Über den Missouri

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»Lebt unsere alte Mutter nicht mehr?«, fragte der Heimgekehrte aus diesem Gedankengang heraus. Uinonah kannte den Bruder und spürte den Bruch in seiner Stimme.

»Sie lebt noch – in Hawandschitas Zelt.«

Tokei-ihto sagte dazu nichts. Er wartete weiter, bis Tschapa zurückkommen würde. Es währte lang, und der junge Häuptling blieb allein am Feuer. Keiner der Krieger kam, um ihn zu begrüßen. Hatte Tschapa Kraushaar die Botschaft von der Heimkehr des Verratenen und Gefangenen noch nicht in die anderen Zelte zu tragen gewagt? Und hatte wirklich keiner der Männer den einstigen Häuptling kommen – und mit Freuden kommen sehen?

Während der Heimgekehrte am Feuer wartete und sein Wille und seine Gedanken sich immer härter und in einer immer schwerer aufzubrechenden Weise um alle seine Empfindungen schlossen, saßen im Zauberzelt drei Menschen. Sie gehörten drei verschiedenen Lebensaltern an: Hawandschita, der mehr als Neunzigjährige – Untschida, die mehr als Sechzigjährige – Tschapa Kraushaar, der erst vierundzwanzig Sommer gesehen hatte.

Tschapa hatte berichtet.

Hawandschita starrte in die kleinen unruhigen Flammen des Zeltfeuers. Untschida, die abseits saß, beobachtete den Zaubermann. Sein altes Gesicht war wie eine Holzmaske geworden, furchenreich, unveränderlich, dunkel unter dem weißen Haar. Seine Lippen waren schmal, aber der Mund war nicht eingefallen. Es war schwer, den Zauberer zu enträtseln, denn er selbst rätselte und wühlte in sich herum und vermochte sich und sein Leben nicht mehr zu durchschauen.

Nun war dieser Tokei-ihto wieder heimgekommen.

Hawandschita erinnerte sich sehr genau des Tages, an dem ihm der Sohn Mattotaupas, der als Knabe den Namen Harka trug, zum ersten Mal als Feind erschienen war. Neun Winter hatte der Häuptlingssohn damals gesehen gehabt, und die Zelte der Bärenbande standen noch auf der Wiese am Südhang der Black Hills. Es war ein köstlicher Vorfrühlingstag gewesen. Der Waldboden fraß glucksend den Schnee, ein Vogel sang, die Zweige schüttelten die tauenden weißen Lasten ab und stäubten sie den Menschen in den Nacken, den Mustangs auf das Winterfell. Die meisten der Männer und Burschen waren auf Jagd unterwegs. Hawandschita aber, der alte Zaubermann, hatte damals einen bedeutenden Tag für sich anbrechen sehen.

Er wollte sich an jenem Tag unter den Knaben einen neuen Gehilfen wählen. Sieben Jahre hatte er bis dahin ohne Gehilfen gearbeitet, da sein Handlanger und Nachfolger in der Zauberkunst bei den Kämpfen mit den Absaroka umgekommen war. Der Zauberer aber war schon damals alt und wurde älter, und ehe er den hundertsten Winter und Sommer sah, wollte er wieder einen vollgültigen Erben seiner Geheimnisse herangezogen haben. Lange hatte er unter den Knaben des Zeltdorfes Umschau gehalten, und seine stille Wahl war endlich auf Harka Steinhart Nachtauge, den ältesten Sohn Mattotaupas, gefallen. Hawandschita wusste, dass die Wahl zum Zaubergehilfen und späteren Zaubermann für jeden Knaben und für jeden Vater eines Knaben die höchste, von allen heimlich erhoffte Ehre war.

Harka Steinhart Nachtauge schien alle Eigenschaften zu besitzen, die Hawandschita verlangen musste. Er war klug, kräftig, verschwiegen und beherrscht, soweit dies von einem Kind schon verlangt werden konnte. Hawandschita wollte den Knaben an jenem Vorfrühlingstag zum letzten Mal beobachten, ehe er am Abend in das Zelt des Vaters ging und die Entschließung mitteilte. Die Nacht davor war glücklich verlaufen. Im Traumgesicht war dem Alten eine große Schlange erschienen, mit der er vor bedeutenden Entscheidungen immer im Trancezustand sprach und deren Entscheidung ihn wie ein Geist begleitete, seit er selbst in seiner Jugend unter körperlichen und seelischen Foltern aus der Gemeinschaft der anderen Knaben ausgeschieden und Lehrling seines Zaubermeisters geworden war.

