Über den Missouri

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»Wo ist Tashunka-witko?«, fragte der Eintretende scharf, als ob er Polizeigewalt habe, denn er wusste schon, dass er sonst nicht so leicht ein Wort erhalten würde. »Ich komme vom Fort.« Sein beschlagenes Pferd und sein Revolver konnten ihn in dieser Beziehung in den Augen der Frau ausweisen.

Tokei-ihto kannte diese Frau flüchtig. Sie war die Mutter Tashunka-witkos, und er hatte sie vor fünf Jahren, bei einem großen Fest, in Tashunka-witkos Zelt gesehen. Sie hatte sich durch Hunger und Kummer verändert, aber nicht in dem Maße, wie der ausgezehrte Tokei-ihto, und es schien dem jungen Häuptling, dass sie ihn nicht erkannte.

Die Frau erhob sich schwerfällig und wischte sich die Hände ab. »Ich hole den Häuptling«, sagte sie. »Er ist nicht weit gegangen«, fügte sie hinzu, als ob sie vor dem Beauftragten der Agentur rechtfertigen müsse, dass der Verhasste und Verdächtige nicht in seinem Zelt anzutreffen war. Sie lief an dem ihr unbekannten Gast vorbei, um das Zelt zu verlassen, und er sah ihr nach.

Als die Frau aus dem Tipi hinaus- und zu den anderen Zelten hinübergegangen war, holte Tokei-ihto die beiden Ledersäcke mit den Konserven und dem Fleisch herein und stellte sie im Zelt ab. Er schloss einen Augenblick die Augen, denn er war erschöpft, und es schwindelte ihm. Der Schweiß brach ihm am ganzen Körper aus.

Aber seine Ohren blieben wach, und bald vernahm er den Schritt, der dem Zelt näher kam. Der Schnee knirschte leise unter Mokassins. Tokei-ihto stand in der Mitte bei der Feuerstelle und wartete, das Gesicht zum Zelteingang gewandt.

Tashunka-witko erschien.

Auch er war sehr abgemagert. Was er erlebt und auf sich genommen hatte, stand in seinem Antlitz zu lesen. Die Falten waren noch tiefer gezogen, die Schläfen und die Wangen waren hohl. Der Häuptling hatte die Lider gesenkt, und er sah Tokei-ihto nicht ins Gesicht. Aber sicher sah er den Revolver im Gürtel.

Der Oberhäuptling trat in sein Zelt ein, ließ den Vorhang am Zeltschlitz hinter sich wieder zufallen und blieb stehen. »Was ist?«

Das war die dunkle Stimme und die kurze Weise zu sprechen, die Tausenden von Dakotakriegern vertraut war.

Tokei-ihto antwortete nicht schnell. Er wartete, bis der andere sich gesammelt und ihn erkannt haben musste. Dann sagte er: »Du erkennst mich, Tashunka-witko. Weißt du, dass ich verraten und bis jetzt gefangen war?«

Tashunka-witko hob langsam die Lider und schaute dem Jüngeren in die Augen. »Was hast du gegeben und versprochen, um wieder frei zu werden?«

Obgleich Tokei-ihto sich eingestehen musste, dass sein Revolver im Gürtel und sein Auftreten gegenüber der Frau jeden Verdacht rechtfertigten, wurde er doch dunkel im Gesicht vor Zorn. »Meine Unterschrift, auf die Reservation zu gehen, gab ich – Häuptling Tashunka-witko.«

»Als Scout und Polizist der Langmesser?«

»So würdest du nicht sprechen, Häuptling, wenn du mir gar nicht mehr vertrautest.«

»Tokei-ihto!«

Die beiden Männer sagten nichts weiter. Sie standen sich lange gegenüber. Ihre Gedanken und ihr Fühlen rangen miteinander, begegneten sich und fanden endlich wieder zueinander. Sie standen zusammen unter einem Joch, das beiden schwer auf den Nacken drückte.

Endlich löste Tashunka-witko sich vom Platz. Er ging mit zwei Schritten auf den anderen zu, mit zwei langsamen, beinahe behutsamen Schritten ging er zu dem gleich kühnen, gleich verratenen und besiegten, zu dem ausgezehrten, von Krankheit geschüttelten und immernoch aufrechten Mann. Er öffnete die Arme und zog den Jüngeren an seine Brust.

