herbstwetter Platz gemacht. Aber die Erschöpfung, die die Körper in den schwülen Tagen gequält hatte, wirkte noch nach. Hoffnungen waren wie vertrocknet, kleine Freuden abgeblättert, abgefallen wie Blätter von den verdorrten Bäumen im Moor. Wachtmeister Vürmann fühlte sich in jener Laune, in der er bereit war, um nichts einen Menschen totzuschlagen. Die Gefangenen waren gereizt; dem einen schien es, daß er den anderen hassen müsse, und der Anblick eines Zigarettenstummels konnte die Ganoven unter den Gefangenen bösartig machen. Aber plötzlich sackte dieser oder jener zusammen und hätte am liebsten geweint. Der Sommer war vorbei. Der nasse Herbst stand bevor und der Winter mit Schnee und Kälte. Wann sollte dieses Leben ein Ende nehmen? Wieder ging ein Summen durch den Saal, und es formten sich die Worte:

»Auf und nieder gehn die Posten

, keiner, keiner kann hindurch …

Flucht wird nur das Leben kosten.

Vierfach ist umzäunt die Burg!«

Es war an diesem Abend nur eine Gruppe von drei Gefangenen, deren Stimmen mit festem Klang die dumpfe Hoffnungslosigkeit durchbrachen:

»Doch wir kennen kein Verzagen!

Ewig kann’s nicht Winter sein.

Einmal werden froh wir sagen:

Heimat, du bist wieder mein!

Dann ziehn die Moorsoldaten

nicht mehr mit dem Spaten ins Moor!«

Franz und Christoph saßen bei Jan am Fensterplatz, flickten und stopften. Als das Lied geendet hatte, versuchte Franz einen gezwungenen Scherz. »Winter, na, ich danke! Mir reicht die Hitze auch heute noch.« Dann summte er die Melodie wieder vor sich hin, und Jan hörte die Worte heraus, die Franz meinte: »Flucht wird nur das Leben kosten …«

»Legt euch mal schlafen«, sagte Jan zu seinen beiden Genossen. »Wenn es soweit ist, wecke ich euch.«

»Gute Nacht!« antwortete Christoph nur und folgte dem Rat. Auch Franz blieb nicht mehr lange sitzen. Jan schaute ihm nach, als er zu seinem Bett ging. Franz schlüpfte angekleidet unter die Wolldecke. Er hielt sich also doch bereit! Jan blieb auf. Er stand wieder am Fenster und blickte nach den Sternen, die ihm den Weg in die Freiheit weisen sollten. In Spanien kämpften die roten Bataillone! Es war Jan, als ob er die Freiheit riechen und fühlen könne, als ob sie mit dem Wind durch das Gitter zu ihm komme und ihn rufe. Seine Sehnen strafften sich, seine Faust umklammerte die Gitterstäbe, die er bald lösen wollte.

 

Die Bauern im Heidedorf löschten schon die Lichter. Die Straße lag so leer und einsam wie in jeder Nacht. Um zwölf Uhr kam, wie an einem jeden Sonnabend, der einsame Fußgänger in Uniform von seiner Liebsten zurück. Die Haustür knarrte. In dem Raum unter dem Saal der Gefangenen rumorte es noch kurze Zeit, dann war alles still. Der Hauptwachtmeister schlief nach seinem nächtlichen Abenteuer, und vielleicht auch von einem kleinen Rausch beschwert, einen tiefen, festen, befriedigten Schlaf in die Sonntagnacht hinein. Aus der Wachstube neben dem Gefangenenraum erklang Schnarchen.