Hawandschita sah sich selbst wieder durch den Kiefernwald im tauenden Schnee gehen, während er in Wahrheit in seinem Tipi auf der Reservation saß und mit abwehrendem Schweigen in die Glut stierte.

Dieser Harka – Tokei-ihto war noch einmal lebendig wiedergekommen!

Damals, vor fünfzehn Jahren, hatte Hawandschita den Charakter und die Fähigkeiten von Mattotaupas Sohn mit Entsetzen erkennen müssen.

Der alte Zauberer war an jenem Vorfrühlingstag durch den Wald gegangen, weil er kaum einen der jüngeren Knaben bei den Zelten antraf. Viele Spuren von Knabenfüßen aber hatten ihm verraten, dass die ganze Schar in derselben Richtung in den Wald gestürmt war, und der Zauberer ging leise, immer in Deckung, hinterher, denn er wollte seinen künftigen Lehrling in den letzten Stunden vor der Entscheidung noch einmal heimlich beobachten.

Unbemerkt hatte er sich den Jungen genähert, die alle an einem Platze unter einer Eiche versammelt waren. Dann war ihm zumute gewesen, als ob er zu Eis erstarren müsse.

Vor ihm spielte sich ein Zauberschauspiel ab, wie er es selbst mit den Kriegern zuweilen ausgeführt hatte. Harka Steinhart Nachtauge spielte den Geheimnismann. Er hatte sich vermummt, aber Hawandschita hatte ihn sofort erkannt. Der Knabe ahmte die Gesten des Zaubermannes bei dem Kultspiel genau nach. Das schien unverschämt, aber es war nicht das Bedrohlichste. Hawandschita entsetzte sich, weil die Knaben alle dahingesunken waren wie unter einer hypnotischen Kraft. Nicht einmal beim Erscheinen des Zauberers wurden sie ihrer selbst gleich bewusst. Hawandschita war tief betroffen. Er glaubte in diesem Augenblick, der Knabe Harka habe ihm seinen Zauber gestohlen. Eine Schlangenhaut hatte sich der Dieb um den Kopf gewunden! Harka Steinhart selbst war der erste unter den Knaben gewesen, der den alten Zauberer bemerkt hatte. Wie angewurzelt war er an seinem Platz geblieben. Die anderen Jungen waren endlich zu sich gekommen. Mit einem Schreckensschrei waren sie auseinandergestoben.

Was in den nächsten Tagen und Wochen vor sich gegangen war, hatte keiner der Knaben je wieder vergessen. Noch niemals und auch nie wieder waren sie von ihren Eltern so hart bestraft worden. Bis zum Beginn des Sommers sprachen die Väter mit den Söhnen kein Wort. Hawandschita hatte sich von Mattotaupa den Rädelsführer Harka für zwölf Tage und zwölf Nächte ins Zauberzelt geben lassen. Er wollte diesem Knaben den Zauber wieder entreißen. Er wollte von ihm erfahren, wie er ihn gestohlen hatte. Aber der Knabe widerstand und blieb bei dem, was ihm selbst als Wahrheit erschien: dass er hatte nachahmen und spielen wollen und dass die anderen Jungen sich gern gegruselt hätten. In den zwölf Nächten, die Harka im Zauberzelt war, träumte Hawandschita nicht mehr von der großen Schlange. Das war das Grauenvollste, was den Alten treffen konnte. Er wollte Harka unterwerfen und ihm seinen Zauber wieder wegnehmen. Aber der Knabe blieb fest. Niemandem, auch dem eigenen Vater nicht, erzählte Harka je, auf welche Weise der Zauberer ihn hatte brechen wollen.

Hawandschita aber träumte nie mehr von der großen Schlange. Die große Schlange sprach nicht mehr zu ihm.

Harka wurde ein Jahr später von den Knaben zu ihrem Anführer gewählt, und der Kriegshäuptling stimmte dem zu.

