Schach mit toter Dame

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Sari: Loretta Luchs #13
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
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Kapitel 4

Perlen subtilen Humors und Spaghetti mit Tomatensauce – es kann viele Gründe dafür geben, mit jemandem zusammen zu sein

Als ich bei Dennis eintraf, hatte er schon einiges im Garten geschafft. Ich hatte wenig bis gar keine Lust, mich körperlich zu betätigen, aber er forderte mich auch nicht dazu auf.

Mit baumelnden Beinen saß ich auf dem Gartentisch, mampfte einen Apfel und berichtete ihm, was die Schwestern mir erzählt hatten, während er mit einem Rechen Blätter und abgeknipste Blüten zu mehreren Haufen zusammenharkte.

Als ich geendet hatte, lehnte Dennis den Rechen an einen Baum und kam zu mir herüber. »Klingt ja abenteuerlich. Glaubst du ihnen?«

Ich zuckte mit den Schultern und warf das Kerngehäuse des Apfels zielsicher auf den nächstbesten Laubhaufen. »Gute Frage – nächste Frage. Sie halten den plötzlichen Tod ihres Mitbewohners Heribert für fragwürdig, das glaube ich ihnen unbesehen. Ob es ein natürlicher Tod war – keine Ahnung. Ich werde kaum zur Küpper gehen können, um sie zu bitten, mal eben seine Leiche ausbuddeln und obduzieren zu lassen.«

Bei der bloßen Vorstellung zuckte ich zusammen. Kommissarin Astrid Küpper würde mich nicht einmal zu Ende erzählen lassen, bevor sie mich aus ihrem Büro jagte. Was die Sache nicht eben besser machte: Sie kannte die Schwestern von ihren letzten Ermittlungen, bei denen sich unsere Wege einmal mehr gekreuzt hatten. Und todsicher erinnerte sich die Küpper an die Leidenschaft der Schwestern für Kriminalfälle.

Ich seufzte. »Wahrscheinlich wird man nie herausfinden können, ob Heribert ermordet wurde oder nicht. Aber …« Ich brach ab.

»Aber?«, fragte Dennis nach, als ich schwieg.

»Das mit den verschwundenen Sachen lässt mich nicht los, um ehrlich zu sein. Das bilden sie sich nicht ein. Die Uhr und der Teppich wurden offenbar wirklich ausgetauscht.«

Er nickte und rieb sich mit der Hand die Stirn, was einen breiten Streifen Schmutz hinterließ. »Wir vertiefen das später, okay? Ich wäre dir ewig dankbar, wenn du mir kurz hilfst, das Laub in Säcke zu stopfen. Der Wetterbericht hat für heute Nacht starken Wind angekündigt, und ich schieße mir eine Kugel in den Kopf, wenn das Zeug morgen früh wieder über den ganzen Garten verstreut ist.«

Ewige Dankbarkeit?

Wie könnte ich mir das entgehen lassen?

Ich hielt die großen Plastiksäcke auf, und Dennis schaufelte die verblühten Pflanzen und abgefallenen Blätter hinein. Die perfekte Arbeitsteilung; außerdem ging es so bedeutend schneller, als wenn er es alleine erledigt hätte. Nach kaum einer halben Stunde waren wir fertig, und Dennis sah sich zufrieden im Garten um.

»Ich füttere noch meine Schätzchen, und dann springe ich rasch unter die Dusche«, sagte er. »Ich bin völlig verschwitzt und stinke wie ein Iltis.«

Er gab mir einen Kuss und ging dann zu seinen ›Schätzchen‹, bei denen es sich um seine geliebten Zwergseidenhühner handelte. Sie residierten in einem großzügigen, teilüberdachten Gehege mit einer luxuriösen Hütte, die eine detailgetreue Miniaturnachbildung von Dennis’ Bauernhaus war. Allein dafür musste man diesen Mann lieben, fand ich.