»Mein Bruder!«, sagte er noch einmal, sehr leise. »Ich habe nicht mehr geglaubt, dass ich dich noch einmal wiedersehe.«

»Du bist mein Häuptling, Tashunka-witko, darum komme ich zu dir.«

Den Männern standen die Tränen in den Augen. Sie schämten sich nicht voreinander. Aus ihren Zügen verlor sich die Gespanntheit, und es breitete sich jene Trauer darüber, die das Menschenantlitz des Unterlegenen so viel edler macht als das des glücklichen Siegers.

Sie lösten die Arme wieder, und mit der stummen und unsicheren Verlegenheit, die den hart gewordenen Menschen nach der Äußerung eines Gefühls beschleicht, wichen sie sich aus, mit den Augen, mit den Schritten, fast auch mit den Gedanken. Dann fanden sie zu dem Gleichmut zurück, den sie von Kind auf erlernt hatten. Es war die schlichte äußere Form einer anhaltenden, tiefen Bewegung.

Tashunka-witko bat seinen Gast, sich zu setzen, und ließ sich mit ihm zusammen auf dem kahlen Boden nieder. Die Mutter kam herein und beschäftigte sich wieder damit, die Yucca-Wurzeln zu schaben.

Die beiden Häuptlinge begannen zu rauchen. Mit sparsamen Worten, mit vielen Atempausen und von Husten unterbrochen berichtete Tokei-ihto, was alles seit seiner Freilassung geschehen war, bis er endlich das Zelt seines Oberhäuptlings betreten hatte. »Die Langmesser haben mir befohlen, und ich habe unterschrieben, auf die Reservation zu gehen«, schloss er. »Aber auch dort wollen sie mich nicht dulden. Dieser Sekretär Charly und die Verräter unter unseren eigenen Kriegern spielen sich den Ball zu. Sie wünschen gar nichts, als mich wieder gefangenzunehmen und mich nie mehr lebend freizugeben.«

»Was hast du vor?«

»Was rätst du mir?«

Tashunka-witko kämpfte mit den Worten, so wie er in Gedanken und in seinem Herzen täglich noch mit dem Geschehen rang. »Wir sollen hier leben – wie die Kojoten – ohne Waffen – verachtet, bettelnd. Sie sagen, ich solle zu dem ›Großen Vater‹ in Washington gehen. Über mir aber ist nur das Allmächtige Geheimnis; ich kenne keinen weißen Vater über mir, und ich will meine Brüder nicht verlassen. Die Watschitschun lauern wie die blutgierigen Luchse, wann sie mich ermorden und meine Krieger zerstreuen und irgendwo einpferchen können. In den Zelten umher haben sie Verräter zwischen uns angesiedelt. Ich darf dir kein Obdach geben, Tokei-ihto – mein Bruder.«

»Bleibst du selbst hier?«

Tashunka-witko antwortete der schnellen und beinahe heftigen Frage mit Zögern, aber auch mit Festigkeit. »Ich bleibe. Ein Häuptling verlässt seine Krieger nicht. Ich kann meine Männer auch nicht wieder fortführen. Wir waren unserer zweitausend und in Waffen. Wenn wir jetzt ohne Waffen noch einmal aufstehen – das wäre noch vergeblicher als …«

Der Häuptling brach ab und lauschte. Auch Tokei-ihto horchte. Im Zeltlager war Unruhe entstanden. Die Häuptlinge hörten Stimmen, die unverkennbar Stimmen von Dragonern waren. Schritte eilten herbei, leichte und dahinter schwere.

Die Häuptlinge blieben sitzen und rauchten. Die Frau tat ihre Arbeit weiter.

An der Zeltöffnung erschien ein Indianer in der bunten Kleidung des Halbzivilisierten. Hinter ihm standen drei Dragoner; sie hatten die Pistolen gezogen. »Wer bist du, und was suchst du hier?«, fragte der Indianer den fremden Gast in der Sprache der Dakota.

»Scout und Beauftragter von Douglas Finley & Co.«, antwortete der junge Häuptling auf Englisch, zu den Dragonern gewandt. Er war nicht aufgestanden.

»Hast du Papiere?«

»Für dich nicht, du räudige Kojotenhaut ohne Herz und Nieren, aber für den Capt’n.« Tokei-ihto erhob sich und ging langsam, in ruhig wirkender Haltung zum Zelteingang. Die Dragoner steckten die Pistolen wieder ein. Der junge Häuptling benutzte diesen Augenblick und warf den Halbzivilisierten mit einem raschen Schwung in den Schnee. Das war der einzige Ausbruch seines Grimms, den er sich gestattete, und schon lächelte er die Dragoner wieder freundlich-hintergründig an. »Wo ist der Capt’n?« Dabei holte er die Firmenkarte mit den Stempeln hervor und spielte so damit, dass die Uniformierten sahen, dass ein mehrfach gestempeltes Papier vorhanden war.