Hawandschita wurde seitdem von der Angst verfolgt, dass ihm seine Zauberkraft, an die er fest geglaubt hatte, für immer aus den Händen genommen sei. Niemand durfte davon etwas erfahren, niemand! Nächtelang trommelte der Alte; er beschwor seine Geister und versuchte zu träumen. Zuweilen gelang es ihm, aber die Träume blieben wirr und undeutlich. Keiner der Krieger und Knaben ahnte etwas von diesen Nöten des Zaubermannes, auch wenn die Männer zuweilen nicht mit ihm zufrieden waren. Das ungeziemende kindliche Spiel war geahndet, und für alle außer Hawandschita selbst war die Angelegenheit mit der gebührenden Strafe vollständig abgeschlossen. Die Angst, dass die Männer den Verlust seiner Zauberkraft eines Tages doch entdecken könnten, verfolgte den Geheimnismann mit dem ganzen Grauen, das die Aufrechterhaltung einer Lüge mit sich bringt. Wenn die Krieger um das Erscheinen der Büffelherden tanzten und beteten und die Büffel kamen nicht, so hungerten die Männer, Hawandschita aber wand sich in seinem Zelt in den Krämpfen seines vermeintlichen Unvermögens. Er ging zu den erstaunlichsten und gewagtesten Schlichen und Ränken über. Immer noch einmal gelang es ihm, die Männer zu täuschen. Dabei folterte er sich selbst und trommelte immer und immer wieder um das Erscheinen der großen Schlange. Er begann Harka und Mattotaupa, den Vater des Knaben, mit seinem Hass zu verfolgen. Es gelang ihm, Mattotaupa zu vertreiben. Es gelang ihm nicht, zu verhindern, dass der Sohn des Geächteten nach zehn Jahren wieder in seinem Stamm aufgenommen wurde. Tatanka-yotanka, der größere Geheimnismann, war dazwischengetreten, ehe Hawandschita Harka am Pfahl opfern konnte.

Eines Tages hatte dann der Alte den Schonka, diesen Feind Harkas, zu seinem Zaubergehilfen gemacht. Aber Schonka war im Grunde ein Schwächling, und jetzt war er zu den weißen Männern gelaufen. Hawandschita hasste die weißen Männer, weil sie nicht an die Geheimnisse glaubten. Aber er wusste auch, dass sie selbst Geheimnisse besaßen, die er für echten Zauber hielt. Er wollte sie sich verschaffen, und er hatte sie sich verschafft. Doch was sollte er auf der Reservation damit bewirken? Die Krieger verlangten nicht mehr so stark nach Zauber, da sie wussten, dass nicht der Zaubermann die Büffel, sondern nur der Agent der Reservation die Rinder herbeischaffen konnte.

Hawandschita hatte einst nicht nur träumen und die Männer bezaubern können. Er war auch ein tapferer Krieger gewesen, und er hatte in seinem langen Leben viel erfahren, sehr viel. Doch dachte er selten an all das, was er wirklich wusste. Sein Träumen und Wünschen ging darauf, seine einstige Zauberkraft und Zaubermacht, die er für unabdingbar wirklich hielt, wiederzugewinnen.

 

Nun war dieser Sohn Mattotaupas lebend wiedergekommen.

Hawandschita war von neuem verwirrt, denn er hatte Uinonahs Träumen nicht geglaubt. Aber auch sie war heute stärker als er. Und Untschida schien nur in das Zaubertipi gezogen zu sein, um dort ihre eigene Kraft auszustrahlen. Er besaß keine Gewalt über diese Frau, die vor drei Jahren das ganze Zeltdorf zum Kampf um den aus der Verbannung heimkehrenden Harka mitgerissen hatte.

Dieser Sohn Mattotaupas aber saß lebend drüben im Zelt Tschetansapas.

Hawandschita war verwirrt. Wie er nun seine eigene Verwirrung unter die Männer bringen und die Entscheidung von sich selbst wegschieben könne, das wurde ihm am Ende seines langen Gedankenganges plötzlich klar, und mit schartiger Stimme gab er Tschapa Kraushaar, der bis dahin stumm gewartet hatte, den Bescheid, die Ratsversammlung zu berufen, wie es der junge Häuptling verlangt hatte.

Tokei-ihto, über den sein alter Gegner Hawandschita nachgedacht hatte, saß noch immer allein an der Feuerstelle in Tschetansapas Zelt.

Endlich tat sich der Zeltschlitz auf, und Tschapa Kraushaar zeigte sich. Seine Miene war nicht froh. Er ließ sich Tokei-ihto gegenüber nieder, nestelte die Pfeife los, entzündete sie aber nicht. Es dauerte lange, bis er sich zu sprechen entschloss.

»Hawandschita hat sich bereiterklärt, die Ratsversammlung einzuberufen«, berichtete er schließlich. »Wenn du darauf bestehst, sogar heute Nacht noch. Aber nur, wenn Tschetansapa benachrichtigt wird und daran teilnimmt. Die anderen Ratsmänner können dem wiederum nicht zustimmen. Tschetansapa ist flüchtig. Er ist in den Augen der Langmesser ein Mörder. Nimmt Tschetansapa an unserer Versammlung teil, so wird sie dadurch zu einer Versammlung von Aufrührern. Unsere Männer können aber keinen Aufstand machen und wollen es auch nicht versuchen. Wir haben keine Waffen; unsere Messer sind zu kurz, um den Flinten der Langmesser zu antworten, und wir haben lange genug vergeblich gekämpft. Hawandschita hat dir mit seinen Worten nur einen neuen Hinterhalt gelegt.«

Tokei-ihto antwortete darauf nicht. »Könnt ihr Tschetansapa hierher in sein Zelt holen?«, fragte er nur.

