Film- und Fernsehanalyse

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2.5 Kontexte

Film- und Fernsehtexte erhalten ihre Bedeutung erst in der Interaktion mit ihren Zuschauern. Diese Interaktion steht nicht in einem gesellschaftsfreien Raum, sondern findet in Kontexten statt: in historischen, ökonomischen, juristischen, technischen, kulturellen und sozial-gesellschaftlichen. Für die Analyse von Filmen und Fernsehsendungen sind in ihrer Funktion für die Bedeutungsproduktion der Zuschauer vor allem fünf Kontexte zentral, die sich auf die textuelle, die mediale und die kulturell-gesellschaftliche Ebene von Film- und Fernsehtexten beziehen:

– Gattungen und Genres

– Intertextualität und Transmedia Storytelling

– Diskurs

– Lebenswelten

– Produktion und Markt

Historische, juristische und gesellschaftliche Kontexte werden hier nur berücksichtigt, insofern sie einen der fünf genannten Kontexte beeinflussen. Diese Kontexte sind für die Analyse in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Einerseits spielen sie bei den bisher genannten Ebenen der Analyse (Inhalt und Repräsentation, Narration und Dramaturgie, Figuren und Akteure, Ästhetik und Gestaltung) eine wichtige Rolle, indem sie sich konkret auf die Film- und Fernsehtexte auswirken. Andererseits findet die Produktion von Bedeutung nicht unabhängig von ihnen statt.

Je nach Kontext können Zuschauer mit demselben Film oder derselben Fernsehsendung unterschiedliche Bedeutungen produzieren. Denn: »Kulturelle Texte sind immer kontextuell artikuliert, in unterschiedlichem Maße polysem strukturiert, haben widersprüchliche, instabile und bestreitbare Bedeutungen« (Winter 2001, S. 347). Je nach Genre sind Figuren und Akteure z.B. anders gestaltet, und die Narration korrespondiert auf je andere Weise mit der Ästhetik. So spielen – wie bereits erwähnt – Komödien meist in hellen Räumen, Horrorfilme dagegen sind in dunklen, unübersichtlichen Häusern lokalisiert. Polizisten spielen in Gangsterfilmen und Thrillern als Antagonisten der Gangster und Nebenfiguren eine andere Rolle als in Polizeifilmen, in denen sie die Protagonisten und Helden sind. Je nach den Diskursen, die zu einer bestimmten Zeit in einer Gesellschaft zirkulieren, fällt die Produktion von Bedeutung bei einzelnen Filmen und Fernsehsendungen unterschiedlich aus. Tony Bennett und Janet Woollacott (1987, S. 64 f.) haben den Begriff »reading formations« geprägt, mit dem sie ausdrücken, dass Texte zu unterschiedlichen Zeiten abhängig von sozialen und kulturellen Entwicklungen auch unterschiedlich gelesen werden. Filme greifen auch zeitbedingte gesellschaftliche Diskurse auf, die sie bereits in einer bestimmten Epoche verorten, in der sie sich auch für die Zuschauer ganz wesentlich in die Zirkulation von Bedeutung einfügen. Während z.B. die Science-Fiction-Filme der 1950er und 1960er Jahre sich in den Diskurs des Kalten Krieges einfügten, ist die »Star Trek«-Serie in Film und Fernsehen eher in einem Diskurs des technologischen Aufbruchs und der multikulturellen Gesellschaft verortet. Auch James Bond hatte zu Zeiten des Kalten Krieges andere Aufgaben als in den 1980er Jahren (vgl. Bennett/Woollacott 1987). Im Folgenden werden die fünf für die Analyse relevanten Kontexte kurz in ihrer Bedeutung für die Film- und Fernsehtexte und deren Zuschauer geschildert, bevor dann in Kapitel 5 in Teil II des Buches ausführlicher auf die damit verbundenen theoretischen Ansätze eingegangen wird.

