Über den Missouri

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Heimkehr

Es war Nachmittag, als sich die beiden Reiter der Reservation näherten. In ihrem Gesichtskreis lagen schon die Gebäude der Agentur. Mehrere fertige und halbfertige Holzhäuser, eine Umzäunung, Pferde, herumwimmelnde Menschen, alles machte den Eindruck der Geschäftigkeit und des Unfertigen. Vor dem Hauptgebäude der Agentur standen Planwagen, leichte Gefährte, die mit Maultieren bespannt waren. Säcke, Kisten, Fässer wurden ausgeladen und in das Gebäude gebracht. Ein Mann, dessen außerordentliche Größe und Beleibtheit auch aus der Entfernung auffiel, beaufsichtigte die Arbeit.

Der Dakota erkannte in dem Wohlbeleibten den Händler und Wetteinnehmer Johnny, dem er während der Kämpfe einmal bei Fort Randall begegnet war.

Die abgeladenen Planwagen fuhren zu einem langen, niedrigen Gebäude, die Zugtiere wurden dort abgespannt und die Wagen zusammengeschoben. Der große dicke Johnny beaufsichtigte auch das und ging dann langsam zu dem Hauptgebäude zurück, in dem er verschwand.

Die beiden Indianer ritten an die Agentur heran. Der schwarze Hund lief immer mit ihnen. Da Tobias bekannt war, wurden die beiden Reiter von den aufgestellten Posten nicht weiter beachtet. Die Indianer brachten ihre Pferde zu den anderen Tieren in die Koppel. Tobias leitete dann nicht auf den Mitteleingang des Hauptgebäudes zu, an dem ein lebhaftes Treiben herrschte, sondern lenkte den Schritt zu einer kleinen Seitentür. Durch diese traten die beiden Indianer in einen dunklen Vorraum ein, von da aus durch eine Zwischentür in eine unerwartet geräumige Gaststube. Auf einem der beiden roh gezimmerten Holztische brannte eine Petroleumlampe mit ihrem besinnlichen Licht. Draußen dämmerte der Abend, und das einzige Fenster des Raumes war sehr klein, zudem verhängt, so dass es wenig Helle hereinließ und kaum etwas von dem schwachen Lampenschimmer nach draußen dringen konnte. Auf den Regalen an den Wänden waren Krüge, Schüsseln, Becher und Töpfe aufgestellt. In der rechten hinteren Ecke war der Herd eingebaut. Dort stand jetzt der riesige Johnny, der den Eintretenden den Rücken zukehrte. Auch als die Tür wieder ins Schloss fiel, drehte er sich nicht nach ihnen um. Beim Herd lehnte sein Schießeisen an der Wand. Es war eine große, vorsintflutliche Waffe.

Die Indianer gingen zu der Wandbank an der dem Herd gegenüberliegenden Ecke und ließen sich dort nieder. Ohitika verkroch sich unter der Bank hinter den Füßen seines Herrn.

Johnny schien das stille Verhalten seiner Gäste wohl zu gefallen. Er warf mit einem Löffel eben wieder einen großen Brocken Fett in die Pfanne. Das Fett schmolz und umbriet das in der Pfanne befindliche Fleisch mit brutzelndem Geknalle. Die Indianer konnten Johnny in aller Muße betrachten. In seinem Gesicht fielen die Fettpolster auf, die die knollige Nase umgaben. Seine schütteren Haare auf dem runden Schädel waren sorgfältig gescheitelt und unter reichlicher Anwendung von Pomade in die gewünschte Richtung gelegt. Er hatte den Rock ausgezogen und die Hemdsärmel aufgekrempelt, so dass man seine starken, Baumstämmen ähnlichen Arme sah.

Als die Rippenstücke in der Pfanne fertig gebraten waren, schaute sich Johnny nach den Indianern um, die schweigend ihre Pfeifen rauchten. Er nahm drei gescheuerte Holzteller von der Wand und kam mit diesen und der Pfanne zu dem Tisch vor der Wandbank. Klappernd teilte er die Teller aus, setzte die rußige Pfanne auf ein Brett in die Mitte des Tisches und ließ sich auf einem Hocker nieder, der für seine massige Gestalt viel zu klein schien. Er zog sein Messer und legte von den vier Stücken, die sich in der Pfanne befanden, je eines auf die Teller seiner beiden Gäste.