Von der Küche aus hörte ich ihn liebevoll mit seinen Hühnchen sprechen, die ihm leise gackernd antworteten. Die kleinen Tiere waren so zutraulich, dass sie sich von ihm sogar auf den Arm nehmen und streicheln ließen.

Durch die Hintertür kam er in Haus, nahm erfreut zur Kenntnis, dass ich mit Kochen beschäftigt war, und stapfte die Treppe hinauf in den ausgebauten Dachboden, wo sich Schlafzimmer und Bad befanden. Sekunden später hörte ich die Dusche rauschen.

Als er wieder herunterkam, goss ich gerade die Spaghetti ab.

»Kann ich irgendwas helfen?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Der Tisch ist gedeckt, der Parmesan ist geraspelt. Du könntest den Wein einschenken; ich bringe die Nudeln.«

Ich füllte zwei tiefe Teller mit Spaghetti und Sauce, dann folgte ich ihm in den Nebenraum und stellte das Essen auf unsere Plätze.

Dennis beugte sich über seinen Teller und schnupperte genießerisch. »Hmmm, köstlich … Du weißt, wie du mich glücklich machen kannst: ein paar Nudeln, dazu Tomatentunke und Parmesan. Gut, früher habe ich mich mit Ketchup zufriedengegeben, aber diese Version … Es gibt nichts Besseres.« Konzentriert wickelte er Spaghetti auf die Gabel und schob sich den Riesenbissen in den Mund.

Ich musste grinsen. »Ich konnte nichts falsch machen, schließlich handelt es sich dabei um das Lieblingsessen aller Kinder.«

»Na, na, na – nicht frech werden, Frolleinchen. Wäre ich ein Kind, dann wäre unsere Verbindung höchst unstatthaft, das musst du zugeben.«

»Nicht nur kindisch, sondern auch noch geschmacklos.« Ich seufzte theatralisch. »Sieht so aus, als wäre es Zeit, unsere Beziehung neu zu buchstabieren.«

Dennis warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend.

»Und auch noch überaus leicht zu erheitern«, fügte ich amüsiert hinzu.

Schnaufend winkte er ab. »Ach komm, nur deshalb hast du mich doch genommen. Weil ich über deine schrägen Witze lache.«

»Schräge Witze?« Ich hob die Brauen. »Ich muss doch sehr bitten. Das sind Perlen subtilen Humors, funkelnde Diamanten intelligenter Geistesblitze, und du hast das Privileg, den lieben langen Tag in ihren einzigartigen Genuss zu kommen. Nur deshalb hast du mich genommen.«

Wieder prustete er los. »Ich kann nur hoffen, dass uns nicht irgendwann mal jemand heimlich belauscht, wenn wir so einen Quatsch erzählen.« Er stockte. »Apropos: Denkst du, die Wohnungen in der Residenz sind tatsächlich verwanzt?«

»Für die Schwestern ist das die einzige Möglichkeit, wie jemand vom Wert der Uhr und des Teppichs erfahren haben könnte. Und ob die Taschenuhren auch verschwunden sind, wissen wir nicht.«

»Hm. Hast du nicht vorhin erwähnt, dass dieser Heribert die Sachen versteigern und den Erlös über sein Testament gemeinnützigen Zwecken zukommen lassen wollte? Dann müsste doch spätestens dem Testamentsvollstrecker aufgefallen sein, dass weder die kostbaren Gegenstände noch das Geld existieren.«

»Sehr guter Punkt«, sagte ich anerkennend. »Aber die Schwestern sind nicht sicher, ob er das Testament schon verfasst hatte. Zwar wollte er die Sachen eigentlich noch zu Lebzeiten versteigern lassen, aber zur Sicherheit hätte er es bestimmt im Testament festgelegt, dass sein Plan umgesetzt wird, falls er vorher sterben sollte. Also: Was schließen wir daraus?«

»Dass es kein entsprechendes Testament gibt, denn sonst wäre das Verschwinden der Gegenstände ratzfatz aufgeflogen«, erwiderte Dennis wie aus der Pistole geschossen. »Wer weiß – vielleicht hat ihn sein unfreiwilliges Ableben daran gehindert, das Testament zu verfassen?«

Erwartungsvoll sah er mich an, aber ich zögerte, ihm zuzustimmen. Ich wollte einfach nicht, dass es sich so abgespielt hatte. Denn das bedeutete, dass eventuell noch weitere Leute in der Residenz in Gefahr waren. Vielleicht sogar die Schwestern, weil sie zu viel wussten.