Da narratives Wissen und das Wissen um die filmischen Darstellungsformen eine wichtige Rolle im Prozess des Filmverstehens und der Entwicklung der individuellen Geschichte im Kopf spielen, ist es wichtig, in der Analyse das Genre des zu analysierenden Films zu bestimmen und die Konventionen der Erzählung und der Darstellung herauszuarbeiten. Denn die Zugehörigkeit eines Films oder einer Fernsehsendung zu einem bestimmten Genre strukturiert bereits die Erwartungen des Publikums vor. Ein Genre ist in diesem Sinn gewissermaßen ein Gebrauchswertversprechen. Jeder wird von einer Gameshow die Darbietung von Spielen erwarten und nicht den Bericht über soziale Missstände in Großstädten. Niemand wird von einer Nachrichtensendung erwarten, dass dort ein Fantasy-Rollenspiel oder eine Hundedressur stattfinden, aber jeder wird von einem Western erwarten, dass dort galoppierende Pferde und schießende Männer zu sehen sind. Die Inszenierung von Figuren, Beziehungen, Handlungsräumen oder Interaktionsmustern hängt u.a. vom Genre ab. So wird z.B. Gewalt je nach Genre unterschiedlich inszeniert (vgl. Mikos 2001b). Unter dem Begriff »Genre« werden hier Muster und Konventionen der Erzählung bezeichnet, die als »Systeme von Orientierungen, Erwartungen und Konventionen, die zwischen Industrie, Text und Subjekt zirkulieren« (Neale 1981, S. 6), verstanden werden.

Ohne die Genrezuordnung und die Kenntnis der Genrekonventionen können Probleme beim Verständnis des Films oder der Fernsehsendung auftauchen. Die Geschichte im Kopf lässt sich nicht mehr so recht zusammenfügen. Wenn z.B. in einem Film zeitweise Gegenstände durch die Luft schwirren, weil die Gesetze der Schwerkraft nicht gelten, werden die Zuschauer eine andere Geschichte im Kopf bilden, wenn sie wissen, dass es sich um einen Science-Fiction-Film handelt, als wenn sie von einem Melodram ausgehen und die entsprechenden Szenen als symbolischen Ausdruck der Innenwelt der Protagonistin ansehen. Nur wer die Genrekonventionen des Western kennt, wird die komischen und zum Teil ironischen Elemente in einem Film wie »Erbarmungslos« verstehen können und an dem Spiel mit den Genrekonventionen und der damit verbundenen Thematisierung des Western-Mythos seine Freude haben (vgl. Monsees 1996, S. 61 ff.). Die Kenntnis des Genres und seiner Konventionen schafft eine Art kommunikatives Vertrauen, die Zuschauer können sich ihrer Erwartungen sicher sein. Zugleich kann der Text darauf vertrauen, dass die Zuschauer ihr Wissen aktivieren und so ihren Teil zur Geschichte beitragen. Das gilt auch für die Hollywood-Blockbuster zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die verschiedene Genreelemente mischen, um ein möglichst großes Publikum zu erreichen (vgl. Mikos u.a. 2007, S. 19 ff.; Schweinitz 2006, S. 90 ff.; Thompson 2003). Wer nicht um die Genrekonventionen eines Films weiß, wird keine entsprechenden Erwartungen an den Film haben und demzufolge eine andere Geschichte im Kopf entwickeln als ein Zuschauer mit Genrekenntnissen.

Intertextualität spielt als Kontext eine wichtige Rolle. Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass mit Intertextualität die Beziehung eines Film- oder Fernsehtextes zu anderen Texten gemeint ist (vgl. Mikos 1999; Pearson 2014). Das können andere Film- und Fernsehtexte sein, aber auch andere mediale Texte wie ein Roman oder ein Gemälde. Intertextualität ist für die Film- und Fernsehanalyse vor allem dann wichtig, wenn die Bedeutung eines Film- oder Fernsehtextes über und durch die Referenzen zu anderen Texten produziert wird.