Es war Zeit für Jan. Er nahm den Schraubenschlüssel aus der Tasche und lockerte vollends die vier Schrauben, an denen er schon gearbeitet hatte, bis sie sich herausziehen ließen. Die beiden obersten Schrauben aber ließ er fest sitzen. Dann bog er das Gitter, das jetzt lose hing, nach außen, so weit, daß ein Mensch eben hindurchzukriechen vermochte, und stemmte das Stück Feuerholz als Keil zwischen Wand und Gitter. Als das unbemerkt geschafft war, ging Jan zu den Betten von Franz und Christoph. Er ging mit ruhigen Schritten, ohne Lärm zu machen, aber auch ohne besondere Vorsicht. Die erschöpften Gefangenen waren auf ihren Strohsäcken in halbe Bewußtlosigkeit gesunken. Keiner rührte sich. Auch Franz und Christoph schliefen. Wahrhaftig, sie schliefen! Jan rüttelte sie. »Auf!« sagte er. »Es ist Zeit!«

»Also wirklich?« antwortete Franz leise.

Dann erhoben sich die beiden.

Jan hatte sein Bettlaken in der Hand und nahm sich jetzt noch diejenigen von Christoph und Franz. Er knüpfte die Laken schnell zusammen. Die drei Männer schlichen zum Fenster. Noch war keiner der schlafenden Gefangenen auf die Vorgänge aufmerksam geworden. Auch in der Wachstube blieb es still. Vürmanns Schnarchen war in einen ruhigen Atem übergegangen.

Jan hing die zusammengeknüpften Laken über die unterste Stange des hinausgedrückten Gitters und ließ dieses Behelfsseil an der Außenwand hinabhängen. Es war lang genug.

»Ihr zuerst!« flüsterte er seinen Genossen zu.

Franz schwang sich auf das Fensterbrett, zwängte sich zwischen dem hinausgedrückten Gitter und der Wand durch und ließ sich an den Bettlaken hinunter. Christoph folgte auf die gleiche Weise. Ein mürbes Laken begann zu reißen, und Christoph sprang im Hof hart auf. Er landete gerade vor dem Fenster der Hauptwachstube, das unmittelbar auf den Hof ging.

Als Jan auf dem Fensterbrett saß, bereit, als letzter zu folgen, vernahm er einen unterdrückten Schrei seiner Genossen.

Er schaute hinunter.

»Was ist?«

»Alles umstellt …«, kam die hastige Antwort. »Es ist alles aus.«

Jan zwängte seinen Körper so schnell wie möglich zwischen Gitter und Wand hindurch und hangelte sich mit Windeseile an den mürben Laken in den Hof hinab. »Was denn umstellt?« flüsterte er, als er bei seinen beiden Gefährten unten angekommen war. »Wo denn umstellt?«

»Da, siehst du nicht? Posten!« Franz und Christoph deuteten auf mannsgroße schlanke schwarze Schatten, die regungslos im Mondlicht standen.

»Was?! … Das sind doch die Zaunpfähle! Also kommt!« Jan zog bei seinen Worten die Laken herunter und warf sie in die Regentonne. Dann lief er voran über den Hof.

Die Gefangenen wußten, daß das Haus auch des Nachts von außen nicht bewacht wurde. Die Zuchthausverwaltung verließ sich auf die Aufmerksamkeit der Wachtmeister im Gebäude selbst. Da nur die besonders zuverlässig und in keiner Weise fluchtverdächtig erscheinenden Gefangenen zur Arbeit im Moor abkommandiert wurden, hatten die Vorsichtsmaßnahmen bis dahin auch immer genügt. Mit politischen Gefangenen hatte man noch wenig Erfahrungen.

Die drei Männer überkletterten den Stacheldrahtzaun an der ausgemachten Stelle. Dann rannten sie wie flüchtiges Wild querfeldein, bis das Arbeitslager außer Sicht war. Jan führte. Von Anfang an hielt er genau nordwärts, und die Sterne wiesen ihm den Weg.