»Schon gut!«, sagte der eine. »Was machst du bei Crazy Horse da drin?«

»Ein paar Sachen einhandeln für Finley junior persönlich. So schnell geht das nicht.«

Die Dragoner hatten keine Ahnung, wer Finley sein könnte, aber sie wagten auch nicht mehr zu bezweifeln, dass dieser Name mit der Kommandantur zusammenhing und von Bedeutung war.

»Wo gehst du von hier aus hin?«

»Zum Fort und morgen früh mit Kurierpost weg. Capt’n Elsworthy.«

»Danke.«

Die drei zogen ab.

Tokei-ihto setzte sich wieder zu Tashunka-witko. »Eure Verräter arbeiten sehr schnell«, sagte er. »Ich muss jetzt etwas von dir einhandeln, damit ich die Konserven und das frische Fleisch zu Recht hier lassen kann. Sonst errege ich Verdacht.«

»Was für Fleisch?«

Tokei-ihto öffnete die Ledersäcke und begann auszupacken.

Die Frau schaute erstaunt zu.

»Sie haben dir unsere Ration mitgegeben?«, fragte Tashunka-witko.

»Das ist nicht eure Ration. Die Rationen bekommen deine Männer morgen bei dem Fort. Es wird aber niemand sagen dürfen, du habest gestohlen. Hier!« Tokei-ihto gab dem Häuptling die Karte mit den Stempeln; die Mengen waren darauf verzeichnet.

»Was können wir dafür geben? Wir haben nicht mehr viel. Im Kampf und auf dem Rückzug mussten wir fast alle Habe zurücklassen.« Tashunka-witko biss sich auf die Lippen.

»Nichts sollt ihr verschenken, Bruder. Wenn es so weit wäre, würde ich meine eigenen Sachen dahingeben. Die Aasgeier werden die Zeichen unserer Taten nicht erhalten. Deine Mutter mag irgendwelche Lederstücke bemalen. Bis zum Abend ist dafür Zeit. Finley versteht unsere Sitten und unsere Kunst nicht; er wird alles kaufen.«

»Du kennst die Watschitschun, mein Bruder.«

»Alles, was ich von ihnen weiß, ist mit Blut bezahlt.«

Der Häuptling gab seiner Mutter einen Wink, dem Rat Tokei-ihtos zu folgen, und sie ging hinaus, um bei Kindern und Verwandten Leder und Farben zusammenzusuchen und ihnen zu erzählen, dass es frisches, gutes Fleisch dafür geben würde.

 

Die beiden Männer blieben wieder allein.

Tokei-ihto holte von dem Tabak hervor, den Tobias ihm geschenkt hatte, und überließ ihn Tashunka-witko. Draußen sank der Schnee lautlos. In dem Zelt blieb es auch über Mittag dämmrig. Tokei-ihto wollte sich auf dem kahlen Boden ausstrecken, um zu schlafen, da der Abend und die Nacht ihm mit neuen Anstrengungen bevorstanden. Der Häuptling gab ihm eine Decke; es war eine Wolldecke, und sie taugte nicht viel, aber Tokei-ihto nahm sie mit einer schmerzlichen Rührung, weil Tashunka-witko wie ein Bruder um ihn besorgt war. Der Erschöpfte schlief ein, und es war ihm beim Erwachen, als ob er leichter atmen könne und sein Fieber nachlasse.

Die Frau machte Feuer, der Rauch zog ab. Sie hatte Lederstücke, auch Baumwolltuch herbeigeschafft, und begann mit Farben zu malen. Das war keine Weiber-, sondern Männerarbeit; Frauen bemalten Töpfe und bestickten die Kleidung, aber sie malten nicht die Geschichte der Männertaten. Tashunka-witko und Tokei-ihto beobachteten, was sie auf Leder und Stoff auftrug. Es waren Zauberzeichen, böse Zauberzeichen, nichts als Flüche der Unterlegenen, Betrogenen und Misshandelten.

Tokei-ihto schnitt einige Streifen des frischen Fleisches auf und röstete sie für Tashunka-witko und für sich selbst. Als die Frau alles vollendet, zusammengelegt und in die Ledertaschen eingepackt hatte, gab er auch ihr von dem Fleisch ab und öffnete mit dem Messer zwei Dosen. Der Inhalt stank nicht; das Salzfleisch war saftig.