»Hatte es für mich gebraten«, sagte er mit einer heiseren Trinkerstimme, »aber ihr könnt gleich mithalten.«

Man aß. Die geteilte Ration war bald zu Ende. Der Wirt trug das Geschirr weg und brachte einen Krug mit Branntwein. Er goss die Becher voll und schob sie den Indianern hin. Den eigenen leerte er mit einem Zug. Auf den Trunk hin kam Leben in seine Züge. »Erzähle mal, Tobias!«

»Weiß nichts Neues«, brummte der Delaware vor sich hin. »Wie geht’s dir? Verdienst du gut?«

Der Wirt schenkte sich schon zum dritten Mal ein und goss wieder den Inhalt des ganzen Bechers auf einmal hinunter, so dass man seine Gurgel bei dem großen Schluck arbeiten sah. Er duckte sich und beugte sich über den Tisch hinüber zu seinen Gästen; sie rochen seinen nach Branntwein stinkenden Atem. »Verdienen? Hier gibt’s nur einen, der wirklich gute Geschäfte macht, die Geschäfte mit den Lieferungen für die Agenturindianer – und die macht der Freddy Red Fox! Der braucht kein Gold mehr zu suchen, der verdient hier an einer Lieferung mehr als ein armer Goldsucher im ganzen Jahr. Aber mir hat er noch keinen Dollar gegönnt, der Hund! Meint ihr, ich sehe mir das noch lange an?«

»Du musst es dem Agenten melden«, ermunterte der Delaware.

»Dem feinen Herrn Offizier, der nie da ist? Ich werde mich hüten und mir den Mund verbrennen!« Der Wirt machte ein sehr bedenkliches Gesicht. »Der Red Fox, unter uns gesagt, das ist ein Hundsfott, und er ist auch heute noch imstande, einen in der Nacht kaltblütig niederzustechen. Nein, noch ist mir der Bursche zu gefährlich. Ich muss warten. Unterdessen wird sich der Beutel auch so ein wenig bei mir runden. Hier kehrt jeder gern ein, und bei der Kälte müssen sie noch ein bisschen mehr saufen, die Weißen und die Roten.«

»Den Dakota auf der Reservation ist das Trinken doch streng verboten.«

Der Wirt lachte dröhnend. »Darum bezahlen die Herren Lagerpolizisten ja so gut bei mir!«

Johnny trank weiter. Allmählich sank ihm der Kopf zu einem Nickerchen herunter auf die Brust. Es dauerte aber nicht lange, bis er wieder wach wurde. Er schien nicht vergessen zu haben, was gesprochen worden war. »Jetzt sind sie nämlich grade drin, Oberhäuptling Blutiger Tomahawk, Dakota & Co.«, erzählte er. »Beim Freddy Red Fox sind sie drin, um sich über die Hungerlieferungen zu beschweren. Sie führen Klage, und es wird ihm sehr schwerfallen, sie wieder so schnell hinauszuwerfen wie das letzte Mal. Er wird sich wohl ein paar stundenlange Reden anhören müssen.«

»Ist Schonka auch dabei?«, forschte Tobias.

»Ja, natürlich. Der Schonka ist immer dabei. Dafür sorgt schon Red Fox, denn Schonka hält doch zu ihm.«

»Dann kann man also vorläufig gar nicht zu Freddy rein?«

»Nein, das wird sich schlecht machen lassen. Kannst du deine Sache nicht mit jemand anderem erledigen? Worum geht es denn?«

»Hier, meinen Freund Harry muss ich anmelden.«

Der Wirt betrachtete den Dakota aufmerksam. »Harry? Der die Munitionskolonne überfallen und das Fort am Niobrara damals in die Luft gesprengt hat?«

»Ja«, bestätigte Tobias lächelnd.

»Und der so lange gefangen war? Liegt dir viel dran, die Sache schnell zu erledigen? Dann musst du ein paar Drinks für den Sekretär ausgeben. Der Sekretär ist heute zufällig da.«

»Die Dollars kann er haben. Am besten geht das durch dich?«

»Ja, ich will dir den Gefallen tun. Gib den Kram mal her!«

Tobias zog ein Schriftstück hervor. »Er soll nur darunterschreiben, dass er es gesehen hat und damit einverstanden ist, dass Harry Tokei-ihto sich zu seiner Stammesabteilung, der Bärenbande, begibt.«

»Das kann ja nicht schwerhalten.« Der Wirt nahm das Schriftstück und ging.