Herrje, was für ein Schlamassel.

»Überleg doch mal«, fuhr Dennis fort, »gehen wir mal davon aus, dass die Wohnung von Heribert tatsächlich verwanzt war. Und gehen wir weiter davon aus, dass jemand das besagte Gespräch zwischen ihm und den Schwestern belauscht hat. Es wird rasch gehandelt, und Heribert kriegt ein Kissen aufs Gesicht gedrückt. Wenn er die Kaminuhr und den Teppich um sich haben wollte, gilt das bestimmt auch für seine Taschenuhren. Ich wette, die lagen in einer Schublade seines Wohnzimmerschranks.«

»Aber die Täter mussten doch damit rechnen, dass der Diebstahl nicht unentdeckt bleibt. Ein Mord vielleicht, aber das Verschwinden der Kostbarkeiten? Mussten sie nicht davon ausgehen, dass es dieses Testament gibt?«

Dennis zuckte mit den Schultern. »Was wissen wir schon, was die alles mitgehört haben? Vielleicht ja auch ein Telefonat mit seinem Anwalt, bei dem es ums Testament ging? Sprich: um einen Termin, um es zu verfassen?« Er grinste breit und fügte hinzu: »Mannomann, Ermitteln macht echt durstig. Ich hole den Wein.«

Er stand auf und ging rüber in die Küche. Ich hörte die Kühlschranktür und das Klirren von Flaschen, dann kam er wieder herein. Seine Augen funkelten, seine Wangen glühten: Dennis war Feuer und Flamme bei der Vorstellung, dass es in der Residenz für uns – uns! – tatsächlich einen Kriminalfall aufzuklären gab.

»Und wenn nicht?«, fragte ich, als er eingeschenkt und mir gegenüber wieder Platz genommen hatte. »Wenn es das Testament doch schon gab? Was dann?«

Dennis zuckte mit den Schultern. »Heribert wäre vermutlich nicht der Erste, der Besitztümer für kostbar hält, bei denen sich dann herausstellt, dass es sich nur um wertlosen Plunder handelt. Und wenn er tatsächlich keine Verwandten hatte, die etwas dazu sagen können … tja.«

Unsere Nudeln wurden langsam kalt, aber wir hatten unser Essen längst vergessen.

Dennis’ Enthusiasmus freute und verwirrte mich gleichermaßen. Zum ersten Mal waren wir in der Situation, gemeinsam einen eventuellen Fall zu konstruieren und uns über eine mögliche Lösung beziehungsweise Aufklärung Gedanken zu machen. Er schien es kaum abwarten zu können, sich mit kriminellen Halunken anzulegen.

Mit Pascal, meinem Ex-Freund, war es komplett anders gewesen. Er hatte es gehasst, wenn ich bei ungeklärten Todesfällen tätig geworden war. Nein, ›gehasst‹ ist das falsche Wort – er hatte Angst um mich gehabt. Und das nicht ohne Grund, denn ich war dabei einige Male durchaus in Lebensgefahr geraten, und das hatte er irgendwann nicht mehr ausgehalten. Vor die Wahl gestellt, mich zwischen ihm und meinen Ermittlungen zu entscheiden … Nun, wir haben uns getrennt, und das sagt wohl alles.

