Pechschwarzer Sand

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Chris war Ranger im Wood Buffalo National Park gewesen. Er hatte viele Jahre Arbeit in den Erhalt und Schutz dieses Nationalparks investiert. Nun musste er mit ansehen, wie der Nationalpark immer weiter zerstört wurde. Er und seine Frau hatten versucht, sich gegen die Ölfirma zu wehren, doch sie war zu mächtig.

»Wir wollten aus Fort Chipewyan wegziehen. Ich habe mich um einen Job in einem anderen Nationalpark bemüht. Im Jasper Nationalpark sah es sehr gut aus, aber dann wurde Rena verhaftet.«

»Verhaftet?« Eric sah die Frau erstaunt an.

»Eigentlich war es eine Verwechslung, doch ich hatte brisantes Material bei mir, das die Polizei nicht finden durfte.«

»Rena hat Probleme mit dem Baby vorgetäuscht, um einem Verhör zu entgehen. Sie wurde nach Hause gebracht, allerdings stand sie unter Beobachtung. Die Hebamme hat jegliche Befragung durch die Polizei untersagt. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie Rena wieder in Gewahrsam genommen hätten. Sie hatte kein Alibi. Deshalb mussten wir Kanada auf dem schnellsten Wege verlassen«, erklärte Chris die Situation.

»Mein Vater hat uns dazu gedrängt, nach Deutschland zu gehen«, ergänzte Rena. »Er hat darauf bestanden. Er ist krank und braucht unsere Hilfe. Aber er sagte, dass Melissa wichtiger ist …« Renas Stimme versagte und Tränen traten ihr in die Augen. Sie wusste, dass sie ihren Vater nie wieder sehen würde. Chris nahm sie tröstend in den Arm.

Eric hatte ihrem Bericht betroffen gelauscht. Nun verstand er den Grund für Chris' Eile. Er wollte seine Familie in Sicherheit bringen.

Chris und Eric kannten sich bereits seit ihrer Schulzeit. Chris hatte immer davon geträumt in Kanada zu leben. Nach seinem Schulabschluss hatte er die Gelegenheit ergriffen, dort Ranger zu werden.

Nachdenklich betrachtete Eric das unruhige Baby in Renas Armen.

»Ich werde mich mal um Melissa kümmern«, sagte Rena und erhob sich. Chris sah den beiden nach, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Eric.

»Eric…«, begann er unbehaglich, »…ich habe da eine Bitte.«

»Worum geht's denn?«

»Wir haben kaum Sachen für die Kleine. Ich weiß, das ist viel verlangt. Schließlich hast du uns schon die Reise bezahlt, aber wir haben kaum noch Geld. Sobald ich einen Job habe, werde ich dir alles zurückzahlen«, Chris zögerte, bevor er weiter sprach. »Allerdings glaube ich kaum, dass in Berlin jemand einen Ranger braucht.«

»Das kriegen wir schon irgendwie hin. Ich werde mich mal umhören, wo wir günstige Babysachen bekommen können. Beruflich könnte ich wahrscheinlich bald Unterstützung gebrauchen. Ich bin gerade dabei, einen Auftrag von Retramo, einer Textilfirma, an Land zu ziehen. Wenn das gelingt, gibt es hier eine Menge zu tun.«

»Ich dachte, in Deutschland gibt es gar keine Textilindustrie mehr«, erkundigte sich Chris verwundert.

»Vor der dritten Ölkrise war das der Fall. Zu dieser Zeit wurden nur noch fünf Prozent aller in Deutschland verkauften Textilien auch in Deutschland hergestellt. Aber in den letzten dreizehn Jahren hat sich vieles verändert. Seit der dritten Ölkrise haben die verbliebenen Unternehmen ihre Produktion stark ausgebaut. Kleidung aus Asien ist wegen der hohen Transportkosten auf dem deutschen Markt nicht mehr konkurrenzfähig. Die Firma Retramo hat sich lange mit der Herstellung von Trachtenmode über Wasser gehalten. Nach der Ölkrise haben sie vermehrt einfache und funktionale Kleidung hergestellt und sich damit dem Bedarf der Menschen angepasst.«

»Ich hoffe, ich kann dir dabei helfen. In der Textilindustrie kenne ich mich überhaupt nicht aus«, bemerkte Chris skeptisch.

»Dafür habe ich umso mehr Ahnung von dem Metier«, beruhigte ihn Eric.

»Okay, wenn du meinst, dass ich dir behilflich sein kann, freue ich mich auf unsere Zusammenarbeit«, entgegnete Chris zuversichtlicher.