Als Hinrich Vürmann, der Wachtmeister, sich in dieser Nacht zum Schlafen aufs Bett geworfen hatte, war ihm seit Wochen zum ersten Mal wieder so recht wohl zumute gewesen. Seine Stubengenossen hatten die Fenster offengehalten, und die würzige Nachtluft kam herein. Irgendeiner, der sich bei Vürmann lieb Kind machen wollte, hatte eine Tasse kalten Bohnenkaffee bereitgestellt, den Vürmann noch im Bett schlürfte. In der Schublade lag ein Brief der Frau, der meldete, daß daheim alles in Ordnung sei und daß es den Kindern gut gehe. Von den vergeblichen Bitten, das Haushaltsgeld zu erhöhen, hatte Grete Vürmann diesmal abgelassen, und der Ehemann konnte also den Brief von zu Hause ohne Gewissensbisse zweimal lesen. Auch Gretchen, die Dorfschöne, hatte sich bei Vürmanns abendlichem Besuch so lecker und munter erwiesen, wie der Herr Wachtmeister es sich nur wünschen mochte. Nun fehlte nur noch ein wohlwollendes »Hei-itler!« des Herrn Hauptwachtmeisters am kommenden Morgen und für Hinrich Vürmann stand der Sonntagshimmel offen.

Vürmanns Träume waren in dieser Nacht von angenehmen Phantasien beschwingt und er schnarchte zufrieden.

Hannes aber, der arme Teufel, der vierzehn Tage Kellerarrest und viele Schläge hinter sich hatte, lag mit Schmerzen und ohne rechten Schlaf zu finden auf seinem harten Lager im Gefangenenraum. Er machte zwar immer wieder die Augen zu, aber sein Herz und seine Nerven wollten nicht zur Ruhe kommen. Die Schulter tat ihm noch weh, und er fürchtete sich vor dem »staatspolitischen Unterricht« des folgenden Morgens unter Vürmanns Kommando. Wenn das nur nicht wieder schiefging. Durst hatte er auch, die Luft war schlecht und eigentlich mußte er austreten. Er warf seine Wolldecke bald zurück, bald zog er sie sich wieder über die Brust. Einmal merkte er, daß einer aufstand. Hannes hatte gerade die Augen geschlossen und machte sie nicht gleich wieder auf. Er war im Grunde befriedigt, daß irgendein anderer auch nicht schlafen konnte. So war er doch nicht ganz allein mit seinem Ärger, seiner Angst und seiner gequälten Müdigkeit. Was der andere Schlaflose tat oder wo er hinging, war Hannes gleichgültig. Es konnte damit nichts Besonderes auf sich haben, und Hannes verspürte keine Lust, ein Gespräch anzufangen. Infolgedessen hielt er die Augen zu und beschäftigte sich nur damit, auf die Schritte zu horchen, weil ihm diese Beobachtung die Langeweile vertrieb. Einmal vernahm er auch ein Flüstern, ohne etwas zu verstehen. Dann überwältigte ihn der Schlaf, vielleicht, weil er in diesem Augenblick seine Schmerzen vergessen hatte.

Als er wieder wach wurde, sehnte er sich noch mehr nach frischer Luft als zuvor und schaute sehnsüchtig nach dem Fenster, das sich in dem ersten zarten Morgendämmern vor Sonnenaufgang erhellte.

Wie?

Hannes setzte sich im Bett auf.

Er träumte wohl noch?

Hannes fuhr sich mit der Hand über die Augen.

Aber seine Wahrnehmung wurde dadurch nicht geändert. Das Gitter am Fenster war unten abgelöst und hinausgebogen.

Teufel, Donner …

Hannes kletterte von seiner Bettstatt herab und lief barfüßig durch den Saal. Er gelangte bis zu dem Fenster. Als er es näher besah, erschrak er furchtbar. War hier einer entflohen? Dann gab es wieder Strafe. Prügel von Vürmann … wußte der Himmel, wen er beschuldigen und wie er vielleicht alle bestrafen würde, die hier im Saal geschlafen hatten. Hannes öffnete den Mund, er wollte laut aufschreien, um die Wachmannschaften auf seine Wahrnehmung aufmerksam zu machen. Er durfte nicht in diese Sache hineingezogen werden, er mußte unschuldig sein!