Es dauerte nicht lange, bis er zurückkehrte. »Schade«, sagte er und zuckte bedauernd die Achseln. »Charly ist nicht in seinem Zimmer. Wir müssen noch etwas warten.«

Vor dem Haus hörte man Stimmen. Die Tür wurde aufgerissen, kalte Luft strömte in den Raum. Ein halbes Dutzend schwerbewaffneter, in Leder und Pelz gekleideter Männer mit knallbunten Halstüchern drängte sich herein. Der Dakota erkannte unter ihnen Louis, den Kanadier, und den stummelnasigen Pitt.

»Hallo! Johnny!«, riefen die neuen Gäste dem Wirt zu, der sich langsam und mit Selbstbewusstsein erhob. »Schnell einen Drink! Und was hast du zu essen, du gemästeter Ochse? Die Männer stampften dröhnend auf den Bretterboden. Da die Wärme im Haus und der Geruch von Branntwein und Bratfleisch sie guter Laune machte, stampften sie im Takt und lachten. »Schnell, Johnny, schnell, Johnny!«, riefen sie halb singend im Chor. »Brandy, Brandy, Bärenschinken!«

Der Wirt ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er holte sechs Becher, ordnete sie in Reih und Glied auf dem Tisch und goss ein, ohne einen Tropfen zu verschütten. Seine fleischigen Pranken waren viel geschickter und flinker, als man auf den ersten Blick glauben mochte. Die Männer kamen herein, griffen zu den gefüllten Bechern und schütteten den Fusel hinunter. Auch der Jüngste der sechs, ein hübscher Bursche von etwa 16 Jahren, tat ohne Zögern mit.

Johnny holte vier große geräucherte Bärenschinken herbei. Zwei hatte er rechts und links im Arm wie kleine Kinder, die beiden anderentrug er am Knochenende in der Hand. »Hallo, Gentlemen! Meint ihr, ich gebe euch nicht besser zu essen als der Freddy seinen Rothäuten?«

Die Männer lachten noch lauter. Louis warf seine Bibermütze in die Luft, so dass sein halblanges schwarzes Haar sichtbar wurde. »Johnny-Jean, mein Bruder«, rief er mit seinem den Männern fremdartigen, französischen Akzent, »wir raten dir, uns gut zu füttern! Sonst würde unser Pitt mit der kurzen Nase dich selber schlachten und braten. Es wäre schade um dich, Jean!«

Die Schinken wurden verteilt, die Männer hieben ein. Zum zweiten Mal wurden die Becher gefüllt. Der Wirt setzte sich vertraulich neben den Kanadier und hielt mit.

»Johnny-Jean, mein Bruder«, der schlanke Langhaarige sprach im Kauen, »heute ist Abschied! Verstehst du? Du musst uns freihalten! Hier dem hübschen jungen Philipe gibst du doppelte Ration! Er ist mein Schützling, und er muss noch wachsen!«

 

Die Miene des Wirtes kräuselte sich ablehnend. »Abschied? Was soll das heißen?«

»Eh, mein sehr lieber Jean, wir sind entlassen, Crazy Horse ist besiegt; der Krieg ist zu Ende, und Freddy braucht uns Rowdies nicht mehr. Er will seine Dollars lieber selbst versaufen, hat er gesagt. Er lässt uns fortschicken, und in den Büchern steht noch unsere Löhnung. Oh, mein lieber Johnny-Jean, die Welt ist sehr schlecht. Freddy denkt, die roten Verräter sind billiger, und organisiert die indianische Lagerpolizei.« Louis schnitt sich ein zweites großes Stück Schinken herunter. »Aber ich gehe fort. Ich gehe dahin, wo die Menschen noch besser sind!«

Er fing an, eine sehnsüchtige Melodie zu pfeifen. »Johnny-Jean, mein Bruder, kennst du nicht Kanada?«

»Kann man da mehr verdienen als hier?«

»Johnny-Jean, du bist ein Mann ohne Sehnsucht, du hast keine Poesie, du bist ein gutes Schwein an einem vollen Trog. Aber mein Vater war ein Jäger und ein Voyageur1; er ist gekommen aus Frankreich, und er ist gegangen nach Kanada. In Kanada ist es schön, da muss man leben!«

»Ja«, warf Tobias, der Delaware, ein. »Kanada ist noch frei.«

Der Reiterführer hob sein Glas. Er freute sich, einen Gleichgestimmten gefunden zu haben. »Mein roter Bruder, du kennst Kanada, meine Heimat? Mein Vater war Voyageur in Kanada, hat gehandelt mit vielen guten Sachen. Er hatte ein großes Boot, damit sind wir über die ›grands lacs‹ gefahren, über die großen Seen, als ich ein enfant war, noch ganz klein. Mein Vater hat gesungen, meine Mutter hat gesungen, wir sind fröhlich gewesen. Die roten Männer sind alle unsere Cousins gewesen, sehr freund.