Eric sah auf die Uhr, die an der Küchenwand hing.

»In einer Stunde habe ich einen Termin bei Retramo. Sie wollen heute darüber entscheiden, ob ich den Zuschlag bekomme. Drück mir die Daumen und wünsch mir Glück.«

Chris grinste. In der Schule war das vor jeder Prüfung sein Spruch gewesen. Eric hatte kein Glück nötig gehabt.

Eric eilte in sein Büro, packte seine Unterlagen zusammen und zog sich seinen dunkelgrauen Anzug an. Er verabschiedete sich von Chris, eilte die Treppen hinunter und schwang sich auf sein Fahrrad.

Verschwitzt und müde verließ Eric die Firmenzentrale von Retramo. Er lockerte seine Krawatte, aber das brachte ihm nicht die erhoffte Erleichterung. In dieser Sommerhitze sollte man einfach keinen Anzug tragen. Doch die Mühe hatte sich gelohnt. Nach langen zähen Verhandlungen hatte er die Firmenleitung von Retramo überzeugt, dass er ihnen bei der Lösung ihrer Probleme helfen konnte. Bei der Textilfirma handelte es sich um ein Familienunternehmen, das Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet worden war und nun in der vierten Generation geführt wurde. In seiner Anfangszeit als Umweltberater hatte Eric bereits für Retramo gearbeitet. Damals hatte die unsichere Energieversorgung dem Unternehmen Probleme bereitet. Durch eine eigene Solaranlage und eine Biogasanlage konnte die Energieversorgung gesichert werden. Das Unternehmen war in der Lage kontinuierlich zu produzieren und zugesagte Liefertermine einzuhalten, was nach der dritten Ölkrise keine Selbstverständlichkeit mehr war. Seitdem war das Unternehmen gewachsen und hatte seine Kapazität ausgeweitet. Doch seit einiger Zeit wurde die Beschaffung von Rohstoffen wie Baumwolle immer problematischer. Retramo hatte sich schon vor geraumer Zeit auf die Nutzung traditioneller Materialien wie Leinen und Wolle spezialisiert, aber für moderne Kollektionen war Baumwolle unverzichtbar. Aus diesem Grund hatte die Geschäftsführung Eric engagiert, um in den nächsten Monaten ein System zum Baumwollrecycling auf die Beine zu stellen.

Eric erreichte sein Fahrrad. Beim Nachhausefahren würde er in seinem Anzug noch mehr schwitzen. Er schwang sich auf sein Rad und fuhr gemächlich los. Von der hektischen Betriebsamkeit der anderen Radfahrer ließ er sich nicht anstecken. Viele versuchten eilig ihr Ziel zu erreichen und machten von ihren Klingeln reichlich Gebrauch. Autos waren mittlerweile fast völlig aus dem Straßenverkehr verschwunden. Radfahrer hatten die Herrschaft über die Straßen übernommen und bevölkerten sie mit hektischer Betriebsamkeit.

Schließlich verließ Eric die belebte Hauptstraße und bog in die ruhige Seitenstraße ein, in der er wohnte.

In der Wohnung angekommen entledigte Eric sich als erstes seines Anzugs. Renas und Chris' Stimmen waren vom Balkon zu hören. Er machte sich frisch und schlüpfte in bequeme Shorts und ein T-Shirt. So fühlte er sich schon viel wohler. Barfuß ging er in die Küche und genoss das angenehm kühle Gefühl der Holzdielen unter seinen Füßen. Er ließ sich aus dem Wasserhahn ein Glas Wasser einlaufen und trank es gierig aus. Beim zweiten Glas ließ er sich etwas mehr Zeit.

»Ziemlich heiß, was?«, fragte Chris, der in die Küche gekommen war. Eric nickte zustimmend.

»Ich hatte vergessen, wie heiß es hier in der Stadt werden kann«, stellte Chris fest. »In Kanada war es nie so warm.«

Rena war ihrem Mann in die Küche gefolgt. Sie lächelte wehmütig, als sie an ihre kühle Heimat dachte.

»Keine Sorge, ihr werdet euch daran gewöhnen. In ein paar Tagen wird es schon besser sein«, munterte Eric sie auf.

»Hast du den Auftrag bekommen?«, erkundigte sich Chris.

»Ja, in den nächsten Monaten wird eine Menge Arbeit auf uns zukommen«, antwortete Eric grinsend.

»Ich werde tun, was ich kann, um dich zu unterstützen«, versprach Chris.