Jeder neue Film und jede neue Fernsehsendung tritt in ein bereits vorhandenes Universum von Texten ein, das alle bisher produzierten Filme und Fernsehsendungen umfasst. Das ist die produktionsästhetische Perspektive der Intertextualität. Jeder neue Film von Quentin Tarantino steht nicht nur im Kontext aller früheren Filme dieses Regisseurs, sondern auch im Kontext aller anderen amerikanischen Filme, aller europäischen Filme, aller Western usw. Jede neue Quizshow im Fernsehen steht im Kontext aller anderen Quizshows, aber auch im Kontext aller anderen Shows mit dem jeweiligen Moderator. Jeder Film- und Fernsehtext steht also in einer Vielzahl von kontextuellen Bezügen zu anderen Texten. Andererseits wird kein Text unabhängig von den Erfahrungen und Erlebnissen mit anderen Texten rezipiert (vgl. Eco 1987, S. 101), d.h., dass Filme und Fernsehsendungen immer in dem Kontext der Rezeption anderer Filme, Fernsehsendungen und weiterer Medien der Populärkultur gesehen werden. Das ist die rezeptionsästhetische Seite der Intertextualität. Jede neue Episode einer Krimireihe wie »Navy CIS«, »Criminal Minds« oder »Mord mit Aussicht« wird vor dem Hintergrund aller anderen Folgen dieser Reihe sowie vor dem Hintergrund aller anderen Kriminalserien betrachtet, die der jeweilige Zuschauer in seinem bisherigen Leben rezipiert hat. Jede romantische Komödie mit Sandra Bullock in der Hauptrolle wird vor dem Hintergrund aller Filme mit dieser Schauspielerin, aller romantischen Komödien, aber z.B. auch aller Melodramen, die der jeweilige Zuschauer bisher gesehen hat, angeschaut.

Die im Verlauf der sogenannten Mediensozialisation gesammelten Erfahrungen und Erlebnisse mit Medientexten gehen in die intertextuelle Enzyklopädie ein, die den kontextuellen Rahmen für die Produktion von Bedeutungen bildet. Intertextualität ist kein statischer Zustand, sondern ein dynamischer Prozess, der sich erst in der Interaktion der Zuschauer mit Film- und Fernsehtexten realisiert. Jede neue Rezeptionserfahrung erweitert die Enzyklopädie. Jeder neue Film und jede neue Fernsehsendung erweitert das Universum der Texte. Dadurch ist auch die Position eines einzelnen Films oder einer einzelnen Fernsehsendung nicht statisch, sondern verschiebt sich im Verlauf der Produktions- und Rezeptionsgeschichte. Jeder neue Thriller bedeutet z.B. eine Verschiebung der Bedeutung von »alten« Thrillern des Regisseurs Alfred Hitchcock, jede neue Show mit dem Moderator Jörg Pilawa lässt seine alten Shows in einem neuen Licht erscheinen, ebenso wie die alten Hitchcock-Filme und die alten Pilawa-Shows die Bedeutungsproduktion des neuen Thrillers und der neuen Show beeinflussen.

Da das Universum der Texte, in dem sich alle Film- und Fernsehtexte verorten, nicht nur aus Filmen und Fernsehsendungen besteht, spielt Intermedialität als ein Typus von Intertextualität (vgl. Hess-Lüttich 1997, S. 131) eine nicht unwichtige Rolle. Intermedialität bezeichnet »Mediengrenzen überschreitende Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren« (Rajewsky 2002, S. 13). Darunter kann die Reproduktion eines Textes aus einem Medium in einem anderen Medium verstanden werden. So kann z.B. jede Literaturverfilmung unter dem Gesichtspunkt der Intermedialität analysiert werden, indem untersucht wird, wie sich die spezifischen ästhetischen Codes des jeweiligen Mediums auf die Narration oder die Repräsentation auswirken und wie dadurch unterschiedliche Lesarten möglich werden.

 

In den konvergierenden Medienumgebungen des 21. Jahrhunderts spielen crossmediale Vermarktungen und Transmedia Storytelling eine wichtige Rolle. In der Medienwissenschaft gibt es einige Konfusion bezüglich der Begriffe, die oft synonym für die Beschreibung der gleichen Phänomene verwendet werden. Grundsätzlich geht es bei einer crossmedialen Vermarktung darum, eine Geschichte oder ein Produkt über verschiedene Medien zu bewerben. Transmedia Storytelling geht dagegen davon aus, dass eine Geschichte gezielt über verschiedene Medien erzählt wird, sodass jederTeil auf jedem Medium zu einem tieferen Verständnis der Geschichte führt (vgl. Evans 2011, S. 19 ff.; Ryan 2013; Weaver 2013, S. 8 ff.). Die Nutzer haben dabei die Freiheit zu entscheiden, wie tief sie in eine Geschichte einsteigen wollen. Karin Fast (2012) spricht in dem Zusammenhang von transmedialer Unterhaltung, indem narrative Markenwelten geschaffen werden – solche transmedialen Markenwelten sind Franchise-Filme wie »Der Herr der Ringe«, »Der Hobbit«, »Matrix«, »Transformers« oder »X-Men« und Fernsehserien wie »Dexter«, »Fringe«, »Heroes«, »Lost« oder »True Blood«.