Als Hannes den Mund öffnete, um zu schreien, legte sich auf einmal eine Hand grob vor seine Lippen. »Halt’s Maul, du Taugenichts!« flüsterte es.

Das war der Schlossergeselle, der sein Bett unmittelbar am Fenster hatte.

Hannes wollte sich losreißen.

Da packte ihn schon ein zweiter. »Halt’s Maul, du Lump!«

Hannes sackte zusammen.

Der Vorgang hatte noch weitere Gefangene geweckt.

»Was ist denn los?«

»Ruhe!«

»Was ist denn mit dem Fenster?!«

»Mensch …«

»Das Maul sollt ihr halten! Wollt ihr sie verpfeifen? Ruhig, sage ich!«

Der Lärm, der hatte aufwallen wollen, ebbte wieder ab. Doch war jetzt fast der ganze Saal wach geworden, und das Geflüster wollte nicht mehr abreißen. Die Gefangenen schauten nach den anderen Betten, und bald wußte jeder, wer fehlte: Jan, Christoph und Franz.

Hannes war wieder auf sein Bett geklettert und weinte. Die anderen mutmaßten und ratschlagten. Es herrschte eine ungeheure, wenn auch noch unterdrückte Erregung. Der Schlosser hatte mit drei handfesten Freunden zusammen gedroht, jeden, der die Flüchtlinge verpfeifen würde, kurz und klein zu schlagen.

Vürmanns Schnarchen, das die Gefangenen hören konnten, klang jetzt unregelmäßiger. Er träumte nicht mehr gut, sondern schlecht. Endlich warf er das Kopfkissen gegen seinen vermeintlichen Gegner und erwachte mißlaunig. Es war trotz des geöffneten Fensters noch dumpfe Luft im Wachraum, darum hatte er vielleicht so schlecht geträumt. Vürmann stand auf, um sich sein Kopfkissen wiederzuholen. Dabei nahm sein auf Wachsamkeit dressiertes Ohr die leise Unruhe im Gefangenenraum nebenan wahr. Was die Bande wohl wieder zu flüstern und zu munkeln hatte? Jetzt war es ihm klar, diese Banditen hatten ihm mit ihrer unangebrachten Unruhe den seligen Schlummer in einen Schlaf voll schlechter Träume verwandelt und ihn endlich aufgeweckt. Er wollte der Bande aber zeigen, wer hier Herr im Hause war, die Ganoven oder der Wachtmeister!

Vürmann ging an das »Spionenfenster«, das den Wachraum mit dem Gefangenensaal verband. Da waren doch wahrhaftig welche aus den Betten gekrochen und klönten. Was die an dem Fenster der gegenüberliegenden Seite wohl interessierte? Die Gefangenen hatten nichts am Fenster zu suchen!

Vürmann fuhr in seine Hosen, griff nach der Dienstpistole, entsicherte sie und nahm sich noch einen zweiten Mann mit, den er höchst unsanft aus dem Schlafe gerissen hatte.

Die Pistole in der Hand, betrat er mit seiner Begleitung rachedrohend den Schlafsaal und ließ das Licht anschalten.

Der Stubenälteste, im Hemd, nahm beim Eintreten des Herrn Wachtmeisters bessere Haltung an als je und machte seine Meldung.

»Zweiundzwanzig Gefangene anwesend, Herr Wachtmeister!«

Vürmann war so aufgeregt, daß er die Zahl »zweiundzwanzig« zunächst nicht in ihrer vollen Bedeutung in sein Bewußtsein aufnahm. Er hatte nur den unterwürfig-militärischen Ton des Stubenältesten und seine furchtsam-stramme Haltung erfaßt. Er war zufrieden, daß die Gefangenen offenbar keinen Aufruhr versuchten und daß das kostbare Leben der Wachtmeister also nicht gefährdet schien. Der Ton korrekter Unterwürfigkeit in der Meldung des Stubenältesten waren ihm ein Labsal und eine Ermutigung. Fast wollte er schon die Meldung als empfangen bestätigen, schon setzten sich seine Muskeln in Bewegung, um ein Nicken zustande zu bringen, da bemerkte er die Tatsache, die ihn nicht weniger erschütterte, als je einen Sterblichen die Voraussage des Weltuntergangs erschüttern konnte.