Die Frau nahm aber nichts von dem Fleisch, sondern lief fort, um es den Kindern im Zeltlager zu bringen.

»Kann ich das übrige auf alle Zelte verteilen, so wie wir immer teilen?«, fragte Tashunka-witko.

»Das kannst du. In den Büchern steht noch mehr auf eurem Namen.«

Die Stunden liefen dahin. Die Männer wussten, dass mit dem Abend auch der Abschied für immer kam.

Es hatte aufgehört zu schneien. Die Wolken verzogen sich ganz, und die sinkende Sonne ließ ihre Strahlen mit dunklem Gold über die Schneekristalle gleiten.

»Was rätst du mir? Wohin sendet mich dein Wort, mein Häuptling?«

»Was planst du, Tokei-ihto – Sohn der Großen Bärin?«

»Ich werde es dir sagen, Tashunka-witko. Aber zuvor lasse mich wissen, wie sie euch nach euren Siegen besiegen und fangen konnten. Das müssen meine Ohren gehört haben, ehe meine Zunge sprechen kann.«

»Wir waren unserer achttausend, Männer, Frauen und Kinder«, sprach Tashunka-witko, und er sprach wieder langsam, denn alle Worte bereiteten ihm die Qual des Erinnerns. »Tatanka-yotanka und ich führten unsere Krieger. Wir hatten gesiegt und hatten die Langmesser, die uns angriffen, erschlagen, aber neue Scharen rückten heran, und wir bekamen keine Munition mehr. Wir teilten uns, um dadurch auch die Langmesser zu spalten und irrezuführen. Tatanka-yotanka zog im Schutz eines Präriebrandes, den er selbst hatte legen lassen, nordwärts; ich weiß nicht, wohin; ich weiß nicht, wie weit. Wir haben nichts mehr voneinander erfahren. Ich wollte meine Schar vor den Langmessern verbergen und nach Kanada führen; wir waren zweitausend. Aber der Verräter überall waren zu viele; und General Miles und seine Männer fanden uns am Tonguefluss, da, wo er einmündet in den Gelbsteinstrom. Sie schossen aus dicken Rohren; Feuer und ein Regen von zackigen Splittern töteten unsere Männer und unsere Mustangs. Wir kämpften dennoch. Viele von uns hatten nur noch das Schlachtbeil. Manche von uns wurden gefangen. Der Schnee lag schon hoch. Wir mussten viele Zelte und die meiste Habe zurücklassen; unsere Mustangs brachen zusammen, unsere Kinder erfroren, unsere Büchsen schossen nicht mehr. Unsere Gefangenen kehrten zurück; sie waren satt und berichteten uns von der Güte der weißen Männer. Da wurden die Herzen unserer Krieger traurig, und die anderen Häuptlinge drangen in mich, die Waffen niederzulegen, ehe unsere Kinder alle sterben müssten. – Wir haben uns den Langmessern ergeben.«

Tashunka-witko machte eine Pause, dann zwang er sich weiterzusprechen. »Die Langmesser legten das schöne Gesicht ab und zeigten uns die spitzen Zähne. Durch Schnee und Eis haben sie uns hierhergetrieben. Hier hast du uns gefunden, Tokei-ihto. Du hast genug gesehen, und du hast alles gehört. Was planst du?«

»Die Söhne der Großen Bärin ziehen nordwärts über den Missouri.«

»Du hast alles gehört.«

»Hau. In unseren Zelten leben nicht viel mehr als hundert Männer, Frauen und Kinder. Es ist nicht leicht, uns zu finden, und die Langmesser werden ihre Geschütze nicht gegen unser Häuflein auffahren. Ich gehe.«

»Im Schnee?«

»Auch im Schnee.«

»Du wagst es?«

»Ich habe gesprochen, hau.«

Tokei-ihto erhob sich.

Die Männer umarmten sich noch einmal, und aus den Augen Tashunka-witkos stürzten die Tränen, da er denjenigen, den er sich zum Bruder gewünscht, an diesem Tag gefunden hatte und ihn auch wieder hergab.

Als die beiden Häuptlinge ihr Bild zum letzten Mal mit den Augen aufnahmen und sich zum letzten Mal als lebende Menschen im Druck ihrer Hände fühlen konnten, spürten sie auch schon die Kräfte, die sie noch über die Trennung hinweg verbinden würden, und der Jüngere wusste, was er mit sich nahm, um es zu bewahren und fortzupflanzen.