In Kanada ist das Leben schön. Ich weiß nicht, warum ich bin gegangen, aber, mon dieu, das war schlecht, sehr schlecht. Jetzt bin ich hier, aber es gefällt mir nicht. Soll ich wieder gehen nach Kanada? Oui? Freddy ist ein Monstrum, er hat kein Herz, er hat mich entlassen, nachdem ich besiegt habe die Sioux-Dakota. Aber die roten Männer sind meine Cousins, sie lieben die Freiheit wie ich – warum habe ich sie totgeschossen?« Der Sprecher trank noch eins, um seinen Kummer zu ersäufen. Der einzige der Rauhreiter, der ihm zugehört hatte, war der junge Philipe. Die übrigen hatten inzwischen schon zu den Pfeifen gegriffen und würfelten mit Geschrei und dröhnenden Faustschlägen um den kümmerlichen Rest ihres Glücks.

Pitt blinzelte dem Wirt zu. »Johnny – hast ’ne Stelle für mich? In deinem warmen Stall hier? Ich kann ausschenken. Freddy meinte …«

»Lass ihn meinen!« Johnny wehrte unwirsch ab. »Wärst besser am Niobrara geblieben!«

Der Wirt trug zwei der Schinken wieder fort und schenkte nicht so bald wieder ein. An Gästen, die nicht zahlen konnten, hatte er kein Interesse. Er nickte Tobias zu und machte sich mit dessen Schriftstück zum zweiten Mal auf den Weg. »Jetzt wird Charly vielleicht wieder da sein«, vermutete er.

Diesmal blieb Johnny lange aus.

Der Delaware bot dem Kanadier Tabak an. Louis setzte sich zu den Indianern herüber und ließ sich gern weiter ins Gespräch ziehen.

»Dass euch Freddy Red Fox nicht mehr braucht, nimmt mich wunder«, nahm Tobias den Faden auf.

»Oh, mon dieu, mein roter Bruder. Freddy ist ingrat und vilain, undankbar und gemein. Die Dakota sind in die Reservation hineingequetscht, wir haben dabei geholfen, nun braucht man uns nicht mehr!«

»Und Sitting Bull?«

»Weiß nicht. Vielleicht ist er gegangen nach Kanada, vielleicht ist er auf dem Weg zu einem Meeting mit dem Großen Vater in Washington, wer will es wissen? Viele Zungen reden vieles.«

»Crazy Horse und seine Männer aber, wo sind sie?«

»Lieber Cousin, General Miles mit seinen Geschützen hat sie ganz besiegt, und sie sind im Winter über fünfhundert Meilen bis in unsere Gegend hier getrieben worden. Vor zwei Tagen sind sie bei Fort Robinson angekommen. Sie haben keine Waffen mehr, sie haben viele ihrer Zelte und ihrer Decken verloren, sie hungern, und ihre Kinder frieren. Das macht müde und trist, mein roter Bruder, und was sollen sie tun? Sie werden ebenso gehorchen müssen wie alle Dakota.«

Tokei-ihto schob dem Kanadier den mit Branntwein gefüllten Becher zu, den Johnny dem Dakota hingestellt, von dem dieser aber noch nicht getrunken hatte.

»Merci, merci, danke!« Der Kanadier trank.

»Tashunka-witko, den die weißen Männer Crazy Horse nennen, lebt also noch und ist ganz in unserer Nähe?«, fragte Tokei-ihto.

»Ein Stück westwärts von hier. Auf ihn wird aufgepasst, oh, mon dieu, sehr gut aufgepasst! Crazy Horse kann sich nicht rühren; viele möchten ihn und seine Männer gleich erschießen und erstechen.«

Das Gespräch wurde unterbrochen.

Johnny kam wieder. Er war nicht allein. Langsam, mit betonter Würde in Schritt und Kopfhaltung, war ein Indianer mit ihm durch die Tür gekommen und ließ sich jetzt ebenfalls an dem großen Tisch bei der Wandbank, Tobias und Tokei-ihto gegenüber, nieder. Er trug den Adlerfederschmuck, den er tief in die Stirn gesetzt hatte. Sein Gesicht zeigte einige typische Merkmale des Dakota: die bronzene Hautfarbe, die gebogene Nase, die kräftig ausgebildeten Backenknochen. Das persönlich Charakteristische waren die kleinen Augen; er blinzelte. Die Stirn war breit, aber niedrig. Der junge Häuptling kannte diesen Indianer. Das war Blutiger Tomahawk. Ob der neue Oberhäuptling auch den jungen Anführer der Bärenbande wiedererkannt hatte oder ob ihm der durch Gefangenschaft und Krankheit ausgezehrte Mann fremd erschien, blieb offen. Blutiger Tomahawk hatte nur Tobias kurz begrüßt.