»Wir können es – aber er bringt uns alle in Gefahr, ohne einem von uns zu nützen.« Tschapa Kraushaar sagte das, aber was er sagte, quälte ihn selbst. »Wir werden auch dich verbergen müssen, mein Bruder, wie wir Tschetansapa verbergen. Es ist uns verboten, dich aufzunehmen.« Tschapa Kraushaar machte eine hilflose Bewegung, und sein Blick lief an den Zeltwänden umher, als suche er nach einem Ausweg und finde keinen. »O mein Häuptling! Dein Fuß hat unsere Zelte nur betreten, um sie wieder zu verlassen.«

»Nein, Tschapa.« Der Heimgekehrte sprach fast ohne Klang in der Stimme, aber mit der Kraft einer unwiderruflichen Entscheidung. »Ich werde euch und eure Zelte nicht wieder verlassen. Ich werde euch mitnehmen. Wir ziehen fort aus der Reservation.«

Tschapa Kraushaar starrte den Sprecher an. »Was sagst du hier plötzlich? Meine Ohren haben nicht recht gehört.«

»Doch, du hast meine Worte recht vernommen.« Tokei-ihto ließ die Pfeife ausgehen, um ohne Pause sprechen zu können. »Ihr schlagt heute Nacht eure Zelte ab. Eure Weiber und Kinder packen zusammen. Red Fox entlässt seine Reiter. Die Grenze hier ist nicht bewacht. Die Augen und Ohren der Langmesser sind nur auf Tashunka-witko gerichtet. Wenn wir gehen, können sie uns heute in der Nacht nicht daran hindern. Ich will mit euch nach Kanada ziehen zu einer neuen Heimat, wo wir als freie Männer leben können. Hau.«

Tschapa Kraushaar blickte in das Feuer und dann auf den ausgezehrten Mann, der ihm gegenübersaß. »Willst du die Weiber und Kinder in den Schnee hinausschleppen darum, weil du selbst nicht bei uns bleiben kannst? Das Fieber spricht aus dir!«

In Tokei-ihtos Antlitz schoss das Blut dunkel hinauf. »Dein Häuptling spricht!«

Tschapa Kraushaar stand auf. »Unsere großen Häuptlinge wurden geschlagen und vertrieben. Bist du mehr als sie?«

»Ihr Sohn und junger Bruder bin ich.«

»Unseren großen Stamm verlassen …?«

»Wir vergessen unsere Väter nicht.«

»Auf das Letzte verzichten, was die Watschitschun uns noch gelassen haben?«

»Auf alles, nur nicht darauf, ein freier Mann zu sein!«

»Wir hätten viel zu lernen, Tokei-ihto.«

»Nach unserem eigenen Sinn.«

»Das ist vorbei!«

»Nicht, solange ich atme … Wir ziehen nordwärts über den Missouri!«

»In die Jagdgründe unserer alten Feinde vom Stamme der Siksikau?«

Tokei-ihto trat zu Tschapa heran, sah ihm nahe ins Gesicht: »Tschapa Kraushaar! Ich kann dir nicht mehr sagen, als deine Ohren schon gehört haben. Ich habe auch keine Zeit. Wenige Stunden bleiben uns, um schneller zu handeln als unsere Feinde und die ersten Schritte auf einem langen Weg zu tun. Ziehen wir nach Kanada!«

»Die Watschitschun kommen auch dorthin, schießen die Büffelherden weg und sperren uns ein. Wir werden nie mehr jagen, mein Häuptling!«

»Du hast recht. Die Büffel sind tot. Wir müssen einen neuen Weg finden. Du sitzt hier auf dürrem Boden, ein Gefangener der Langmesser. Wird es nicht besser sein, wir haben ein gutes Stück Land und lernen als freie Männer Vieh züchten und säen und ernten?«

Die Augen des Kriegers weiteten sich. »Du weißt, das war schon lange mein Traum, aber wir sind besiegt. Den Dakota ergeht es jetzt nicht mehr anders als einst den schwarzen Männern, die meine Väter waren. Mein Vater ist zu den Dakota geflohen, um frei zu werden, ich aber werde zusammen mit euch wieder zum Sklaven!«