Tashunka-witko begleitete seinen Gast bis vor das Zelt. Die Sonne sank, die Schatten überdeckten das Land, und der Nachtwind begann zu pfeifen. Der Häuptling gab dem Jüngeren seine Signalpfeife, seine kleine rote Kriegspfeife und ein dünnes Leder. Auf dem Leder war sein Totem verzeichnet, das dem gehören sollte, der Tashunka-witkos Bruder und der Erbe seiner Kraft geworden war.

»Wenn die Langmesser mich hier ermorden werden«, sagte der Häuptling zuletzt, »so lehre unsere Knaben, dass sie sich ihrer Väter nicht zu schämen brauchen.«

»Dein Name wird nicht vergessen, Tashunka-witko.« Die Stimme des jungen Dakota war heiser. Seine Hand, die so oft die Waffen geführt hatte, ballte sich.

Tokei-ihto sprang auf das Pferd, das gut gestriegelt und sanft war und fror. Aber er dachte dabei an seinen Falben, der auf ihn wartete. Er verwahrte das Totem, die Signalpfeife und die Kriegspfeife in dem Wampumgürtel, den er einst als Vermächtnis des verratenen Häuptlings Osceola erhalten hatte.

Dann trieb er sein Pferd an, um wieder zu der Agentur und zu Johnnys Gaststube hinüberzureiten. Er traf den Delawaren an, der ihm berichtete. Es war so gekommen, wie Tokei-ihto vorausgesagt hatte. Blutiger Tomahawk war mit seinen Leuten beschämt abgezogen. Fred Clarke – Red Fox – hatte noch nichts erfahren, auch nicht auf dem Wege über den Sekretär Charly. Schonka hatte seine Alkoholvergiftung überwunden. Er raste und plante, mit drei Mann bei der Bärenbande zu kontrollieren, um Tokei-ihto, der sich unerlaubt entfernt hatte, auf das Fort zu bringen oder ihn, wenn er Widerstand leistete, sofort zu töten.

Nachdem Tokei-ihto von all dem unterrichtet war, trennte er sich wieder von Tobias.

Er trieb den Falben an und war den Augen des nachblickenden Delawaren bald entschwunden.

Der Ritt ging durch leicht verschneites Gelände. Der Wind pfiff, und der entlassene Gefangene hatte nur den Sommerrock an. Was ihn wärmte, war das Fieber. Auch der rauheste Militärarzt würde dem Dakota gesagt haben, dass ein solcher Ritt als sein Todesritt enden müsse. Aber der Indianer wusste in diesem Augenblick nichts von Tod. Er fühlte den Boden der Prärie, den die Hufe des Mustangs schlugen; vor ihm lag die dunstige Ferne, die seine Augen kannten, seit er sie das erste Mal geöffnet hatte, und in seinen Gedanken wohnte ein Name: Tashunka-witko.

Der Falbe jagte dahin. Sein Körper federte und schwang. Er hatte alles, was er als weiße Männer, als Koppel und Stall witterte, hassen gelernt, und es brach in ihm wieder etwas von der Wildheit des »Outlaw«, des außerhalb der Gesetze Stehenden, hervor, von der sein Reiter ihn einst mit Kraft und leisen Liedern geheilt hatte.

Der einsame Reiter wusste, dass er nur mit der Schnelligkeit dieses Tieres, mit dem er sich eins fühlte, sein weitgestecktes Ziel vor allen Verfolgern erreichen konnte. Er legte eine lange ebene Strecke vor den Ausläufern der Black Hills zurück und gelangte zwischen die Höhenzüge, in die Wellentäler der unfruchtbaren und öden Prärie, mit der die Reservation im Nordwesten begann. Die Wintersonne schien über gelbgraue Flächen. Hartes Gras, Yucca und Kakteen hatten sich hier angesiedelt. Wasser war schwer zu finden, und der Dakota erlaubte seinem Mustang zu saufen, als er eine der wenigen Wasserstellen fand. Er selbst lief auf den nächsten Hügelkamm hinauf, spähte und horchte. Es konnte sein, dass das Grenzgebiet der Reservation von Kavallerie kontrolliert wurde.

Aber die Einöde blieb still. Nichts regte sich.

Es ging dem Abend zu. Der Wind wurde eisig. Tokei-ihto setzte den Ritt fort. Die Anhöhen wurden steiler. Sandig, dürr, von verwitterten, kahlen Felsen durchzogen war das Land. Im Westen war die Sonne gesunken; am Horizont zeichneten sich noch die waldigen Höhenzüge der Black Hills ab.