 

Dennis dagegen war von meinen Aktivitäten stets fasziniert gewesen und hatte sie unterstützt; meist indem er mich vom Dienst freistellte, wenn ich die Zeit brauchte. Nicht zuletzt deshalb, weil ich auch ihm mal sehr geholfen hatte: Damals hatten wenig zimperliche Ganoven mit erheblicher krimineller Energie alles darangesetzt, in den Besitz des Callcenters zu gelangen. Unseren Einsatz hatten Frank und ich zu Dennis’ großer Bestürzung nur knapp überlebt.

Aber die bösen Buben – und Mädchen! – waren geschnappt und das Callcenter gerettet worden, wodurch Dennis sich mir gegenüber zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet fühlte. Ich sah das nicht ganz so dramatisch, aber schon seinerzeit hatte sich unser Chef-Angestellte-Verhältnis in eine sehr freundschaftliche Beziehung verwandelt. Und jetzt waren wir ein Paar, verrückt.

»Loretta! Träumst du?«

Dennis’ Stimme riss mich aus meinen Gedanken, und ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe über den Fall nachgedacht«, erwiderte ich nicht ganz wahrheitsgemäß. »Ich frage mich, was wir tun könnten. Zu diesem Fräulein Rottenmeier von Heimleiterin gehen und sie bitten, die Wohnungen nach Wanzen durchsuchen zu dürfen? Das ist nicht realistisch.«

»Ich wüsste momentan auch noch nicht, wie wir aktiv werden können. Vielleicht sollten wir morgen mal mit Erwin darüber sprechen.«

»Gute Idee. Hör mal, ich fahre jetzt nach Hause, Baghira wartet bestimmt schon. Außerdem müssten die Schwestern mir jede Menge Informationen geschickt haben. Zumindest haben sie es versprochen. Fotos von allen, Informationen über die Bewohner und das Personal, wer wo wohnt … Ich muss das erst mal sortieren.«

Ich merkte Dennis an, dass er mich ungern gehen ließ, aber weder versuchte er, mich aufzuhalten, noch wollte er mich zu mir begleiten.

Kluger Mann.

Als ich meine Wohnung betrat, kam kein Baghira angelaufen, um mich zu begrüßen. In seinem Krähennest hoch oben auf dem Kratzbaum war er nicht, also schaute ich im Schlafzimmer nach. Das Bettzeug lag als zerwühlter Haufen auf dem Bett, und bei genauerem Hinsehen entdeckte ich die kleinen, dreieckigen Spitzen schwarzer Katzenohren, die verräterisch herauslugten. Ich setzte mich auf die Bettkante, und Baghiras Kopf fuhr hoch. Der Kater miaute leise, rollte sich auf den Rücken und ließ beim Gähnen prachtvolle Reißzähne aufblitzen.

Ich kraulte seinen Bauch, dann stand ich auf und sagte: »Komm, Dicker. Du hast doch bestimmt Hunger.«

Trippelnd folgte er mir in die Küche und wartete erstaunlich ruhig ab, bis sein Napf gefüllt auf dem Boden stand.

Ich sah ihm beim Fressen zu und spürte wieder einmal mein schlechtes Gewissen ihm gegenüber. Seit ich mit Dennis zusammen war, musste mein Kater durchaus mal auf meine Gesellschaft verzichten. Eigentlich gehörte es nicht zu seinen Angewohnheiten, in meinem Bett zu schlafen, jedenfalls nicht, wenn ich darin lag. Bedeutete die Tatsache, dass ich ihn in letzter Zeit mehrfach dort entdeckt hatte, dass er mich vermisste? Anderseits brachte er gefühlt zwanzig von den vierundzwanzig Stunden eines Tages im Tiefschlaf zu, und ich fragte mich, ob er meine Abwesenheit überhaupt bemerkte.

Ich hatte sogar schon überlegt, ihn bei Frank und seiner Familie einzuquartieren. Die Kinder liebten ihn abgöttisch, außerdem könnte er dort durch den Garten stromern – ein deutlich größeres Revier als meine Terrasse. Hatte Frank nicht letztens von Mäusen im Lagerschuppen gesprochen? Baghira könnte dort als offizieller Mäusejäger anheuern.