»Lass uns gehen!« Der Häuptling packte den Gefährten hart an der Schulter. »Wir sind lange zusammen geritten. Heute verlässt du mich nicht, Tschapa!«

Der Mann verkrampfte seine Fäuste. »Was du sagst, ist gut«, murmelte er noch einmal, »aber wir haben keine Kraft mehr.«

Tschapa Kraushaar ging langsam von seinem Häuptling weg, bis ihn die Zeltwand aufhielt. Da legte er die Stirn an die Fichtenstange. Seine Züge verzerrten sich, aber aus dem schmerzvoll verzogenen Gesicht schauten seine großen schwarzen Augen mit überwältigender Sehnsucht aus dem Grauen der Unterwerfung in die Hoffnung der Freiheit.

Der Heimgekehrte stand neben dem Feuer. Der Schein der flackernden Flämmchen huschte an ihm hinauf. Er blickte nach dem Gefährten, der sich noch nicht wieder umwenden wollte.

Der Häuptling setzte sich wieder und nahm die erkaltete Pfeife zwischen die Lippen. Im Hintergrund saßen die beiden Frauen, die das Gespräch der Männer stumm mit angehört hatten. Mongschongschahs Hand, die die Kindertrage streichelte, hatte plötzlich gestockt; sie war mitten in der Bewegung erstarrt und stand in der Luft, merkwürdig, wie ein erstorbener oder verzauberter Zweig. Uinonahs Gesicht war grau geworden, als Tschapa das Wort aussprach, dass ihr Bruder nur gekommen sei, um wieder zu gehen: Die letzten Worte des Bruders aber schüttelten das Mädchen und weckten sie wieder aus einem bösen Traum zu einem wachen Entschluss. Er hatte sie in die Höhe gezogen, und von dem Willen des Bruders getrieben und geleitet, verließ sie das Zelt.

Sie ging hinaus aus dem Dorf und suchte den Knaben Hapedah, Tschetansapas Sohn. Der Junge stand ganz allein in der nächtlichen Prärie.

»Wo ist Tschaske?«, fragte das Mädchen. »Und warum kommst du nicht ins Tipi?«

»Tschaske und ich sind zu jenem Felsen dort gelaufen. Tokei-ihto besitzt noch seinen Falben und Ohitika. Tschaske hält bei den Tieren Wache. Ich habe nachgedacht.«

»Lauf und suche deinen Vater! Mein Bruder will ihn sprechen.«

»Uinonah!« Hapedahs magere Jungengestalt wuchs auf. »Mein Vater hat mir erlaubt, ihn in seinem Felsversteck aufzusuchen, wenn ich ihm etwas Wichtiges zu sagen habe. Der Häuptling will ihn sprechen! Das ist wichtig. Nichts ist wichtiger als das.«

Hapedah huschte davon. Rings war es still und schon ganz finster, da die Wolken den aufgehenden Mond und die Sterne verdeckten.

Das Mädchen kehrte in das Zelt zurück und ließ sich wieder bei der Zeltwand neben Mongschongschah nieder. »Tschetansapa wird bald bei uns sein«, sagte sie. Mongschongschah zuckte zusammen.

Alle warteten.

Endlich kam Tschetansapa. Kein Laut hatte sein Kommen verraten. Er war an das Zelt herangeschlichen. Jetzt schob sich seine lange, beinahe unheimlich magere Gestalt am Boden durch den Zeltschlitz herein. Noch ehe er sich erhob, musterten seine vom Fieber erhitzten Augen das Zeltinnere und alle Anwesenden. Dann stand er auf, wie es schien mit Mühe, und kam zum Feuer heran. Der Häuptling sah die Bastbinden und zwei offene eiternde Wunden. Der schmale Schädel zeigte die Narbe eines Messerstichs. Hunger, Durst und Hass standen in den Zügen des Mannes geschrieben, und er sah sich noch einmal um, als ob er sich verfolgt glaubte. Aber dann überwältigte ihn die Freude, eine wilde, aufbegehrende Freude darüber, dass Hapedahs Botschaft Wahrheit war.

Er setzte sich nicht. Tokei-ihto war aufgestanden.

»Tokei-ihto!« Tschetansapa sprach hastig. »Mein Häuptling, unser Bruder! Du bist da. Aus meinem Zelt werden dich die Kojoten nicht verjagen.«

»Ich weiß, Tschetansapa, dass du für mich gesprochen und für mich gekämpft hast.«

Tschetansapa wehrte ab. »Du hast auch mich nicht vergessen; du hast mich gerufen. Ahnt Schonka, dass du hier bist?«

»Er wird mich hier suchen.«

Mongschongschah hatte sich erhoben und stand wartend in der Nähe der beiden Männer. Sie hatte zwei geröstete Krähen in der Hand, die sie dem Gatten als Essen mitgeben wollte.