Am späten Abend machte der Dakota wieder halt. Er ließ den Falben am Fuße eines Felsen stehen. Das Tier knabberte an den Grasbüscheln, deren Wurzeln sich in Sand und hartgefrorenem Lehm festklammerten. Ohitika setzte sich zu dem Mustang; die Zunge hing ihm aus dem Maul.

Der Heimkehrende erstieg den Felsen und spähte.

In der Ferne erkannte er den Überrest des versickerten Tümpels; die letzte Feuchtigkeit war zu einer dünnen Eisdecke gefroren. Dort standen die Zelte, am östlichen Ende befand sich eine Pferdeherde. Der Lauschende vernahm durch die vollständige Stille der Landschaft das Heulen der hungrigen Hunde bei dem Dorf. Er sah einzelne Menschen, Frauen und Kinder, ohne sie genauer erkennen zu können. Sie schienen hin und her zu gehen, am Abend noch einmal Ausschau zu halten.

Das musste das Dorf der Bärenbande sein. Zwischen dem Felsen, von dem Tokei-ihto spähte, und den Zelten lief noch eine flache Bodenwelle. Der Dakota wollte sie als näheren Aussichtspunkt benutzen. Er ließ seine Tiere, den Hengst und den Hund, zurück und schlich sich weiter. Auf dem Kamm der Bodenwelle blieb er liegen und fasste jetzt das Dorf genauer ins Auge. Er erkannte jedes einzelne Zelt wieder, aber er sah auch, dass das seine fehlte.

Er beobachtete vier Kinder. Es waren zwei Jungen und zwei Mädchen. Sie waren mit einem Haufen von Konservendosen beschäftigt, und der Nordwind trug den Geruch verdorbenen Fleisches mit sich. Die Kinder bauten drei Pyramiden aus den Dosen, und zwar so, dass jeder, der aus der Gegend der Agentur kam, die Dosen sehen und riechen musste. Es war ein Willkommen für alle Beauftragten des Agenten und des Red Fox.

Die Hunde bissen sich um die Reste eines Rinderkadavers. Nirgends erklang ein Lied, und keine Flöte sang, keine Trommel rührte sich. Totenstill war es in diesem Dorf des Hungers und der Unterwerfung.

Nicht weit von den Kindern ging ein einzelner, hinkender Mann.

Tokei-ihto hatte diesen Mann erkannt. Sein Haar war kraus; dadurch unterschied er sich von allen anderen Dakota. Auch die Kinder erkannte der Heimkehrende; die beiden Anführer des Bundes der Jungen Hunde, Hapedah und Tschaske, und die Freundinnen Blitzwolke und Eidechse. Aber er wartete noch. Als sich lange niemand anders bei den Zelten zeigte, schrie er wie eine Krähe. Tschapa Kraushaar blieb stehen, schaute auf und suchte nach dem Vogel, auch die Kinder hatten den Kopf gehoben. Sie mochten sich wundern, keine Krähe zu sehen, aber sie schienen auch nicht erfasst zu haben, dass der Schrei nur eine Nachahmung gewesen war. In ihrem früheren, freien Leben hätten sie sicher mehr Vorsicht gebraucht. Aber jetzt waren sie abgestumpft.

Ein Zelt öffnete sich, und ein Mädchen trat heraus. Ihre Haare waren kurzgeschnitten und fielen nur bis zur Schulter. Sie lauschte. Hatte sie den Schrei gehört? Sie musste ihn gehört und verstanden haben. Wie absichtslos ging sie von den Zelten fort, der Bodenwelle zu, auf der Tokei-ihto lag. Er erkannte seine Schwester Uinonah und sah ihre Züge schon deutlich. Größer noch als sonst schienen ihre Augen in dem eingefallenen Gesicht.

Sie erreichte den Kamm der Bodenwelle. Der Wind wehte um sie.

Tokei-ihto war an der dem Dorf abgewandten Seite des Hügels ein Stück hinuntergeglitten und erhob sich jetzt, ohne dass er von den Zelten aus gesehen werden konnte. Die Schwester kam zu ihm.

Uinonah glaubte, das Herz müsse ihr stocken, als sie dem Totgeglaubten, aber immer wieder als lebend Erträumten gegenüberstand. Wortlos, wie einst der Abschied gewesen war, blieb auch das Wiedersehen der Geschwister.