Ich kicherte und schüttelte den Kopf. Baghira und jagen, das konnte ich mir nun wirklich nicht vorstellen. Außer, man würde die Mäuse in Alufolie wickeln, die nach Döner duftete. Und selbst dann würde mein träger Kater die Beute vermutlich lediglich durch die Gegend dribbeln, bis er das Interesse daran verlor.

Aber was wusste ich schon? Vielleicht schlummerte in ihm ja doch ein gefährlicher Kleinwildjäger, der in Franks Schuppen zu ganz großer Form auflaufen würde?

Man wusste es nicht.

Man wusste überhaupt so wenig.

Die Schwestern hatten mir tatsächlich tonnenweise Informationsmaterial geschickt. Von den Bewohnern gab es exzellente Fotos; offenbar hatten alle bereitwillig für ein Porträt posiert. Beim Personal waren die Bilder von ganz unterschiedlicher Qualität; zum Teil sah man ihnen an, dass sie heimlich geschossen worden waren. Die beiden Gärtner – Vater und Sohn Wohlfahrt – hatten sie bei der Arbeit erwischt, und es ragten einige Blätter ins Bild, denn vermutlich hatten die Schwestern sie aus der Deckung einiger Büsche heraus geknipst. Den glatzköpfigen Koch, Micky Thomsen, schienen sie überrumpelt zu haben – er streckte sogar abwehrend die Hand aus, war aber trotzdem ganz gut zu erkennen. Serviererin Susi lächelte offen in die Kamera, während ihre Kollegin Janina aussah, als hätte sie am liebsten zugeschlagen. Den Hausmeister hatte ich ja ohnehin schon gesehen, und die Küchenhilfe war ein farbloses Mädchen mit langem Zopf, das im Moment der Aufnahme in der Küche am Arbeitstisch stand und überrascht in die Kamera guckte.

Ich verbrachte den Rest des Abends damit, alles zu sortieren und ein Dossier zu erstellen, das ich an meinen Rechner im Callcenter schickte.

Es war bereits weit nach Mitternacht, als ich den Laptop zuklappte und ins Bett ging.

Kapitel 5

Es kann durchaus schwierig sein, Dinge herauszufinden – auch wenn Breitcord-Boy bereits in den Startlöchern steht

Natürlich verschlief ich am nächsten Morgen, und so war es bereits neun Uhr, als ich ins Callcenter schlurfte.

»Dornröschen ist also endlich aufgewacht«, sagte Erwin, der wie hingezaubert in der Tür meines Büros materialisierte, kaum dass ich am Schreibtisch saß.

»Zum Dornröschen fehlt ein ganz wesentliches Merkmal: Ich wurde heute Morgen nicht durch einen Kuss geweckt«, erwiderte ich.

»Ach, das können wir ganz leicht nachholen!« Dennis spähte über Erwins Schulter und machte alberne Kussgeräusche, die mich zum Lachen brachten.

Bedauernd schüttelte ich den Kopf. »Viel zu spät, Wächter meines Herzens, die holde Prinzessin ist ja bereits wach. Beim nächsten Mal wieder.«

»Nein, genau jetzt.«

Dennis drängte sich an Erwin vorbei ins Büro, beugte sich über mich und gab mir einen Kuss.

»Ich will ja nicht stören, aber …« Erwin grinste und sah uns auffordernd an.

»Warum tust du es dann?«, fragte Dennis.

»Weil du vorhin elektrisierende Andeutungen zu mysteriösen Vorkommnissen in einem gewissen Seniorenstift gemacht hast, mein Bester.« Erwin verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. »Also wirklich. Glaubt ihr etwa, ich sitze danach in aller Gemütsruhe herum und warte geduldig darauf, bis die gnädige Prinzessin sich endlich dazu herablässt, mir alles im Detail zu erzählen? Dann kennt ihr mich aber schlecht.«

Eines war damit klar wie Kloßbrühe: Erwin würde so lange herumnerven, bis wir in sein Büro kamen und ausführlich Bericht erstatteten.