Tschetansapa stieß einen Ton aus, der ein Lachen sein sollte. »Iss die Krähen selbst«, antwortete er der stummen Geste Mongschongschahs, »oder gib sie Hapedah. Ich brauche kein Fleisch mehr.« Er wandte sich wieder seinem Häuptling zu. Mongschongschah ging mit gebeugten Schultern zu ihrem Platz am Zeltrand zurück. »Meine Kraft ist zu Ende«, erklärte der Krieger seinem Häuptling. »Die Wunden heilen nicht mehr. Ich sterbe, das kümmert mich wenig. Ich will nicht mehr verborgen leben und mich des Nachts in mein Zelt schleichen, um Hapedah die Nahrung wegzuessen. Ich sterbe, aber ich will nicht allein sterben.«

»Du wirst nicht sterben, Tschetansapa.«

Es schien, dass der Mann die Worte überhaupt nicht gehört hatte. Seine Gedanken bohrten weiter. Er hatte den Häuptling am Arm gefasst. »Hast du vernommen, Tokei-ihto? Ich werde sterben, aber du sollst mich rächen. Rufe unsere Männer auf. Sie sollen alle zum Messer greifen und kämpfen. Hier leben wir nur, um zu verrecken. Das wollen wir nicht mehr. Hörst du!«

»Wir wollen nicht hier leben«, antwortete der junge Häuptling, »das ist wahr. Wir gehen fort, heute noch in der Nacht.«

Tschetansapa wollte sich niedersetzen, aber er brach zusammen. Tokei-ihto sprang herbei, legte ihn auf Decken und Felle und kniete sich zu ihm. Der Krieger kämpfte um Luft. Es war lange still. »Was sagtest du?«, fragte er dann.

»Wir wollen leben.«

Tschetansapa schien bei diesen Worten zu versteinern. Allmählich aber verzogen sich seine Züge. »Tatanka-yotanka ist uns davongelaufen. Tashunka-witko hat sich ergeben, und Tokei-ihto geht unter die Feiglinge, er will leben.« Dem Verwundeten machte das Sprechen große Mühe, aber seine Erregung war so groß, dass er immer weitere Worte hervorstieß. »Sage mir jetzt … willst du kämpfen und mir die Skalpe der Langmesser mit auf den Weg in die ewigen Jagdgründe geben, oder willst du es nicht?«

»Tschetansapa! Wir kämpfen auf eine andere Weise, als du jetzt glaubst. Du kommst mit uns. Wir brauchen dich.«

Tschetansapa schien sich zu bemühen, den Sinn der dunklen Worte zu verstehen oder ihnen wenigstens zu vertrauen, aber dann brach wieder die Erbitterung des Verfolgten und Gehetzten in ihm auf. »Tokei-ihto«, sagte er, »du bist immer mein jüngerer Bruder gewesen, das weißt du. Aber wenn du feige wirst … schäme ich mich für dich. Damit du wieder ein Mann wirst, sage ich dir die Worte, denen du nicht mehr ausweichen kannst …«

»Ich weiche nicht aus. Ich gehe meinen Weg, und unsere Zelte nehme ich mit – und wenn ich sie mit meinen Waffen dazu zwingen muss. Hau!«

»Hör und vernimm meine Worte: Du bist der Sohn eines Verräters. Wenn du ein Krieger und ein Häuptling sein willst, so kämpfe – wenn du aber nicht kämpfen willst …«

Tokei-ihto hatte sich wieder erhoben. »Du sprichst«, sagte er, »wie Schonka zu mir gesprochen hat. Du kannst mich töten, sobald ich das getan habe, was ich für die Söhne der Großen Bärin, für ihre Frauen und Kinder noch tun muss. Vorher nicht. Ich lasse mich nicht zwingen.«

 

Tschetansapa versuchte, sich auch wieder zu erheben, aber er fiel zurück.