Als Begleitung des Blutigen Tomahawk tauchte eine sehr merkwürdige Figur auf. Es war ein junger Indianer, schlank und lang; in seinen Zügen war keine Spur von Intelligenz zu finden. Er trug einen Zylinderhut und eine blaue Uniform mit goldenen Troddeln und Tressen. An der Seite hing ein langer Schleppsäbel, in der Hand hielt er auf eine geckenhafte und lächerliche Art die Reitpeitsche mit silbernem Knopf. Er schwänzelte am Tischende ein paarmal hin und her und schien zu glauben, dass alle ihn bewunderten.

Inzwischen waren noch sieben weitere bewaffnete Indianer eingetreten, unter ihnen Schonka. Auch Tobias, der diesen Mann bisher nur ein einziges Mal in seinem Leben gesehen hatte, wusste sofort, wer er war. Schonka hatte der Bärenbande angehört. Er setzte sich zu Blutigem Tomahawk und betrachtete den entlassenen Gefangenen, seinen ehemaligen Häuptling, unentwegt auf eine herausfordernde Art. Aber sein Blick stieß auf Tokei-ihtos Verschlossenheit wie auf eine undurchdringliche Wand.

Johnny gab Tobias ein Schriftstück. »Hier – alles in Ordnung, was Harry anbetrifft.«

Tobias nickte dankend und schob dem Wirt Geld hin. Johnny schien sehr zufrieden. »Also in Begleitung der Lagerpolizei kann sich Harry zur Bärenbande begeben und dort wieder in seinem Zelt wohnen«, sagte er. »Das hat Charly unter den Brief geschrieben.«

»Legt mir den Brief vor!«, verlangte Blutiger Tomahawk, der die Worte verstanden hatte. »Ich bin der Oberhäuptling, und ich gebiete über die gesamte Polizei bei unseren Zelten!«

Tobias reichte dem Indianer das Schriftstück. Dieser faltete es auseinander und ließ es sich von Johnny vorlesen.

»Der weiße Mann hat wieder einmal geschrieben, was er nicht schreiben darf«, bemerkte Blutiger Tomahawk aufgebracht. »In welchem Zelt Tokei-ihto wohnen wird, bestimmen nicht die weißen Männer, sondern die Dakota. Die Ratsversammlung der Bärenbande aber hat beschlossen, ihn nicht wieder in ihren Zelten aufzunehmen. Sein Tipi ist zerstört. Der Sohn Mattotaupas kehrt nicht heim. Hau.«

Blutiger Tomahawk hatte laut gesprochen. Es war nicht nur an seinem eigenen Tisch, sondern auch an dem der Kartenspieler bei seinen Worten still geworden, und alle schauten auf ihn und auf den jungen Dakota, Mattotaupas Sohn.

Der entlassene Gefangene rührte sich nicht und sagte nichts.

»Fügst du dich?«, fragte Schonka drohend.

Tokei-ihto blieb stumm.

Der Delaware empfand, was sich hinter dem Schweigen verbarg. Tobias selbst war auf einer Reservation geboren und hatte seit seinem 14. Lebensjahr unter Weißen gelebt. Dennoch war diesem Urenkel angesehener Ratsmänner niemals das Verständnis dafür verloren gegangen, wie ein Krieger und Häuptling dachte und handelte. Er fühlte die wachsende Spannung zwischen Schonka und Tokei-ihto, er ahnte auch, dass diese Feindschaft lange zurückreichen und bereits unausrottbar tiefgreifende Wurzeln haben musste. Andeutungen darüber waren Tobias schon oft zu Ohren gekommen. Schon bei den Knabenspielen hatte Tokei-ihto, der damals Harka genannt worden war, den um einige Jahre älteren Schonka stets übertroffen, nicht aufgrund von Muskelkraft oder Gewicht, sondern durch seine blitzschnelle Reaktionsfähigkeit und Entschlusskraft und durch seine körperliche Gewandtheit. Schonka war kein Charakter, der zu verlieren verstand. Tokei-ihto aber war weder der Knabe gewesen, noch war er der Mann, der einen bissigen Unterlegenen schonte. Vielleicht war der gegenwärtige Augenblick der erste in Schonkas Leben, in dem er sich seinem Stammesgenossen und ehemaligen Häuptling gegenüber ganz sicher und vollständig überlegen glauben durfte. Wer konnte ihn noch daran hindern, in dieser Lage seiner alten Feindseligkeit Genüge zu tun und Tokei-ihto zum Äußersten, damit auch in neue Gefangenschaft oder in den Tod zu treiben?