»Also gut«, sagte ich ergeben. »Ich brauche einige Minuten, um alles auszudrucken, was ich vorbereitet habe.«

Dennis strahlte und rieb sich voller Vorfreude die Hände. »Und dann planen wir die Ermittlungen!«

Ich konnte es noch immer nicht glauben. Neben mir, dem Hornbrillen-Girl, Erwin alias Minipli-Man und Frank, dem Incredible Flying Ninja, gab es offensichtlich nun tatsächlich ein viertes festes Mitglied im Club der kriminalistischen Superhelden: Dennis. Natürlich brauchte auch er einen passenden Namen. Hmm … mal nachdenken … Captain Kotelette vielleicht? Oder doch lieber Breitcord-Boy?

Ich kicherte noch immer albern vor mich hin, als ich eine Viertelstunde später Erwins Büro betrat.

»Und diese Informationen haben die legendären Schwestern dir geschickt?«, fragte Erwin ungläubig, nachdem er die ausgedruckten Seiten durchgeblättert hatte. »Das ist ja fantastisch. Wie viel Zeit würde es wohl kosten, das alles auf normalem Weg herauszufinden?«

»Wir werden es niemals wissen«, gab ich grinsend zurück.

»Ich muss die beiden unbedingt kennenlernen«, sagte Erwin verträumt. »Solche Zeuginnen hätte ich mir damals zu meiner aktiven Zeit als Polizist gewünscht.«

»Das kann ich mir lebhaft vorstellen«, sagte ich. »Und das mit dem Kennenlernen lässt sich ganz schnell arrangieren. Du hast doch bestimmt ein Gerät, mit dem man Abhörgeräte aufspüren kann, oder? Einen Wanzendetektor oder wie auch immer die heißen.«

Erwins Lächeln war mindestens so geheimnisvoll wie das der Mona Lisa. »Was ich nicht selbst in meinem Fundus habe, kann ich besorgen.«

Das konnte er zweifellos, denn nach wie vor verfügte er über exzellente Kontakte nicht nur zu ehemaligen Kollegen bei der Polizei, sondern auch zu allerlei Figuren mehr oder weniger guten Rufes, zu denen er sich allerdings niemals konkret äußerte. Was Verbindungen zur Halbwelt anging, war er verschlossener als eine Auster.

»Funktionieren die auch von draußen, oder musst du im verwanzten Raum sein, um die Dinger aufzuspüren?«, fragte Dennis.

Erwin schüttelte den Kopf. »Nee, die Detektoren erfassen das Signal der Wanzen auch durch Mauern. Umgekehrt funktionieren Hochleistungswanzen übrigens ebenfalls von außen.« Ernst sah er mich an. »Du möchtest also, dass ich den Seniorenstift nach Wanzen checke?«

»Das wäre jedenfalls ein guter Start«, erwiderte ich nachdenklich. »Aber ich erzähle einfach mal von Anfang an.«

»Bleibt die Frage, womit wir es hier zu tun haben«, sagte Erwin, als ich geendet hatte. »Geht es tatsächlich um einen Mord oder nur um Diebstahl?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Keinen Schimmer. Ich bin allerdings dafür, dass wir uns auf den Diebstahl konzentrieren beziehungsweise zunächst einmal rausfinden, ob es tatsächlich Wanzen in der Residenz gibt.«

»Haben die beiden einen konkreten Verdacht geäußert, wer darin verwickelt sein könnte?«, fragte Erwin.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich soll mir zunächst selbst ein Bild von den Leuten machen, die in der Residenz leben und arbeiten, haben sie gesagt. Aber dazu bin ich bisher noch nicht gekommen, denn gestern Abend reichte es nur dazu, die ganzen Informationen zu sortieren und den Fotos zuzuordnen. Beim Essen im hauseigenen Restaurant habe ich zwar die Bewohner und zwei Leute vom Personal gesehen, aber viel mehr als flüchtige Eindrücke sind bei mir nicht hängen geblieben. Nein, es waren drei, wenn wir die Leiterin der Residenz dazurechnen, diese Frau von Dillingen. Aber da ahnte ich ja noch nicht, welche Geschichte sie mir später auftischen würden.«