Die Bedeutungen, die Zuschauer mit Film- und Fernsehtexten produzieren, sind eng mit den in einer Gesellschaft zirkulierenden Diskursen verknüpft. Daher spielt die Kategorie »Diskurs« als Kontext eine wichtige Rolle. Als Diskurs wird eine Praxis verstanden, in der Zeichensysteme benutzt werden, um eine soziale Praxis aus einem bestimmten Blickwinkel darzustellen (vgl. Fairclough 1995, S. 1 ff.). Daher ist es angebracht, von diskursiven Praktiken zu sprechen, die auf Formationen von Aussagen und Sets von textuellen Arrangements beruhen. Die enge Verbindung der diskursiven Praxis zu Repräsentationen wird an dieser Stelle bereits deutlich. Diskurse vermitteln einen bestimmten Blick auf die soziale Wirklichkeit und auf soziale Praktiken. Sie sind an Medien gebunden. Dabei ist zu bedenken, dass mediale Repräsentationen selbst Diskursereignisse sind, die Realität erst verfügbar machen (vgl. Fiske 1994, S. 4; Winter 1997, S. 56). Diskurse sind zentral, weil sie den Subjekten helfen, Sinn in die Konstruktion der sozialen Realität zu bringen (vgl. Casey u.a. 2002, S. 64), denn sie entfalten strukturierende Kraft. Zugleich sind sie von Macht und Herrschaft durchdrungen, wie Michel Foucault (2002; 2012) in seinen Analysen gezeigt hat. Die ausdifferenzierten Gesellschaften der westlichen Welt sind von einer Multidiskursivität gekennzeichnet (vgl. Fiske 1994, S. 4). Verschiedene Diskurse konkurrieren miteinander um die Vorherrschaft in der gesellschaftlichen Diskursordnung.

Film- und Fernsehtexte als diskursive Praktiken fügen sich in die in der Gesellschaft zirkulierenden Diskurse ein. Damit werden sie selbst zu einem umkämpften Feld. Romantische Komödien können im Rahmen diskursiver Praktiken gesehen werden, die romantische Liebe zum Gegenstand haben, stehen damit aber zugleich in Konkurrenz zum Diskurs, der eine Beziehung rein ökonomisch-materiell sieht. Ein Film wie »Jurassic Park« greift den Diskurs um Gentechnologie auf. Ein erfolgreicher Film wie »Titanic« greift nicht nur den Diskurs um Liebe auf, sondern auch Diskurse um Klassengesellschaft, Fortschritt durch Technik und Naturgewalten. Ein Film wie »I, Robot« greift die Diskurse über künstliche Intelligenz auf. Ein Film wie »Django Unchained« greift Diskurse über Rassentrennung und Sklaverei auf. Ein Film wie »Das erstaunliche Leben des Walter Mitty« führt den Diskurs über Tagträume und ein abenteuerliches Leben jenseits des bürgerlichen Alltags fort und verhandelt auch Geschlechterdiskurse. Fernsehshows wie »Deutschland sucht den Superstar« oder »Germany’s Next Topmodel« greifen Diskurse um die Leistungsgesellschaft, beruflichen Erfolg, um Musikstile, um die Rolle von Prominenten in der Öffentlichkeit und um die Bedeutung von Schönheitsidealen auf. In Ärzte-Dramen wie »Grey’s Anatomy« oder »In aller Freundschaft« spielen Diskurse über Liebe am Arbeitsplatz, Ausbildung, Sterbehilfe, ethisches Handeln, Karriere, Altenpflege usw. eine wichtige Rolle. In Filmen und Fernsehsendungen überlagern sich mehrere Diskurse. Sie werden damit selbst zum Feld der Auseinandersetzung um die Durchsetzung von Bedeutungen. Dadurch sind auch verschiedene Lesarten möglich.