Rena lehnte ihren Kopf an Chris Schulter. Auf dem Arm hielt sie Melissa. Mit der freien Hand aß sie einen Apfel. Eric sah die drei an. Sie wirkten so zufrieden, trotz der Strapazen, die sie hinter sich hatten. Einsamkeit durchzog Eric. Auch er hatte sich mit der Frau, die er liebte, eine Familie gewünscht. Doch es war anders gekommen. Immer noch blickte Eric die drei gedankenverloren an. Dann bemerkte er, dass das Baby unruhig geworden war. Rena legte den Apfel beiseite, um es zu beruhigen.

»Gib mir die Kleine«, bot Eric an.

»Danke, das ist lieb«, sagte Rena.

Eric nahm das Baby von Rena entgegen und ging mit dem kleinen Bündel auf den Balkon. Schnell hatte sich Melissa wieder beruhigt und lag zufrieden in Erics Armen. Eric blickte in die Ferne und dachte an Isabella. Mit ihr hatte er eine gemeinsame Zukunft geplant. Sie hatte ihn mit ihrem Mut und ihrem Durchhaltewillen beeindruckt. Außerdem war sie eine warmherzige schöne Frau und Eric hatte sich hoffnungslos in sie verliebt. Er hatte sie vor etwas mehr als drei Jahren kennen gelernt. Sie hatte ihn um Hilfe gebeten, um den Abbau von Methanhydrat zu verhindern. Zunächst hatte er ihr seine Unterstützung verweigert, aber sie war hartnäckig geblieben und letztendlich hatte er seine Meinung geändert. Eric lächelte bei der Erinnerung. Sein Lächeln schwand, als er an den Preis für ihren Erfolg dachte. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie sich gerade gegen einen Mann zur Wehr gesetzt, der sie entführen wollte. Seitdem war sie spurlos verschwunden. Eric hatte ein Jahr nach ihr gesucht, doch alle seine Bemühungen waren erfolglos geblieben. Er wusste nicht einmal, ob sie noch lebte.

»Alles klar hier draußen?«, fragte Chris, der auf den Balkon getreten war. »Melissa scheint sich bei dir richtig wohl zu fühlen.« Chris betrachtete seine kleine Tochter, die zufrieden in Erics Armen lag.

»Die Kleine ist wirklich süß. Die dunklen Haare hat sie eindeutig von ihrer Mutter«, stellte Eric fest und sah seinen Freund an. Mit seinen blauen Augen und den rotblonden Haaren sah er seiner Tochter nicht ähnlich.

 

»Ja, sie ist wunderschön.« Chris streichelte sanft die weiche Babywange.

»Ich werde mich jetzt nach einer Hebamme umhören. Danach können wir Sachen für Melissa besorgen.«

»Super«, antwortete Chris. Er ging zurück in die Küche. »Willst du mitkommen oder lieber hierbleiben, um dich auszuruhen?«, fragte er Rena.

»Ich bleibe mit Melissa hier. Uns beiden wird Ruhe gut tun.«

Eric und Chris betraten den Secondhandladen. Der Laden hatte einen rustikalen Dielenboden und an den Wänden zogen sich Regale entlang, in denen Baby- und Kindersachen lagen. Am Eingang stand ein Tresen, auf dem besonders hübsche Stücke präsentiert wurden. Sie wurden von der quirligen Ladenbesitzerin begrüßt, die die beiden Männer neugierig betrachtete. Normalerweise waren es hauptsächlich Frauen, die in ihren Laden kamen.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Wir suchen Sachen für meine Tochter«, antwortete Chris, während sein Blick ein wenig ratlos über die vielen Kleidungsstücke schweifte.

»Wie alt ist denn Ihre Tochter?«, erkundigte sich die Ladenbesitzerin.

»Sie wird morgen eine Woche alt.« Ein Strahlen erhellte Chris Gesicht.

»Was brauchen Sie denn für die Kleine?«

»Eigentlich so ziemlich alles«, gestand Chris.

Mit Hilfe der Ladenbesitzerin begannen sie Bodys, kleine niedliche Strampler, Babysöckchen sowie Jacken und Babymützen, für etwas kühlere Tage, auszusuchen. Sie empfahl ihnen wiederverwendbare Windeln, die auf Dauer deutlich günstiger wären als die teuren Wegwerfwindeln.

»Dann nehmen wir noch das Babybett.« Eric deutete auf ein weißes Bett mit Himmel, an dem eine rosa Spieluhr befestigt war. »Und dann noch den hier.« Er nahm einen vanillefarbenen Plüschhund mit langen Schlappohren und einem großen freundlichen Lächeln in die Hand.