In jedem Bruchteil einer Sekunde konnte Tokei-ihtos Beherrschung zerreißen und der Kampf beginnen.

»Nur nicht immer so trocken!« Johnnys Bassstimme dröhnte in die gefahrenträchtige Stille hinein. »Das trockene Reden taugt überhaupt nichts. Erst einmal einen Drink, und dann beraten wir diese schwierige Angelegenheit weiter.« Er zwinkerte mit den Augen, und Tobias steckte dem dicken Wirt im Nu zwei Münzen in die Hosentasche. Johnny befingerte sie, und das Sümmchen schien ihm nicht übel zu gefallen. Im Umsehen standen gefüllte Becher vor den Lagerpolizisten. Schonka wandte sich von Tokei-ihto ab und dem Brandy zu. Auch Blutiger Tomahawk griff nach dem Becher.

»Oh, was sehe ich!«, hänselte Louis, der Kanadier. »Mister Agent hat den Sioux den Brandy verboten. Aber die Messieurs hier wollen einen Drink tun!«

»Den Oberpolizisten einen Doppelten!«, unterstützte Philipe seinen Betreuer und Gönner in der Spottrede, und es war dem Burschen anzusehen, wie er diese Indianer verachtete.

Schonka warf den Weißen nur einen zornigen Blick zu, aber Blutiger Tomahawk fühlte sich veranlasst, aus gereiztem Amtsbewusstsein heraus zu antworten. »Blutiger Tomahawk weiß selbst, was sich gehört und was nicht. Die entlassenen Rauhreiter haben darüber nicht zu bestimmen.«

Unterdessen hatte Johnny schon seinen Becher geleert und ihn mit einem »Zum Wohl!« auf den Tisch zurückgestellt. Blutiger Tomahawk gedachte, sein Ansehen in der Runde in der gleichen Weise wiederherzustellen. Auch er hob den Becher, gab Bescheid und goss den Branntwein hinunter. Die Leichtigkeit, mit der dies geschah, verriet, dass er heute nicht zum ersten Mal trank. Der uniformierte Geck mit der Reitpeitsche in der Hand hatte seinem Obersten anerkennend zugesehen und war entschlossen, es ihm augenblicklich nachzutun.

Aber er verschluckte sich, und prustend spie er den Alkohol wieder aus. Die Uniform bekam Flecke, und die Umsitzenden lachten ihn aus. Der junge Mensch wurde schamrot.

»Johnny mag mir sofort Wasser geben, damit ich meinen Rock reinigen kann! Es ist der Kriegsrock eines Generals!«

»Mein Cousin hat die Uniform von einem General!«, zog ihn der Kanadier auf. »Wer hat sie ihm gegeben? Hat er große Courage gezeigt, und der Große Vater in Washington hat ihm eine Uniform verliehen?«

»Nicht geliehen!«, erzürnte sich der junge Kerl. »Mein Name ist Tatokano, das heißt Antilope, und ich bin der jüngste Sohn von Alte Antilope. Für viele Biberfelle habe ich mir die Uniform gekauft.«

»Oh, Großer Vater hat verkauft diese Uniform von einem General an einen kleinen roten Bruder sehr teuer? Für hundert gestohlene Biberfelle, die die Dakota suchen?«

»Dass ich nicht lache, eine Generalsuniform!«, rief Pitt mit der Stummelnase, der eben im Würfelspiel gewonnen hatte. »Mein schöner Eddy, weißt du, was du bist? Ein Musikus, kein General! Wer hat dir denn den Bären aufgebunden?«

Die Lippen Eddy-Tatokanos zitterten. »Du verstehst nichts«, sagte er in verzweifelter Abwehr, während ihn schon das dumpfe Gefühl beschleichen mochte, dass Pitt recht habe. »Die Uniform ist aus Washington, und sie war die Uniform eines Reitergenerals vom einunddreißigsten Regiment. Ich habe es schriftlich!«

 

Jetzt erhob sich ein allgemeines Gelächter. »Schriftlich?! Zeig her!«

Dem schönen Eddy kamen fast die Tränen der Wut. »Hier!« Er zog einen kleinen bedruckten Zettel hervor.