In der Film- und Fernsehanalyse kann herausgearbeitet werden, welche Diskurse in einem Film- oder Fernsehtext eine Rolle spielen und wie die Texte sich dadurch im diskursiven Feld der Gesellschaft verorten. Damit wird u.a. möglich, verschiedene Lesarten zu bestimmen, die im Text, der selbst als diskursive Praxis gilt, angelegt sind. Die Diskurse der Texte stehen aber immer in Bezug zu den Diskursen, die in der sozialen Praxis der Zuschauer zirkulieren. Daher muss die Lebenswelt als ein weiterer Kontext in den Analysen berücksichtigt werden.

Die Lebenswelt ist als Kontext für die Film- und Fernsehtexte von Bedeutung, weil sie das Bezugssystem darstellt, auf das sich Produzenten und Rezipienten beziehen. Sie ist »die subjektiv sinnhafte Erscheinungsform des Wissens von Welt, die als Rahmen der täglichen Lebenspraxis intentional die Handlungen der Subjekte steuert« (Mikos 1992, S. 532). Dieses Wissen von Welt ist allerdings nicht nur kognitiv vermittelt, sondern auch emotional und über den praktischen Sinn. Die Menschen handeln grundsätzlich nur innerhalb ihres lebensweltlichen Horizonts, »aus ihm können sie nicht heraustreten« (Habermas 1988, S. 192). Das liegt u.a. daran, dass die Menschen in kollektiven Lebensformen, die kulturell geprägt sind, sozialisiert und in sie integriert werden. Dadurch sind sie in der Lage, sich in der Interaktion mit anderen handlungsfähig zu erweisen und über die kommunikative Aneignung den sinnhaften Aufbau der sozialen Welt zu betreiben. »Die Strukturen der Lebenswelt legen die Formen der Intersubjektivität möglicher Verständigung fest« (ebd.). Daher sind Medien wie Film und Fernsehen den lebensweltlichen Kontexten verhaftet (vgl. ebd., S. 573), nur so können sie ihr kommunikatives Potenzial entfalten. Denn Film- und Fernsehtexte sind – wie bereits in Kapitel I-1 beschrieben – zum Wissen, zu den Affekten und Emotionen, zur sozialen Kommunikation und zum praktischen Sinn der Zuschauer hin geöffnet. Mit ihrem Wissen, ihren Emotionen, ihren sozial-kommunikativen Aktivitäten und ihrem praktischen Sinn sind die Zuschauer in ihrer Lebenswelt situiert. Die Bedeutungsproduktion, die zum sinnhaften Aufbau ihrer sozialen Welt beiträgt, ist jedoch nicht statisch in den lebensweltlichen Horizonten gefangen, sondern ist ein dynamischer Prozess, der aus der individuellen Sicht der Akteure als Lerngeschichte verstanden werden kann.

In den ausdifferenzierten westlichen Gesellschaften kann nicht mehr von der Lebenswelt gesprochen werden. Es muss konstatiert werden, dass es eine Vielzahl von Lebenswelten gibt. Die Lebenswelt eines Landwirtes in einem kleinen Dorf ist sicher eine andere als die eines Barkeepers in einem großstädtischen Nachtclub. In diesen ausdifferenzierten Gesellschaften übernehmen die Medien – vor allem das Fernsehen, aber auch der Film – eine Vermittlerrolle zwischen den verschiedenen Lebenswelten (vgl. Mikos 2002a). In den Medien werden verschiedene Lebensauffassungen thematisiert und sind damit der Bedeutungsproduktion zugänglich. Die Zuschauer werden jedoch entsprechend ihren lebensweltlichen Kontexten jeweils andere Bedeutungen produzieren, denn die rezipierten Film- und Fernsehtexte stellen eine lebensweltliche Manifestation des Zuschauerwissens dar. So entstehen unterschiedliche Lesarten von Filmen und Fernsehsendungen. Während ein Film wie »Trainspotting« von manchen Zuschauern als Verherrlichung des Drogenkonsums und damit als amoralischer Film gesehen wird, bietet er für andere einen authentischen Einblick in das Lebensgefühl und die Lebenswelt von Junkies (vgl. Winter 1998, S. 42 ff.). Lebenswelt ist also eine wichtige Kontextkategorie für die Film- und Fernsehanalyse, denn die Film- und Fernsehtexte stehen in Beziehung zu den lebensweltlichen Horizonten der Zuschauer. In der Analyse müssen daher die alltäglichen Erfahrungsmuster, die in die Film- und Fernsehtexte eingegangen sind, herausgearbeitet werden. Auf diese Weise kann die Positionierung von Filmen und Fernsehsendungen in der sozialen Praxis der Zuschauer bestimmt werden.