Der junge Häuptling winkte Mongschongschah und Uinonah, und die Frauen kamen an Tschetansapas Lager, um mit Heilkräutern und Binden zu helfen. Als der Verletzte versorgt war, blieb Mongschongschah zitternd neben dem Lager des Gatten stehen. »Er muss wieder fort aus diesem Zelt«, sagte sie zu Uinonah, »wenn Schonka kommt, tötet er ihn sogleich. Wir müssen ihn wieder in die Felsen bringen.«

»Er bleibt bei uns«, antwortete Uinonah ruhig. »In den Felsen draußen würde er sterben, noch ehe die Sonne wieder aufgeht.«

»Fort!«, wiederholte »Die sich beugende Weide«, und vor Angst wurde die Frau heftig. »Sie töten nicht nur ihn, sie töten auch Hapedah, meinen einzigen Sohn, wenn sie Tschetansapa hier finden.«

Der Schwerverletzte hatte die Augen offen und schien alle Worte zu verstehen, wenn er auch nicht sprechen konnte.

Tokei-ihto wies Mongschongschah zurück. »Solange ich hier bin, wird Schonka kein Kind schlachten. Uinonah hat gut gesprochen. Tschetansapa bleibt, wie es auch sein eigener Wille ist. Wer ihn angreift, der kämpft mit mir, hau.«

Der Verwundete schaute nach seinem Häuptling. Aber es war nur ein kurzer Blick, und er blieb finster.

Tokei-ihto ging zur Feuerstelle, ohne sich zu setzen. Das Fieber glühte auch in ihm, und es machte ihm Mühe, seine Gedanken weiterhin klar zu ordnen. Bald konnte es so weit sein, dass er zusammenbrach wie Tschetansapa. Die Feinde der Bärensöhne hatten viel erreicht. Tokei-ihto und Tschetansapa, die beiden gefürchteten Männer, waren nur noch wie lahmgeschossenes Wild. Tschapa Kraushaar aber lehnte müde und mutlos an der Zeltstange.

Uinonah trat vor ihren Bruder. Sie reichte ihm einen kleinen Beutel mit einem kräftig duftenden Kraut. »Iss das, es wird den Geist deiner Krankheit bekämpfen. Und erlaube mir, dass ich dir mein Vorhaben sage. Du magst dann als Häuptling Ja oder Nein sprechen.«

»Was hast du vor?«

»Wir müssen in allen Zelten die Habe zusammenpacken, weil wir heute Nacht noch fortziehen wollen aus der Reservation. Ich will in die Zelte gehen und mit den Frauen sprechen. Wir wollen dir folgen, denn du hast recht, und wir müssen das tun, was du gesagt hast.«

»Geh, Uinonah, und sprich mit den Frauen und Müttern.«

Das Mädchen verließ ohne Zögern das Zelt.

»Wo ist Hapedah?« Mongschongschah murmelte vor sich hin. »Es ist Nacht, wo ist er hingegangen?«

Tokei-ihto hörte die Worte. Er wunderte sich selbst, dass der Knabe nicht mit seinem Vater zusammen in das väterliche Zelt zurückgekommen war. Aber ein Anführer der Jungen Hunde konnte für sich selbst einstehen, auch wenn er erst elf Sommer gesehen hatte.

Tokei-ihto schlug das Grizzlyfell auseinander und nahm den Adlerfederschmuck an sich, den Uinonah ihm gezeigt hatte. Er setzte die Adlerfederkrone auf das Haupt, denn er war entschlossen, den Söhnen der Großen Bärin als ihr Häuptling gegenüberzutreten.

Tschapa hatte die Zeltstange losgelassen und kam zögernd und mit gesenktem Kopf zu der Feuerstelle heran. »Mein Bruder«, begann er stockend, »Uinonah will in alle Zelte gehen … also auch in mein Zelt. Die Mutter meiner Mutter hat einen bösen Geist, sein Toben wird immer gefährlicher. Ich fürchte, dass dieser Geist Uinonah angreift.«

»Das mag sein. Aber Uinonah fürchtet sich nicht.«

»Ich will hingehen und ihr in meinem Zelt beistehen.«

»Du bist mir hier nötiger.«

Tschapa gehorchte und blieb, um sich für seinen Häuptling bereitzuhalten.

Durch den Zeltschlitz schlüpfte Hapedah herein. Er lief sofort auf Tokei-ihto zu, der ihm die Erlaubnis gab zu sprechen.

»Ich habe mit Tschaske auf Wache gelegen«, berichtete der Junge rasch und aufgeregt. »Ich wollte melden, wenn Schonka kommt, damit er das Zelt nicht überrascht. Er ist noch nicht da. Aber Chef de Loup ist gekommen, den die Watschitschun auch Tobias nennen, und er wartet bei dem Felsen, wo der Falbe steht. Chef de Loup hat mir gesagt, dass Schonka mit drei Bewaffneten schon unterwegs sei. Das soll ich dir sagen, Häuptling. Und Chef de Loup will wissen, ob er selbst in das Zelt kommen oder draußen weiter Wache halten soll.«

»Er soll zur nächsten Grenze reiten – in Richtung der Che sapa und spähen, ob der Weg dort für uns frei ist. Mit seinem Schecken kann er in zwei Stunden von hier an der Grenze der Reservation und wieder zurück sein. Ich will sogleich Nachricht haben, was er dort festgestellt hat. Du aber bleibst mit Tschaske beim Felsen weiter auf Wacht.«

»Gut.« Die Augen des Knaben leuchteten hell auf. Er verschwand sofort wieder.