»Das Bett brauchen wir nicht, Eric. Die Kleine kann doch bei uns im Bett schlafen«, wendete Chris ein. »Das können wir uns nicht leisten«, zischte er Eric zu und hoffte, dass die Frau ihn nicht hörte. Es war ihm unangenehm, dass er nicht in der Lage war, für seine Familie zu sorgen.

»Keine Sorge, Chris, das Bett und den kleinen Hund schenke ich Melissa zur Geburt.«

»Das können wir nicht annehmen! Du hast schon so viel für uns getan.«

Eric grinste seinen Freund an. »Ich werde dich in den nächsten Wochen so viel arbeiten lassen, dass ich das Geld doppelt und dreifach herausbekomme.«

»Du willst, dass ich in deiner Schuld stehe, damit ich wie ein Sklave für dich schufte?«

»Genau«, sagte Eric herausfordernd. »Wozu sind Freunde sonst da?«

Chris ließ sich von Erics Gerede nicht täuschen. Dieser wollte es ihm leichter machen, das Geschenk anzunehmen.

»Danke.« Chris war froh, dass sie ein Bettchen für Melissa hatten. Bisher hatte er sehr unruhig geschlafen. Immer wieder wachte er nachts auf, weil er befürchtete sich aus Versehen auf das Baby zu legen.

Gemeinsam brachten Eric und Chris die Sachen nach Hause. Renas Augen strahlten, als sie die Einkäufe sah. Endlich hatte sie Sachen für ihre kleine Tochter. Während sie sich begeistert ans Auspacken machte, begaben sich Eric und Chris mit Fahrrad und einem Fahrradanhänger noch einmal zum Laden zurück, um das Babybett zu holen. Sie luden das Bettchen wie es war auf den Anhänger. Da das Bett für Erics kleinen Fahrradanhänger zu groß war, musste Chris es halten, während Eric das Fahrrad schob. Die neugierigen Blicke der Passanten folgten ihnen und als sie mit ihrem Gefährt ein Straßencafé durchquerten, das auf beiden Seiten des Wegs seine Tische aufgestellt hatte, war ihnen die Aufmerksamkeit aller sicher.

3. Paradies und Hölle

In den nächsten Tagen arbeitete Eric unablässig am Auftrag von Retramo. Das Unternehmen litt immer wieder unter Engpässen bei der Rohstoffbeschaffung. Eric sah die Lösung dieses Problems darin, recycelte Baumwolle für die Produktion zu verwenden. Die Leute brachten ihre alten, abgetragenen Sachen zu einer Sammelstelle und erhielten etwas Geld dafür. So hatten sie einen Ansporn, der Textilfirma ihre alten Kleider zurückzugeben. Für das Unternehmen war dieses Vorgehen billiger als neue Baumwolle zu importieren. Erics Aufgabe war es, die Logistik für die Firma aufzubauen. Er musste Annahmestellen einrichten, die für die Kunden einfach zu erreichen waren. Die alten Kleider mussten von diesen Annahmestellen zu den Produktionshallen des Unternehmens transportiert werden. Die Organisation dieses Systems bedeutete viel Arbeit. Eric konnte die Hilfe seines Freundes Chris gut gebrauchen.

Babygeschrei riss Eric aus seiner Konzentration. Er stand auf und öffnete die Tür. Chris ging mit seiner Tochter im Flur auf und ab. Er erzählte etwas, doch das Schreien des Babys übertönte seine Stimme.

»Hey, was fehlt dir denn, Kleines?«

»Haben wir dich gestört?«, fragte Chris entschuldigend. »Ich versuche sie schon die ganze Zeit zu beruhigen, aber es klappt einfach nicht.«

»Tja, die Kleine braucht ihre Mami.«

»Rena ist so müde, sie muss sich mal eine Weile ausruhen. Deshalb habe ich Melissa genommen.«

»Du siehst aber auch nicht gerade frisch aus. Dir würde ein bisschen Schlaf ebenfalls gut tun. Gib sie mir mal«, forderte Eric seinen Freund auf und streckte ihm die Arme entgegen, um das Baby in Empfang zu nehmen. »Und jetzt hol mir ein getragenes T-Shirt von Rena.«

Chris kam Erics Aufforderung verwundert nach. Eric ging in die Küche, breitete das T-Shirt auf dem Tisch aus und wickelte das Baby darin ein.

»So, hier hast du deine Mami«, sagte er zu Melissa.

Nachdem er einige Minuten mit ihr in der Küche auf und ab gegangen war, beruhigte sich das Baby.