Für die Analyse von Filmen und Fernsehsendungen haben die Produktion und der internationale Film- und Fernsehmarkt als Kontexte eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Seit den 1990er Jahren hat der internationale Formathandel für das Fernsehen einen neuen Aufschwung erlebt, da aufgrund der Digitalisierung eine Ausweitung von Fernsehkanälen stattgefunden hat. Dadurch ist ein immer größerer Programmbedarf entstanden. Zugleich hat die Digitalisierung eine neue Ära der Blockbuster-Filme eingeläutet. In der Entwicklung immer neuer computergenerierter Spezialeffekte zeigt sich ebenso wie im Marketing die ökonomische Kapazität von Hollywood. Die globale Verbreitung von Fernsehformaten hat dazu geführt, dass es in vielen Ländern lokale Adaptionen von Shows wie »Wer wird Millionär?«, »America’s Next Top Model«, »X-Factor« und vielen anderen nonfiktionalen Formaten sowie Fernsehserien gibt (vgl. Moran 2009a und 2009b; Weber 2012; Zwaan/de Bruin 2012). Produktionsbedingungen schreiben sich in die Produkte, die Film- und Fernsehtexte, ein. So hat das Studiosystem in Hollywood eine eigene Erzählweise und einen eigenen Stil entwickelt (vgl. Bordwell u.a. 1988; Jewell 2007, S. 155 ff.; Stafford 2014, S. 43 ff.), der sich international durchgesetzt hat. Die Dominanz der USA auf dem globalen Unterhaltungsmarkt liegt vor allem in der Filmindustrie begründet, denn Hollywood-Filme werden in mehr als 150 Ländern der Welt gezeigt und dominieren oft den Filmmarkt in diesen Ländern (vgl. Thussu 2007b, S. 18 f.). Die Arbeitsweise von Hollywood (vgl. Wasko 2003) macht eine globale Vermarktung der Produkte notwendig (vgl. Miller u.a. 2001 und 2005). Marketing und Distribution werden in der digitalen Medienwelt immer wichtiger und beeinflussen auch die Produktion (vgl. Cunningham/Silver 2013; Davis u.a. 2015, S. 263 ff.; Ulin 2013). Auf dem deutschen Film- und Fernsehmarkt sind seit Beginn des 21. Jahrhunderts aber auch sogenannte Bollywood-Filme populär geworden. Diese aus Indien stammenden Filme haben ebenfalls eine eigene Erzählweise und einen eigenen Stil entwickelt, in dem Musik und Tanz eine wichtige Rolle spielen (vgl. Alexowitz 2003, S. 72 ff.; Kabir 2001 sowie die Beiträge in Kaur/Sinha 2005 und Marschall 2006). Im Hongkong-Kino wurde eine eigene Form des Actionfilms mit einer eigenen Ästhetik entwickelt (vgl. Bordwell 2000; Teo 1997, S. 87 ff.), die international zahlreiche Nachahmungen gefunden hat (vgl. die Beiträge in Morris u.a. 2005).