 

Nach dieser Stille des Wiedersehens fragte Tokei-ihto kurz und mit bedeckter Stimme: »Habt ihr Verräter in den Zelten?«

»Die Verräter sind fortgeritten im Dienste der Langmesser. Hyazinthe ist da, Schonkas Frau, aber ihre Zunge spricht kein Wort.«

»Gehen wir!«

Die Geschwister schritten miteinander über den Hügel und den Hang hinunter dem Dorf zu. Es war nur ein kurzer Weg, aber die Geschwister gingen sehr langsam. Mit jedem verhaltenen Schritt, den er an der Seite der Schwester tat, feierte der junge Häuptling die Heimkehr zu den Seinen. Uinonah aber fühlte den Bruder mit einer noch nicht zu bewältigenden Freude in dem gleichen Schritt neben sich.

Endlich trafen die Geschwister auf Tschapa Kraushaar, der ihnen entgegenschaute.

»Du bist’s!« Der Mann strich sich über die Augen, um sich zu vergewissern, dass er recht sehe. »Komm, mein Bruder, mein Häuptling – wir gehen in Tschetansapas Zelt.«

Die vier Kinder schauten der kleinen Gruppe nach, die in dem genannten Zelt verschwand. Es war den Jungen und Mädchen zumute, als ob ein Wunder geschehen sei. Es war das Wunder, auf das Uinonah immer gewartet hatte. Ihr Bruder war wiedergekommen. Das war ein unfassbar großer Augenblick.

Als der junge Häuptling mit Kraushaar und Uinonah in das große Tipi eintrat, suchten seine Augen im Dämmerlicht sofort den Herrn des Zeltes. Tschetansapa war nicht anwesend. Nur Mongschongschah, seine Frau, saß da und streichelte unablässig die Kindertrage. An dem Reifen, der vor dem Kopfteil der Trage zum Schutz des Kinderköpfchens angebracht war, hingen zwischen schwarzen Federn noch die Spielsachen, mit denen die kleinen Hände gespielt hatten.

Tokei-ihto und Tschapa Kraushaar ließen sich miteinander am Feuer nieder. Uinonah ging zu Mongschongschah und setzte sich zu ihr.

»Da bist du wieder.« Tschapa holte tief Atem. »Hier zu uns bist du gekommen.«

Die Schwester brachte dem Bruder einen Beutel Beeren. Er aß sie auf.

»Eure Mustangs habt ihr noch nicht alle geschlachtet«, sagte der junge Häuptling schließlich, und niemand von denen, die diese Worte hörten, konnte ahnen, warum er gerade davon und zuerst von den Pferden sprach.

»Hawandschita, der Zaubermann, wollte es nicht. Erst sollen wir selbst verhungern und dann die Mustangs«, gab Tschapa Kraushaar Auskunft.

»Wollt ihr hier verhungern?« Der Häuptling begann knapp und scharf zu sprechen, wie vor einem Gefecht. Er saß seinem Jugendgefährten gegenüber, aber er fühlte sich unter Männern, die sein Zelt zerstört hatten, während er gefangen gewesen war.

»Verhungern?«, antwortete Tschapa, etwas verwirrt, schwankend zwischen weicher Freude und einem Aufbegehren. »Verhungern? Wer fragt danach außer dir? Für die Langmesser ist ein toter Dakota der beste Dakota.«

»Ihr aber wollt leben?«

Tschapa riss sich aus seinen Empfindungen heraus und antwortete nun in der gleichen Weise, in der der Heimgekehrte ihn gefragt hatte. »Wir müssen es versuchen. Wenn der Frühling kommt, kann etwas Vieh grasen … Wir könnten auch säen …«

»Auf diesem Boden?«

»Wir haben keinen anderen mehr.«

»Ihr habt beschlossen, mein Zelt zu zerstören und mich nicht mehr bei euren Tipis aufzunehmen?«

Tschapa senkte den Blick. »Die Verräter kamen und zerstörten das Zelt. Dann sprach Schonka vor der Ratsversammlung. Die Waffen waren in seiner Hand. Unsere Ratsmänner schwiegen. Mein Bruder und Häuptling … Wir haben geglaubt, dass du schon lange tot seiest.«

»Alle schwiegen?«

»Nein, Tschetansapa sprach für dich. Er kämpfte. Rotflügel ist an seinem Messerstich gestorben. Tschetansapa musste fliehen und hält sich in den Felsen verborgen.«

»Gehe hin zu dem alten Zaubermann Hawandschita und bitte ihn, die Ratsversammlung sofort einzuberufen. Ich will den Männern der Bärenbande berichten und ihnen sagen, was wir jetzt zu tun haben.«

»Sofort? Es ist Nacht.«

»Sofort«, wiederholte der Heimgekehrte im Ton eines nicht abweisbaren Befehls.