»Wo hast du denn diesen Trick her?«, fragte Chris erstaunt.

»Kurz nachdem meine kleine Cousine geboren wurde, habe ich meinen Onkel und meine Tante besucht. Ich wollte die Kleine so gerne mal halten, aber sie wollte nur bei ihrer Mama sein. Da hat meine Tante sie in eins ihrer T-Shirts gewickelt. Die Kleine hatte den vertrauten Geruch ihrer Mutter und war zufrieden. «

»Waren das deine Verwandten in Norwegen?«

»Ja«, bestätigte Eric.

»Ich habe dich schon immer um das gute Verhältnis zu deiner Familie beneidet. Ich wünschte, ich hätte auch so eine Familie.«

»Hat sich das Verhältnis zu deinen Eltern immer noch nicht gebessert?«

»Nein, mein Vater hat nie akzeptiert, dass ich nach Kanada gegangen bin, um Ranger zu werden. Die Hochzeit mit Rena hat alles noch schlimmer gemacht. Er fand es nicht akzeptabel, dass ich eine ›Indianerin‹ geheiratet habe. So hat er Rena genannt. Die ›Indianerin‹.«

»Wahrscheinlich ist ihm durch die Hochzeit klar geworden, dass du nicht nach Deutschland zurückkommen willst, um in seine Fußstapfen zu treten.«

»Wahrscheinlich. Aber man sollte doch meinen, dass der eigene Vater einem ein bisschen Glück gönnt. Wenigstens hat meine Mutter in all den Jahren zu mir gestanden. Sie wird sich freuen, Rena endlich kennen zu lernen und von ihrer kleinen Enkeltochter wird sie bestimmt ganz entzückt sein.«

»Ja, das glaube ich auch. Ich wette, früher oder später lässt sich sogar dein Vater von Melissa um den Finger wickeln.«

»Ich hoffe, du hast recht. Es wäre schön, mal wieder unser Haus zu sehen. Außerdem würde ich Rena gern zeigen, wo ich aufgewachsen bin. Zumindest hat mein Vater schon zum Teil seinen Willen bekommen, denn schließlich sind wir jetzt in Berlin, wenn auch nicht ganz freiwillig.«

Chris gähnte herzhaft.

»Ab ins Bett mit dir. Du hast ein bisschen Schlaf dringend nötig«, forderte Eric ihn auf.

»Okay, gute Nacht.«

Chris verschwand im Schlafzimmer und Eric ging mit Melissa in sein Büro. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Notizen zu seinem Projekt, doch zum Arbeiten hatte er keine Lust mehr.

»Wie wäre es, wenn wir uns zusammen Kanada ansehen?«, fragte er Melissa. Das Baby sah ihn aufmerksam an. »Ich glaube, das heißt ja«, stellte er fest und begann im Internet die schönsten Plätze von Kanada zu suchen.

Sie sahen sich Bilder von Toronto an. Alte Gebäude waren von spiegelnden Wolkenkratzern umgeben und vereinten Vergangenheit und Gegenwart. Die Skyline von Vancouver faszinierte ihn mit ihren modernen Wolkenkratzern. Aber auch in Vancouver gab es historische Gebäude wie die Steam Clock, die das Stadtbild aus vergangenen Zeiten heraufbeschwor.

»Aber deine Eltern kommen aus keiner dieser Städte, nicht wahr, Kleines?«, fragte Eric Melissa. »Sie kommen aus Alberta.«

Alberta wurde beherrscht von atemberaubender Natur wie dem jadegrünen Lake Louise und dem wunderschönen türkisfarbenen Moraine Lake. In ihm befand sich eine kleine baumbestandene Insel namens Spirit Island. Glasklare sprudelnde Bäche ergossen sich und all diese Naturwunder waren eingebettet in hohe Berge mit eisblauen Gletschern. Dieses fantastische Naturparadies bot vielen Tieren einen Lebensraum. Schwarzbären, Wapitis, Wildgänse und Streifenhörnchen hatten hier ihre Heimat. Eric reizte es, in dieser wunderschönen Gegend zu wandern und sie in aller Ruhe zu entdecken.

Als nächstes sah sich Eric das Gebiet an, in dem Ölsand abgebaut wurde.

Es gab keinen Baum, kein Strauch, die ganze Landschaft war komplett verschwunden. Tiefe Löcher von gigantischem Ausmaß waren in die Erde gegraben worden. Abraumhalden türmten sich schwarz auf. Statt türkisblauer Seen gab es Tümpel, die mit dunkler Giftbrühe gefüllt waren. Inmitten dieser dunklen verwüsteten Landschaft lagen riesige Industrieanlagen, die ihre Abgase in den Himmel schickten und die Luft verpesteten.