Das Gitter des einen Stubenfensters war weit hinausgebogen.

In Vürmann entstand eine Sekunde hindurch ein Wirbel der Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle.

Dann hatte er begriffen. Im Saale schliefen 25 Gefangene; der Stubenälteste hatte gemeldet: 22 anwesend. Also fehlten drei Gefangene. Das Gitter war herausgelöst … drei waren durch das Fenster entflohen. Gefangenenflucht! Flucht der Gefangenen, für die Hinrich Vürmann verantwortlich war! Beförderung … Essig, Versetzung nach Celle oder gar nach Hannover … Essig. Vielleicht sogar …

»Ihr Schweine! Ihr …« Vürmann fehlten einen Augenblick die Worte. Sein Stimmband krampfte sich. Seine Stirn lief rot an. Er ballte die Faust. »Ihr Ganoven, ihr Banditen … ihr haltet zusammen …« Vürmann stürzte zu dem Fenster. Er packte das Gitter, stellte fest, daß es noch in den oberen beiden Schrauben hing, und untersuchte die Fachwerkbalken, aus denen die übrigen vier Schrauben herausgelöst waren. Es wurde ihm sofort klar, daß das Gitter nicht herausgebrochen worden war, sondern daß jemand die Schrauben mit einem Schraubenschlüssel sachgemäß gelockert und herausgedreht haben mußte.

Vürmann wandte sich wieder den Gefangenen zu, die sich in angemessener Entfernung respektvoll aufgestellt hatten. »Ihr … ihr … Schweinehunde … wer ist weg?«

Der Stubenälteste trat einen Schritt vor und stand wieder so stramm, als es ihm möglich war. »Die Gefangenen Jan Möller, Christoph Wiesner, Franz Strom, Herr Wachtmeister!«

 

»Seit wann wißt ihr denn das, ihr …«

»Soeben bemerkt, Herr Wachtmeister, als Sie uns weckten.«

»Ich helfe euch lügen, ihr Bande! Der Jan … der hat doch da oben geschlafen … gleich beim Fenster … den Kerl her, der im unteren Bett geschlafen hat … und nichts gemerkt haben will … den Kerl her …!«

Der Schlosser trat zögernd vor.

Vürmann sprang auf ihn zu, packte ihn am Arm und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. »Du Hund, du hast es gewußt, geholfen hast du ihm …!«

»Herr Wacht …« Eine zweite Ohrfeige erstickte dem Gefangenen das Wort im Mund.

»Halt die Schnauze, du Verbrecher! Beihilfe zur Flucht, das kostet dich noch was. Mach dich gefaßt!«

Der Gefangene schwieg vorsichtshalber.

»Himmelherrgott, verfluchte Wirtschaft …« Vürmann sah, daß sein zweiter Kamerad aus der Wachstube auch noch nachgekommen war. »Da haben wir die Bescherung!« schrie er ihm zu. »Drei Mann weg! Wir müssen sofort Meldung machen!«

Die Vorstellung, daß jetzt der Hauptwachtmeister und Kommandoführer Vürmanns Blamage erfahren würde, schürte Hinrich Vürmanns Wut von neuem an.

Er rannte im Saal umher und entdeckte, daß drei Laken fehlten.

»Die Laken haben sie gestohlen! Wegen Diebstahls werden sie verurteilt, die Herren ›Politischen‹…!«

An der Tür erschien ein weiterer Wachtmeister. »Zum Hauptwachtmeister!« gab er Vürmann zu verstehen.