Die veränderten Marktbedingungen auf einem zunehmend konvergenten Medienmarkt, auf dem multimediale Konzerne die Entwicklungen vorantreiben, haben einen wesentlichen Einfluss auf die Filme und Fernsehsendungen. So wurden vor allem in amerikanischen Serien wie »Breaking Bad«, »Lost« oder »House of Cards« sehr dichte und komplexe Erzählstrukturen entwickelt, um die Zuschauer stärker an das Medium zu binden. Zugleich wurden sie mit Internetanwendungen, mobilen Adaptionen oder Computerspielen gekoppelt. Zahlreiche Hollywood-Filme wie »Batman«, »Sin City«, »Spiderman« oder die Filme des Marvel Cinematic Universe wie den »Avengers«- und den »Iron Man«-Filmen entstehen als Adaptionen von Comics, andere wie »Resident Evil« oder »Tomb Raider« beruhen auf Computerspielen. Erfolgreiche Filmserien wie »Blade« und »From Dusk Till Dawn« werden ebenso wie erfolgreiche Filme (z.B. »Fargo« oder »Hannibal«) als Fernsehserien adaptiert oder erfolgreiche Fernsehserien wie »Paddington« oder »Sex and the City« werden zu Filmen. Die Medienkonzerne sind bemüht, einmal erfolgreiche Erzählungen auf möglichst vielen medialen Plattformen zu vermarkten. Film- und Fernsehtexte werden so Teil einer konvergenten Medienwelt (vgl. Jenkins 2006; Keane 2007), in der sie zwar noch als diskrete Werke von den Zuschauern genutzt werden und der Analyse zugänglich sind, ihre soziale Bedeutung aber zunehmend im Kontext der konvergenten Medienumgebungen gesehen werden muss. Da Medienkonzerne auf eine internationale Vermarktung ihrer Filme und Fernsehformate zielen, muss von einem globalen Markt ausgegangen werden, auf dem es »Flüsse« und »Gegen-Flüsse« gibt (vgl. die Beiträge in Thussu 2007a). Die Globalisierung der Medien ist von durchaus widersprüchlichen Tendenzen geprägt.

 

In der Analyse kann herausgearbeitet werden, im Kontext welcher anderen medialen Ausprägungen eine bestimmte Erzählung als Film oder Fernsehsendung steht. Es können die typischen Muster der Narration, der Figurenzeichnung, des Einsatzes von Musik und Tanz im Rahmen der Produktionsbedingungen in einem kulturell geprägten Markt wie Bollywood, Hollywood oder Europa analysiert werden. Es ist z.B. ein Unterschied, ob das Setting einer Show wie »Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!« nur für die deutsche Produktion gebaut wurde oder ob es sich um ein Setting handelt, das von der englischen Produktionsfirma für das englische Originalformat geschaffen wurde und in dem nun die internationalen Adaptionen produziert werden.

Die Erkenntnisse, die aus einer Film- und Fernsehanalyse gewonnen werden sollen, können sich auf eine der fünf genannten Ebenen – Inhalt und Repräsentation, Narration und Dramaturgie, Figuren und Akteure, Ästhetik und Gestaltung sowie die Kontexte – richten. Alle Ebenen und Kontexte sind empirisch nicht voneinander zu trennen, in der konkreten Kommunikation von Film- und Fernsehtexten mit Zuschauern bedingen sie sich gegenseitig. In ihrem Zusammenwirken zeigt sich die Komplexität der Film- und Fernsehkommunikation. Für die Analyse ist es wichtig, die einzelnen Ebenen und die Kontexte zu trennen, um so den jeweiligen Beitrag zum Gelingen (oder Misslingen) der Kommunikation herausarbeiten zu können.

Fragen zum Verständnis

– Warum ist eine Film- und Fernsehanalyse ohne theoretische Annahmen sinnlos?

– Was macht die Spezifik von Film- und Fernsehbildern im Gegensatz zur Fotografie oder Kunst aus?

– Aufwelche fünf Ebenen kann sich das Erkenntnisinteresse der Analyse richten?

– Wie ist das Verhältnis von Inhalt und Repräsentation zu beschreiben?

– Was kennzeichnet eine Erzählung?

– Welche Aufgabe hat die Dramaturgie?

– Welche Rolle spielen Narration und Dramaturgie für die Aktivitäten der Zuschauer?

– Worin unterscheiden sich Figuren und Charaktere auf der einen Seite und Akteure auf der anderen Seite?

– Wiewerden Personenwahrgenommen?

– Welche Rolle spielen Ästhetik und Gestaltung bei der Film- und Fernsehkommunikation?

– Welche Gestaltungsmittel kann man bei Film und Fernsehen unterscheiden?

– Wiewirken sich die Kontexte Gattungen und Genres, Intertextualität, Diskurs, Lebenswelten sowie Produktion und Markt auf die Film- und Fernsehtexte als Kommunikationsmedien aus?

– Was unterscheidet Transmedia Storytelling von Intermedialität?

– Warum sind die Produktionsbedingungen als Kontextewichtig?