Eric sah fassungslos auf die Bilder. Er konnte nicht begreifen, dass diese beiden Gebiete in derselben Gegend lagen. Es war, als würde das Paradies direkt an die Hölle grenzen. Nachdenklich sah er zu dem Baby in seinem Arm. Nun konnte er die Wut, die Chris antrieb, besser nachvollziehen. Er verstand, warum Rena so viel riskiert hatte.

Melissa war inzwischen eingeschlafen und Eric brachte sie leise in das Zimmer ihrer Eltern. Behutsam legte er sie in ihr Bettchen und schlich wieder hinaus. Er setzte sich an seinen Computer und begann zu recherchieren.

Er erfuhr, dass sich der Ölsand unter der Erde befand und ausgebaggert wurde. Dabei wurde die komplette Landschaft zerstört. Bei Ölsand handelte es sich um Sandkörner, die von einer Schicht aus Wasser und Bitumen umgeben waren. Der Ölsand wurde mit heißem Wasser vermischt. Dann sanken die schweren Sandkörner zu Boden und das leichtere Bitumen schwamm an der Oberfläche. Im Upgrader, einer Aufbereitungsanlage, wurden die langen Kohlenstoffketten gespalten. Schwefel und Schwermetalle wurden entfernt und so wurde aus zähem Bitumen flüssiges Rohöl. Dieser Prozess verschlang immense Mengen an Wasser und Energie. Das verwendete Wasser reicherte sich immer stärker mit giftigen Chemikalien an und wurde nach der Verwendung in offene Becken geleitet. Dort stellte es eine Gefahr für die Umwelt dar.

Betrieben wurden diese Anlagen von einer Firma namens ENTAL, ein milliardenschweres Unternehmen. ENTAL vertrat die Ansicht, dass die Umweltprobleme stark übertrieben wurden. Auf das Öl aus Kanada könne die Welt unmöglich verzichten. Außerdem werde ständig an umweltverträglicheren Lösungen geforscht.

Nach Ansicht aller Umweltorganisationen war der Ölsandabbau absolut unverantwortlich. Die Schäden standen in keinem Verhältnis zum Nutzen, den das gewonnene Öl bot. Doch nicht nur Verbrechen an der Umwelt wurden angeprangert, sondern auch soziale Probleme. Der Ölsandabbau raubte vielen Menschen ihre Lebensgrundlage. Sie wurden durch die freigesetzten Gifte krank und starben.

Eric stieß auf zwei interessante Internetseiten. Die eine gehörte einer kleinen unbekannten Organisation. Auf dieser Seite wurden die Verfahren des Ölsandabbaus akribisch und detailliert beschrieben. Es wurde erklärt, wie es zu den Umweltschäden kam. Eric beschloss, in den nächsten Tagen mit den Verfassern dieser Seite Kontakt aufzunehmen. Diese Leute schienen über ein tiefgehendes technisches Wissen zu verfügen.

Bei der anderen Seite handelte es sich um die Website eines Biokunststoffherstellers namens Leander Klaas, der außerdem Kunststoffe recycelte. Er unterstützte ein Projekt zur Reinigung der Ozeane, das vor einigen Jahren von einem neunzehnjährigen Studenten vorgestellt worden war. Dieser hatte eine effiziente Methode gefunden, wie Plastikmüll mithilfe von schwimmenden Barrieren aus den großen Ozeanstrudeln gesammelt werden konnte. Dabei hatte sich der Erfinder die natürlichen Meeresströmungen zu Nutze gemacht. So konnten die Plastikstrudel vom Abfall befreit und der Zerfall in Mikroplastik verhindert werden. Die Frage, wie Mikroplastik aus den Ozeanen gefiltert werden konnte, war hingegen noch nicht gelöst.

 

Zudem engagierte sich Leander Klaas gegen die Ölindustrie und pries sein umweltfreundliches Verfahren als Alternative an. Der Verbrauch an Kunststoffen war in den letzten Jahren bereits stark zurückgegangen. Die Leute bekamen nicht mehr bei jedem Einkauf eine Plastiktüte, sondern brachten ihre eigenen Beutel, Taschen oder Körbe mit. Auch die Produkte wurden nicht mehr unnötigerweise in Plastik verpackt. Doch immer noch schien Öl als Rohstoff unabdingbar zu sein.

Eric schrieb seinem Freund Marc eine Mail. Er informierte ihn darüber, dass Chris und Rena bei ihm angekommen waren und erkundigte sich, wann Marc Zeit hatte, nach Berlin zu kommen.