In der Kommandostube stand der Hauptwachtmeister schon am Telefon. Er empfing Vürmann mit einem vernichtenden Blick. Als er die telefonische Meldung gemacht hatte, legte er den Hörer knackend wieder auf die Gabel.

»Der Marloh ist schön in Fahrt«, sagte er dabei vor sich hin.

»Aber es wird alles alarmiert, bis zur holländischen Grenze hin. Bei den Kommunistenschweinen in Hamburg wird sofort Haussuchung gemacht! Wir kriegen die verfluchten Verbrecher heute noch wieder.«

Wer Marloh war, das wußten alle im Zimmer Anwesenden. Marloh, geschworener Feind aller Kommunisten, berühmt und berüchtigt durch die Art und Weise, wie er neunundzwanzig rote Matrosen im Jahre 1919 hatte betrügen und niederknallen lassen, war Direktor des Zuchthauses in Celle, von dem das Arbeitskommando im Moor abgeordnet war. Marloh war Oberleutnant gewesen und ließ nicht mit sich spaßen, weder den Gefangenen noch den Wachmannschaften gegenüber. Vürmann fühlte eine Übelkeit im Magen. Aber wenn die drei wieder eingefangen wurden, die sollten es zu spüren bekommen.

Der Hauptwachtmeister ging mit seinen Untergebenen in den Hof, um sich den Fluchtweg genauer zu besehen. »Von heute an jedenfalls Verstärkung anfordern und auch Außenposten aufstellen«, bemerkte er zum Oberwachtmeister. »Vor allem müssen wir uns über den Hausvater in Celle beschweren, der uns derart unzuverlässiges politisches Gesindel hierherschickt, das unter den hier gegebenen Umständen gar nicht ordnungsgemäß zu bewachen ist …«

Vürmann atmete ein wenig auf. Die Schuld abschieben, ja die Schuld abschieben, das war der einzig mögliche Weg.

Einer der Wachtmeister fand die Laken in der Regentonne.

»Als ob sie uns verhöhnen wollten!« schrie Vürmann.

»Dieser Jan muß ein ganz gewiegter Gauner sein! Wie er sich immer verstellen konnte! Ich denke noch, er liest den ›Völkischen‹…«

»Das interessiert uns jetzt weniger«, bemerkte der Hauptwachtmeister spitz. »Aber wo hatte er den Schraubenschlüssel her?«

»Der Schlosser … Er kommt sofort in die Arrestzelle!«

»Na ja, gewiß, der Schlosser! Aber wieso wird hier nicht besser auf das Werkzeug geachtet? Kann hier jeder alles mitnehmen, wohin es ihm beliebt? Wie? Die Schluderwirtschaft hört jedenfalls auf!«

Vürmann wurde blaß.

In der Stube des Hauptwachtmeisters rasselte das Telefon. Hoffnung beflügelte alle Wachmannschaften. Vielleicht war das schon die Meldung, daß die Entflohenen wieder gefaßt seien. Vürmann war der erste, der in der Stube anlangte und den Hörer zitternd abnahm, um ihn dem Hauptwachtmeister zu reichen. Alle Ohren lauschten, es war mäuschenstill im Raum.

Auch in den Mienen des Hauptwachtmeisters hatte sich die angenehme Hoffnung abgezeichnet. Aber auf seiner Stirn erschienen gleich wieder Falten. »Ich habe doch die Personenbeschreibung durchgegeben … nein. Nein!! habe ich gesagt. Ein kleiner Rothaariger war nicht dabei! Nun verhaften Sie wohl die ganze Bevölkerung zwischen uns und der holländischen Grenze, Sie Idiot! Wir haben hier keine Frauen … ganz unwahrscheinlich, daß sie jetzt mit Frauenzimmern gehen … schwarze Arbeitsbluse, schwarze Hosen … mit gelben Biesen …« Der Hauptwachtmeister hängte erschöpft ab. »Die sind ja nicht normal …«, sagte er.