Der junge Häuptling trat hinaus aus dem dämmrigen Tipi in die schwarze Nacht. Schwere Wolken bedeckten Mond und Sterne. Kein Schimmer ringsum, nur ein ganz schwaches Flimmern der Eisfläche auf dem Tümpelboden leuchtete. Der Wind hatte nachgelassen. Es musste bald wieder Schnee fallen. Noch immer heulten ein paar Hunde. Es waren vielleicht fünf oder sechs. Die meisten waren von den hungernden Menschen schon geschlachtet und aufgegessen worden.

Der Häuptling lauschte und spähte. Er beobachtete zwischen den Zelten einzelne huschende Gestalten. Sie verschwanden in den Tipi und kamen wieder heraus, um gleich darauf in andere Zelte zu schlüpfen. Er erkannte trotz der Finsternis Uinonah. Mit ihr waren zwei kleine Mädchen unterwegs. Als das eine davon in der Nähe des Häuptlings vorbeilief, rief er sie. »Blitzwolke!«

Die Kleine eilte flink herbei.

»Was hört ihr in den Zelten?«

»Die Frauen wollen alle gehen, weil ihre Kinder hier hungern und weil wir kein Wasser haben. Die von deinem Plan wissen, packen schon. Die Männer hindern sie nicht daran.«

»Die Männer schweigen aber?«

»Manche schweigen und warten noch darauf, wie Hawandschita, der Geheimnismann, entscheiden wird. Aber die drei Raben sind schon entschlossen, für deinen Plan zu stimmen. Sie sind nicht so klug wie Tschapa Kraushaar und sehen darum nicht alle Gefahren, und sie sind nicht so stolz wie Tschetansapa und wollen darum die Waffen nicht gebrauchen. Sie haben dich verraten, Häuptling, aber nun, wenn du ihnen einen Weg zeigst und eine Hoffnung, wollen sie mit dir sein.«

»Hat das Uinonah gesagt?«

»Ja, das waren ihre Worte. Die Frauen und nicht wenige Männer halten Uinonah für eine sehr große Geheimnisfrau, weil sie immer geträumt hat, dass du noch lebst!«

»Lauf weiter. Ihr werdet gleich mein Signal hören. Dann sollen alle kommen. Hau. Mit Hawandschita spreche ich selbst.«

Der junge Häuptling nahm die Signalpfeife an die Lippen, die Tashunka-witko ihm anvertraut hatte, und blies den schrillen, hellen Ton, der klang wie der Schrei eines jungen Adlers.

Wie auf einen Zauberschlag öffneten sich rings im Dunkel die Zelte. Der Ton der Kriegspfeife war jedem Dakota von Kindheit an vertraut, und schon die Knaben hatten sich darin geübt, bei diesem Signal aus dem Schlaf zu fahren und sofort auf den Beinen zu sein. Wer sich bei dem Signalpfiff noch einmal die Augen rieb, der wurde von allen ausgelacht und verspottet. Fast von selbst gehorchten die Glieder dem Ton der schrillen Pfeife, ohne bewussten Befehl des Willens. So war es in den Tagen der Freiheit gewesen, und keiner hätte damals etwas anderes erwartet, als dass in der Minute nach dem Signal die Krieger auch schon bei ihrem Häuptling waren. Heute wusste keiner vom anderen, ob er folgen werde oder nicht; denn die in den Tagen der Freiheit so selbstverständliche Einigkeit der Dakota war zerbrochen. Aber als die Männer aus den Zelten eilten und ein jeder sah, dass der andere kam, packte alle eine große Erwartung. Der Alte Rabe und seine beiden Söhne langten als erste bei dem Häuptling an. Tschotanka, Speerspitze, Ihasapa waren auch schon da. Nach den Kriegern zeigten sich die Frauen und Mädchen und die Kinder. Sie drängten sich gegenüber dem Zelteingang. Alle Frauen waren gekommen, nur Untschida fehlte noch, und der junge Häuptling vermisste sie. Das Zeltfeuer war heller angefacht und beleuchtete den Heimgekehrten im Schmuck der Adlerfedern.

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