»Prost!« Marc stieß mit Rena, Chris und Eric an. Sie saßen im Außenbereich eines kleinen Restaurants in der Nähe von Erics Wohnung. Die Abenddämmerung war angebrochen und ein lauer Wind bot endlich etwas Abkühlung von der Hitze des Tages. »Schön, dass ihr da seid. Ich habe ja schon ein bisschen von eurer abenteuerlichen Reise gehört. Aber warum hattet ihr es denn so eilig, aus Kanada wegzukommen?«

Rena und Chris berichteten ihm vom Abbau der Ölsande und den verheerenden Folgen für die Umwelt und die Menschen, die dort lebten.

»Das ist auch der Grund, warum ich mich mit dir unterhalten wollte«, schaltete sich Eric in das Gespräch ein. »Das wäre doch ein Projekt für dich.«

»Klingt nach einer ziemlich aussichtslosen Sache«, bemerkte Marc trocken. »Nun ja, was soll’s. Die aussichtslosen Projekte sind immer die spannendsten.«

»Aber wo hat eine mächtige Ölfirma ihren Schwachpunkt?«, stellte Chris die entscheidende Frage.

Die drei Männer diskutierten viele Möglichkeiten. Die Ideen reichten von Boykott des Öls aus Kanada über einen Generalstreik der Belegschaft bis zur Sabotage der Anlagen. Doch keine dieser Ideen erschien auch nur ansatzweise umsetzbar.

»Was haltet ihr von der Idee, ihre Zulieferkette zu stören?«, warf Rena ein.

Sie rückte das Baby auf ihrem Schoß zurecht, bevor sie weitersprach. »Oft sind es nicht die großen Aktionen, die zum Erfolg führen. Viele Projekte scheitern an Kleinigkeiten. Ihr müsst nur ein kleines Bauteil finden, für das es schwer Ersatz gibt. Wenn die Ölfirma nicht mehr an dieses Bauteil kommt, kann sie auch nicht mehr produzieren.«

Die drei Männer sahen sie verdutzt an.

»Das ist genial!«, rief Marc.

Chris lächelte seine Frau begeistert an.

»Ich werde mich mal umhören, ob mir jemand bei der Suche nach diesem Bauteil helfen kann. Ich…« Eric verstummte mitten im Satz.

Sein Blick war starr ins Innere des Restaurants gerichtet. Chris sah sich um. Er wollte ergründen, was da drinnen so interessant war. Eric stand wortlos auf und ging hinein.

»Nicht schon wieder«, murmelte Marc.

Eric ging auf eine blonde Frau zu, die an der Bar stand. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt. Je näher Eric ihr kam, desto langsamer wurden seine Schritte. Man konnte das Zögern förmlich spüren. Schließlich trat er neben sie. Marc, Rena und Chris beobachteten, wie Eric die Frau ansprach. Sie drehte sich um und Eric schien förmlich in sich zusammen zu sinken. Er sprach noch kurz mit ihr, dann wandte er sich ab.

»Was ist denn los?«, erkundigte sich Chris.

»Eric hat geglaubt, dass er Isabella gesehen hat.«

»Wer ist Isabella?«, fragte Rena.

»Eric und Isabella haben gemeinsam den Abbau von Methanhydrat verhindert. Isabella hat in einem Forschungsinstitut gearbeitet. Dort ist sie auf brisante Informationen gestoßen. Eric hat ihr geholfen, diese Informationen an die Öffentlichkeit zu bringen. Sie waren gemeinsam in Brüssel bei einer Anhörung und daraufhin wurde der Abbau von Methanhydrat verboten. Nach der Anhörung ist Isabella spurlos verschwunden. Eric befürchtet, dass ihr etwas Schlimmes passiert ist, denn sie hat die Karrieren einiger mächtiger Männer ruiniert«, erklärte Marc.

»Der Abbau von Methanhydrat war eine große Sache. Die Nachrichten davon sind sogar bis nach Alberta gedrungen«, stellte Chris fest.

»Glaubt Eric, dass er schuld ist, weil diese Isabella verschwunden ist?«, fragte Rena.

»Das sicherlich auch, aber das Hauptproblem ist, dass er sich in sie verliebt hat. Ein Jahr lang hat er überall nach Isabella gesucht. Er hat seinen Job verloren und seine Ersparnisse für diese Suche aufgebraucht. Schließlich war er gezwungen wieder zu arbeiten und seine Suche aufzugeben. Er hat schon ein paarmal geglaubt, Isabella irgendwo entdeckt zu haben. Aber bisher hat er sich jedes Mal geirrt.«

»Der Arme. Was für eine tragische Geschichte«, flüsterte Rena betroffen.