»Was aber die Biesen anbelangt«, bemerkte einer der Wachtmeister, »so hatte der Jan noch keine Biesen an den Hosen. Einige Gefangene tragen noch die alte Kleidung.«

»Mist!« rief der Hauptwachtmeister. »Warum habe ich das nicht gleich erfahren! Soll ich vielleicht jetzt an hundert Stellen wieder eine andere Personenbeschreibung durchlaufen lassen?! Wie soll man hier Ordnung halten, wenn nichts klappt, überhaupt nichts!! Wachtmeister, gehen Sie an Ihre Plätze, das ist notwendiger als hier herumzustehen! Sonst laufen uns noch ein paar weg. Nichts ist gefährlicher als das Beispiel … verflucht und zugenäht, es ist zum Kotzen …«

Die Wachtmeister waren schon verschwunden. Nur die drei wieder in Händen haben, dachte Vürmann. Nur die wiederhaben! Der schwarze Jan war ihm doch nicht umsonst aufgefallen. Es war etwas Unheimliches an diesem Menschen gewesen! Er hatte ihn überzeugen wollen. Quatsch! Einen Kommunisten überzeugen! Totschlagen mußte man sie, nur totschlagen! Warum die Gerichte noch soviel Federlesens mit den Untermenschen machten?

Als sich diese Vorgänge im Moorlager abspielten, befanden sich Jan, Christoph und Franz auf der Flucht.

Während ihrer ersten kurzen Atempause hatten sie in einem Rübenfeld gestanden. Der Tau lag in dicken Tropfen auf den Blättern. Aber die drei merkten nicht, daß sie naß wurden, als sie sich einen Augenblick niederließen.

»Der Vürmann wird Augen machen«, sagte Franz.

»Dort …«, flüsterte Christoph. »Licht! Das kann nur …«, er schaute umher, »das kann nur Polizei sein!« Er legte sich flach ins Feld.

Jan hatte auch prüfend in die Richtung geschaut, die sein Freund meinte.

»Ein Mädel ist es, das nicht schlafen kann«, sagte er dann. »Sie hat eine Kerze hinters Fenster gestellt.«

Die Flüchtlinge standen auf und setzten ihren Weg fort.

Sie mieden die Landstraßen und die Häuser. Querfeldein ging es im Dauerlauf die ganze Nacht hindurch. Das Laufen über die Rübenfelder und Kartoffeläcker war anstrengend.

Als die drei wieder einmal einen Zaun überkletterten, der die Felder trennte, stürzte der schmächtige Christoph vor Müdigkeit. Er fiel kopfüber und lag dann auf etwas Warmem, Weichem, das ihn mehr erschreckte, als ihn eine nasse Wiese voller Brennesseln oder der Lehm eines Kartoffelackers hätte erschrecken können. Das Warme Weiche geriet in Bewegung … und auf einmal gab es einen tiefen Laut von sich: »Muh-öh.«

Christoph mußte lachen. Die Kuh war offenbar ebenso erschrocken wie er selbst. Rasch glitt er von ihrem Rücken herunter und eilte seinen beiden Gefährten wieder nach.

Der Mond wanderte am Himmel und auch die Sterne veränderten langsam den Stand. Es kamen die Stunden, in denen das Sternenlicht schon blasser wurde und die ersten Anzeichen der Morgendämmerung zu bemerkten waren.

Als die Flüchtlinge einen Weg kreuzten, sahen sie am Rain schon große gefüllte Milchkannen stehen, die die Bauern zum Abholen für die Molkereiwagen bereitgestellt hatten. Verschwitzt, erschöpft, vom Durst gepeinigt nach dem stundenlangen Lauf, öffnete Franz die eine der Kannen und trank. Seit Jahren hatten die Gefangenen keine Milch mehr geschmeckt. Franz schlürfte noch ein paar Schluck. Dann ließ er Christoph heran.