»Gib mal her! Das wird ja interessant!« Der Kanadier streckte die Hand nach dem Zettel aus.

»Nein. Ich behalte ihn. Die weißen Männer dürfen ihn nur in meiner Hand lesen.« Eddy-Tatokano glättete sein Dokument auf dem Tisch und hielt es dann wieder in die Höhe. »Hier steht …«

»31. Januar 1876!«, las Johnny laut vor. »Und: ›Hochmut kommt vor dem Fall‹. Das ist ein schöner Kalenderzettel!«

»Oh«, seufzte der Geck bestürzt.

Der Kanadier klopfte ihm auf die Schulter. »Ja, mein kleiner Bruder, das stimmt. Du kannst dich nicht beklagen, dass du betrogen bist. Es ist die reine Wahrheit!«

»Aber …«

»Was denn aber«, lachte Johnny, dass sein dicker Bauch hupfte, »gar nichts aber! Die reine Wahrheit! Warst du hochmütig? Jawohl, wie ein frisch gemauserter Gockel! Bist du gestrauchelt? Jawohl, du sitzt da wie ein begossener Pudel. Bist du betrogen? Nein. Der Zettel hat recht. Ist es nicht wahr?«

Der schöne Eddy saß geknickt auf seinem Hocker und schüttelte den Kopf. Er wusste sich gegen diese Logik nicht zu helfen.

Johnny schob dem Betrübten einen gefüllten Becher hin. »Da, trink! Das tröstet!«

Es wurde dem Brandy weiter zugesprochen.

»Ja, ja«, schloss Johnny das Thema der Generalsuniform ab, »so sind die Menschen nun einmal. Du hast hundert gestohlene Biberfelle bezahlt, weil du sein willst, was du nicht bist, mein Sohn, und kürzlich war doch so ein Verrückter bei mir mit einer Brille und hat mir beinahe ebenso viele Dollars für einen Häuptlingsrock mit garantiert echten Skalplocken geboten! So einen, wie du anhast, Harry!« Der Wirt hatte sich bei den letzten Worten dem entlassenen Gefangenen zugewandt.

»Dieser Rock ist nicht zu verkaufen.« Um die Mundwinkel Tokei-ihtos trat ein sarkastischer Zug hervor.

»Schade! Aber deshalb sind die echten Sachen so teuer, weil sie kaum in den Handel kommen.«

Philipe blickte aus den Augenwinkeln auf diesen Dakota, der anders war als die anderen.

Der Blutige Tomahawk hatte den Kopf sinken lassen. Das Blut drang ihm zum Gehirn und beschwerte ihn mit missmutigen Gedanken. »Wir müssen doch nun wissen, was aus dem Sohn Mattotaupas wird!«

Schonka stand auf. »Ja. Zuerst müssen wir wissen, ob er noch Waffen außer dem Messer bei sich führt!«

»Nein, nur das Messer«, antwortete Tobias.

»Du bist nicht gefragt!«, wies Schonka den Delawaren zurück.

»Eddy-Tatokano!«, befahl er dann. »Durchsuche den Harry nach Waffen! Harry, steh auf! Und die Hände hoch!« Schonka hatte die Pistole gezogen, als er seinen Befehl gab, und steigerte sich mit einem Ruck der Schultern in eine noch anmaßendere Haltung hinein.

Es herrschte atemlose Stille im Raum. Langsam stand der Häuptling auf.

»Ich verstehe, dass ihr mich fürchtet«, sagte er und trat direkt vor Schonkas Pistole. Er nahm die Hände nicht hoch, zog aber den mit Blut befleckten Rock aus, so dass seine ausgezehrte Gestalt und unter einer Kette aus Bärenkrallen die tiefen Narben auf seiner Brust zu sehen waren. »Hier … Ich habe nichts bei mir als das Messer.«

Tatokano fühlte den Gürtel seines ehemaligen Häuptlings ab, ohne dass dieser ihn überhaupt zu bemerken schien.

Schonka steckte die Pistole wieder ein. »Ob du das Messer behalten darfst oder ob wir dich verhaften, entscheiden die weißen Männer.«

Tokei-ihto zog den Rock wieder an. Er war fahl. Der Husten schüttelte ihn; er vermochte ihn nicht mehr zu unterdrücken. »Schonka«, sprach er, als er wieder Atem hatte, »ich habe das Recht, zu erfahren, aus welchem Grund die Ratsversammlung gegen mich entschieden hat.«

»Ja«, antwortete Schonka, »dieses Recht hast du, und ich werde dir Bescheid geben. Du bist Mattotaupas Sohn?«

»Ja. Das wissen alle Dakota.«

»Mattotaupa hat bei einem Becher Zauberwasser seine Schwüre gebrochen und das Gold unserer Berge verraten. Spricht meine Zunge die Wahrheit?«

Der junge Häuptling schwieg.