Den restlichen Abend vergrub sich Eric in Arbeit. Wieder einmal hatte er für einen Moment Hoffnung geschöpft, doch sie war sofort zerstört worden. Ihm war klar, dass er Isabella wahrscheinlich nicht einfach in einem Restaurant um die Ecke treffen würde. Dennoch hatte er sich nicht bremsen können. Er hatte diese blonde Frau gesehen und sofort war die Illusion in ihm aufgestiegen, dass es sich um Isabella handelte. Er war geradezu gezwungen gewesen, zu ihr zu gehen und sich zu vergewissern. Der Augenblick, in dem er erkannte, dass er nicht Isabellas vertrautes Gesicht vor sich sah, hatte ihn in tiefe Enttäuschung gestürzt. Als er aus dem Restaurant geeilt war, waren ihm die mitleidigen Blicke seiner Freunde gefolgt. Derartige Blicke verfolgten ihn nun schon seit drei Jahren und er konnte sie nicht mehr ertragen.

Nachdem Eric die Arbeit am Projekt von Retramo für diesen Tag beendet hatte, wandte er sich der Internetseite zu, die sich mit dem Abbau von Ölsanden beschäftigte. Sie war auf Englisch verfasst und Eric vermutete, dass sie von Leuten in Kanada betrieben wurde. Er entschloss sich Kontakt aufzunehmen.

»Eine sehr interessante Seite habt ihr. Sie ist sehr detailliert und trotzdem verständlich«, schrieb Eric auf Englisch in das Kontaktfeld.

»Vielen Dank, es war uns wichtig, die Fakten über den Ölsandabbau so darzustellen, dass sie nicht nur Experten verstehen. Ich freue mich, dass das gelungen ist«, kam die Antwort kurz darauf.

Eric überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Er hielt es nicht für ratsam, sofort mit der Tür ins Haus zu fallen.

»Ich arbeite in einer Umweltschutzorganisation in Europa und das Thema Ölsande steht bei uns zur Zeit im Fokus.« Die Frage ›Wer seid ihr?‹ ließ er bewusst unausgesprochen.

Doch sie wurde auch so verstanden. »Wir sind nur ein kleiner, loser Zusammenschluss von Umweltschützern, die sich ebenfalls gegen den Abbau von Ölsanden engagieren. Können wir euch bei eurer Arbeit irgendwie unterstützen? Unser Schwerpunkt liegt vor allem im technischen Bereich, wie du ja bereits bemerkt hast.«

Eric überlegte. Das war die perfekte Vorlage. Er beschloss es zu riskieren.

»Wir sind auf der Suche nach einem Bauteil, das für die Anlagen der Ölkonzerne notwendig ist und für das es nur schwer Ersatz gibt.«

»Du suchst die Achillesferse?«

»Ja.«

Ungeduldig wartete Eric auf eine Antwort, aber sie ließ auf sich warten. Er surfte im Netz, um sich abzulenken. Dann ging er in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. Als er zurückkam, hatte er eine Antwort erhalten.

»Das Wasserrecyclingsystem ist eine Schwachstelle. Für die Wasseraufbereitung wird ein Hydrozyklon genutzt. In dieser Anlage werden die Sandkörner unter Ausnutzung der Zentrifugalkraft vom Wasser getrennt. Ein Hydrozyklon besteht aus mehreren Segmenten. Das verschmutzte Wasser wird in ein zylindrisches Segment geleitet, wobei die Flüssigkeit in einem abwärts gerichteten Wirbel nach unten strömt. An das zylindrische Segment schließt sich ein konisches Segment an. Dieses verjüngt sich und erzeugt so aufwärtsgerichtete Wirbel. Das saubere Wasser kann durch den Oberlauf entweichen, während der Sand an der Wand des Zyklon abgeschieden und durch den Unterlauf ausgetragen wird. Durch die Härte der Sandpartikel werden die Bauteile schnell beschädigt und müssen oft ersetzt werden. Es gibt nur zwei Firmen, die Hydrozyklone herstellen. Eine sitzt in Deutschland. Von denen bezieht ENTAL seine Teile. Die andere befindet sich in China. Soweit ich weiß, sind die chinesischen Teile nicht so robust und verschleißen schneller. Wenn die deutsche Firma nicht mehr liefert, kann es Monate dauern, bis der Ölkonzern einen zuverlässigen Ersatz findet.«

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