»Und selbst wenn.« Demonstrativ blätterte Dennis durch die ausgedruckten Seiten. »Wir haben es hier mit mehr als zwanzig Personen zu tun – da müssen wir erst einmal aussortieren. Am besten zusammen mit den Schwestern. Wer kommt als Bösewicht infrage und wer nicht? Ein knapp neunzigjähriger Tattergreis käme bei mir nicht unbedingt in die engere Wahl, um ehrlich zu sein.«

Erwin hob den Finger. »Spontan würde ich sagen, wir haben drei Möglichkeiten. Erstens: Es ist jemand vom Personal, der seine Zugehörigkeit zum internen Kreis der Residenz und seine Kenntnisse ausnutzt, um zu klauen. Zweitens: Es ist ein Angehöriger eines der Bewohner, der weiß, dass dort leichte Beute zu machen ist. Drittens: Es ist jemand, der überhaupt nicht zum Kosmos der Residenz gehört.«

»Zum Beispiel?«, fragte ich alarmiert, denn ›Drittens‹ hörte sich nach einer unüberschaubaren Menge potenzieller Verdächtiger an. Vielen Dank auch.

»Ganz einfach«, erwiderte Dennis. »Paketdienste, Handwerker, Postboten, Dienstleister – schlicht und ergreifend jeder, der mal ins Haus gekommen ist und sofort gerafft hat, dass dort keine armen Leute wohnen. Dort stinkt es nach Geld, Loretta. Das ist eine verdammte Luxus-Residenz. Und wer sich so etwas leisten kann …« Er zuckte mit den Schultern.

»Der hat auch einen Koffer voller Goldstücke unter dem Bett, wolltest du sagen?«, fragte ich süffisant. »Du verwechselst da was – das war Pippi Langstrumpf.«

Dennis rollte mit den Augen. »Der verblichene Heribert latschte immerhin über einen 55.000-Euro-Teppich, oder etwa nicht? Und wer weiß, welche anderen Kostbarkeiten in der Residenz noch darauf warten, geklaut zu werden? Hier, diese Frau zum Beispiel, diese …« Er durchstöberte die Seiten und tippte dann auf ein Bild. »Die meine ich, diese russische Primaballerina! Vielleicht hat sie ja millionenschwere Juwelen unter ihrer Matratze versteckt.«

 

»Ja, vielleicht«, sagte ich. »Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht ist sie ja schlauer als Heribert und bewahrt ihren Schmuck, falls derartige Klunker überhaupt existieren, in einem Bankschließfach auf, wie es sich gehört.«

»Und wenn nicht?«, blaffte Dennis.

»Und wenn doch?«, blaffte ich prompt zurück.

»Nanu – Streit im Paradies?« Amüsiert schüttelte Erwin den Kopf. »Abgesehen davon seid ihr bereits zehn Schritte zu weit. Noch wissen wir nicht einmal, ob die Bewohner der Residenz überhaupt abgehört werden, das müssen wir als Erstes herausfinden.«

»Okay. Und falls sich die Vermutung der Schwestern als wahr herausstellt, was tun wir dann?«, fragte ich.

»Ist doch ganz klar!«, rief Dennis mit blitzenden Augen. »Wir schleusen jemanden in die Residenz ein und …«

Erwin hob die Hand. »Ach ja? Und als was? Als Bewohner? Wie stellst du dir das vor? Soll mein Täubchen etwa dort einziehen und herumschnüffeln?«

Ich unterdrückte ein Kichern.