»Sprich!«, forderte Schonka ihn auf. »Oder hat dein Mut dich schon verlassen?«

Der Angeschuldigte sah seinen Feind voll an. »Es ist wahr.«

»Du bist der Sohn eines Verräters! Deine Hand hat sich in zehn Wintern und zehn Sommern mit dem Blut deiner Brüder vom Stamme der Dakota gefärbt. Ist das wahr?«

»Ja.«

Die beiden Männer standen sich nahe gegenüber. Schonka hatte in der Grenzersprache gesprochen. Er wollte die weißen Männer als Zuhörer für die Demütigung seines ehemaligen Häuptlings haben. Dieser antwortete ihm in der Dakotasprache, die niemand außer den Stammesangehörigen und Tobias verstand.

»Du bist zu unseren Zelten zurückgekehrt«, fuhr Schonka fort. »Tatanka-yotanka befahl uns, dich wieder aufzunehmen. Das Vertrauen der Dakota wurde von den Ältesten und Häuptlingen in deine Hand gelegt. Du bist zu dem weißen Mann mit Namen Jackman geritten; du hast mit ihm gesprochen. Du hast gehört, dass der Große Vater aus freiem Willen der Bärenbande gutes Land in der Reservation geben wollte. Jetzt, nachdem das Blut unserer Väter und Brüder geflossen ist, mussten wir um deines Unverstandes willen in das schlechteste Land einziehen. Wie ein übermütiger Knabe hast du nein gesagt und die Totems der weisen Häuptlinge zerrissen. Ist das wahr?«

»Jackman bot mir selbst eine Sonderrente und für die Bärenbande gute Stücke Landes, wenn ich unterzeichnen wollte, was ich nach dem Beschluss unserer Ratsmänner nicht unterzeichnen durfte. Ich habe nein gesagt zu diesem Verrat, ich habe uns und unser Land nicht verkauft. Ich habe die Totems der Verräter zerrissen.«

»Du hast die Bärenbande um das gute Land betrogen, und deinetwegen muss sie jetzt hungern! Wir haben dein Zelt zerstört, und niemals wirst du zu uns zurückkehren.«

»Ihr hattet kein Recht, über mich zu beschließen, ohne mich zu hören. Ich verlange, dass du mich zu den Zelten der Bärenbande begleitest, so wie es auch die Langmesser erlaubt haben, und dass die Versammlung der Ältesten berufen wird, damit ich vor ihr berichte.«

»Du hast nichts zu verlangen! Wenn du nicht gehorchen willst, werde ich dich zu zwingen wissen! Setze dich hin und schweige, oder wir verhaften dich sofort! Wir alle wissen, dass du ein Parteigänger von Sitting Bull und Crazy Horse gewesen bist.«

Tobias schaute unentwegt auf den jungen Häuptling. Selbst ein Schonka hätte sich schämen sollen, diesen Mann, der aus Ketten krank zurückkehrte, auf eine so niederträchtige Weise zu begrüßen. Noch vor zwei Generationen wäre bei den Dakota ein solches Verhalten selbst unter persönlichen Rivalen unmöglich gewesen. Aber die Watschitschun hatten mit ihrem Brandy den Stamm gespalten und die alten Sitten zerstört, sie hatten das Selbstbewusstsein der freien Krieger zusammengeschossen, und sie kannten Bestechungsmittel genug, um elende Verräter zu machen.

Tokei-ihto gehorchte nicht. Er blieb stehen. Der Delaware erschrak von neuem. Wenn der entlassene Gefangene begann, Widerstand zu leisten, war er verloren.

Der riesige Johnny griff noch einmal ein. Er trat vor Schonka, schob ihn mit dem Schwergewicht seiner Person einfach zurück und drängte ihn auf den nächsten Stuhl. Schonka ließ sich das widerspruchslos gefallen. Er musste gute Gründe haben, sich mit dem Wirt nicht zu überwerfen. Wahrscheinlich hatte er schon zu oft dem verbotenen Branntwein zugesprochen und war dadurch von Johnny abhängig. »Was tobst du hier herum, Schonka!« Johnnys Trinkerstimme klang rauh und gebieterisch. »Wir trinken noch eins und sprechen weiter! Bei mir gibt es keine Hahnenkämpfe.«