»Hau. Du bist heimgekommen. Ich erfülle deinen ersten Wunsch.« Tschapa erhob sich und hinkte aus dem Zelt hinaus. Er hatte aus den vergangenen Kämpfen eine Verletzung am Bein davongetragen.

Der junge Häuptling blieb still am Feuer sitzen. Er hatte sich prüfend umgesehen. Das Tipi war noch so reich ausgestattet wie ehedem. Die Zelte der Bärenbande waren nicht in die verlustreichen Kämpfe nördlich der Black Hills einbezogen gewesen, und die Familien besaßen noch alle ihre Habe außer den Waffen. Tokei-ihto beobachtete unauffällig seine Schwester und versuchte dabei, über seine eigene Erregung Herr zu bleiben. Uinonah nähte an einem Büffelpelzrock mit nach innen gekehrter Fellseite, wie ihn die Dakota im Winter zu tragen pflegten. Ihre Hände führten die aus Bein geschnitzte Ahle leicht und sicher, und sie schien ganz vertieft in ihre Tätigkeit. Eben tat sie die letzten Stiche, verwahrte das Ende der Sehne, die ihr als Faden gedient hatte, zog die Ahle heraus und ließ sie in ihre gestickte Tasche am Gürtel gleiten. Sie hob den fertigen Rock mit beiden Händen in die Höhe und betrachtete prüfend ihr Werk. Alles schien gut. Sie stand auf, schlug das auf dem Boden liegende riesige Bärenfell auseinander und holte ein Paar pelzgefütterte Mokassins heraus. Den Rock und die Schuhe brachte sie ihrem Bruder, dazu ein Töpfchen Bärenfett und Lederlappen, damit er sich in der gewohnten Weise einsalben und kleiden konnte. Er dankte mit einem Blick und zog sich um. Uinonah hatte unterdessen einen Holzrahmen mit angefangenem Sehnennetz hervorgeholt und spannte die Sehnen weiter kreuz und quer. Beim hohen Schnee benutzten die Dakota Schneereifen mit aufgebogener Spitze, um nicht einzubrechen. Es war Zeit, dass Uinonah die Arbeit vollendete, denn der Himmel war grau und die Luft schwer und feucht von kommendem Schnee.

Mongschongschah, »Die sich beugende Weide«, arbeitete nicht. Stumm, als ob der Schmerz ihre Vernunft lähmte, saß sie an ihrem dunklen Platz und streichelte unablässig die leere Kindertrage.

Uinonah stellte die Schneereifen fertig, noch ehe Tschapa zurückkehrte. Er blieb sehr lange aus.

Tokei-ihto ging zu dem Bärenfell und ließ sich von der Schwester zeigen, was es noch enthielt. Uinonah schlug noch eine Lederdecke um, so dass ein Stück des Bodens sichtbar wurde, und zeigte ihrem Bruder ein Stück Grasnarbe, das abgestochen war und sich herausheben ließ. Darunter wurde ein Paket mit Waffen sichtbar, die der junge Häuptling bei seinem Ritt als Parlamentär ein Jahr zuvor nicht nach dem Fort mitgenommen, sondern im Dorf gelassen hatte: sein weißer Knochenbogen, eine elastische Keule und eine Streitaxt. Diese Waffen waren auf der Reservation verboten. Uinonah versteckte sie wieder sorgfältig.

Tokei-ihto sah auf dem Boden auch die schweren Lederplanen seines eigenen Zeltes liegen. Das Wissen darum, dass Waffen und Zeltplanen aufbewahrt worden waren, gab ihm Kraft.

»Sie haben schon oft in diesem Zelt gesucht, Schonka und seine Gehilfen«, berichtete Uinonah dem Bruder. »Wenn sie in das Dorf kommen, durchsuchen sie immer dieses Tipi nach Waffen. Aber noch haben sie nichts gefunden.«

Der Häuptling setzte sich wieder an das Feuer. Auf seinen Wangen brannten Fieberflecke. Ein Schwitzbad wäre gut gewesen. Aber er hatte keine Zeit dazu. Kam Tschapa Kraushaar noch immer nicht zurück? Machte Hawandschita Schwierigkeiten? Dieser mächtige alte Zaubermann des Dorfes und der junge Kriegshäuptling hatten einander noch nie gut verstanden.

Die einzige im Zeltdorf, die dem Geheimnismann mit ihrem Ansehen als Zauberfrau erfolgreich hatte entgegentreten können, war Untschida gewesen, die Mutter Mattotaupas.