Sein Täubchen – meine Arbeitskollegin Doris – war zwar bereits über siebzig, aber sie würde ihren zehn Jahre jüngeren Gatten Erwin um einen Kopf kürzer machen, würde er sie in einer Seniorenresidenz einquartieren wollen. Außerdem war es organisatorisch viel zu kompliziert und langwierig, denn man zog nicht einfach von einem Tag auf den anderen irgendwo ein. Abgesehen davon würde Erwin seine Liebste um nichts in der Welt irgendeiner Gefahr aussetzen.

»Genau über dieses Problem zerbreche ich mir den Kopf, seit die Schwestern mir alles erzählt haben«, sagte ich. »Selbstverständlich kommt nicht infrage, Doris einzuschleusen, zumal wir dann vermutlich auch die Heimleiterin einweihen müssten, oder? Und was, wenn sie diejenige welche ist? Das ist viel zu riskant.«

»Die Heimleiterin?«, fragte Dennis verblüfft.

Ich zuckte mit den Schultern. »Warum denn nicht, kann doch sein? Skrupellosigkeit gibt es überall, das ist doch nicht von der Position in einer Hierarchie abhängig.«

»Ich schlage Folgendes vor«, sagte Erwin. »Die beiden Damen kommen in mein Büro, und wir unterhalten uns über die Personen, die in diesem Dossier aufgeführt sind. Wer von den Bewohnern ist ein potenzielles Opfer, weil er – oder sie – reich ist? Oder sogar, was optimal wäre, reich ohne Angehörige. Wer vom Personal kommt infrage?«

Spontan fiel mir die Szene mit dem Hausmeister ein. Würde ich mich rächen wollen, wenn ich so herablassend behandelt würde? Diebstahl als kleine Wiedergutmachung? Gingen die Bewohner – oder besser: einzelne von ihnen – auch mit dem restlichen Personal so unhöflich um? Dem Service, dem Gärtner, dem Küchenpersonal? Gab es jede Menge Motive, von denen wir momentan noch nichts ahnten?

»Aber dann machen wir sofort einen Plan für unsere Ermittlungen«, sagte Dennis.

Erwin musterte ihn mit mildem Lächeln. »Immer einen Schritt nach dem anderen, mein Junge. Immer einen Schritt nach dem anderen.«

Nach Feierabend fuhr ich zu mir und rief als Erstes die Schwestern an, um mich mit ihnen zu verabreden. Das war nicht ganz einfach, wie ich feststellte, denn ihr Terminkalender war randvoll: Arzttermine, langfristig gebuchte Tagesausflüge und diverse andere Verpflichtungen bedeuteten, dass wir uns erst am Mittwoch treffen konnten.

»Dann also Mittwochvormittag«, sagte ich. »Ich stehe um Punkt elf vor der Residenz auf der Straße und warte auf euch.«

»Und dann besprechen wir den Fall mit einem echten Polizisten?«, fragte Käthe aufgeregt. »Und dann gibt es echte Ermittlungen?«

»Erwin war früher Polizist«, sagte ich.

»Na und? Er wird wohl kaum so senil sein, dass er alles vergessen hat, was zu einer professionellen Ermittlung gehört, oder?«

»Natürlich nicht. Aber es ist nicht so, als könnte er den Polizeiapparat benutzen, verstehst du?«

»Aha. Und diese nette Kommissarin vom letzten Mal? Kann die nicht ermitteln?«

Ich seufzte innerlich. »Wir müssen zunächst einmal herausfinden, ob es überhaupt einen Fall gibt, Käthe. Außerdem ist Kommissarin Küpper nicht für Diebstahl zuständig, das ist ein anderes Dezernat.«

»Wie bitte?« Käthe klang empört. »Und was ist mit dem Mord an Heribert?«

»Käthe, ich enttäusche euch wirklich nicht gerne, aber wir haben keine Ahnung, ob es bei seinem Tod mit rechten Dingen zugegangen ist oder nicht. Falls nicht, wird es sich vielleicht niemals beweisen lassen. Offenkundig ist dem Arzt, der den Totenschein ausgestellt hat, nichts Ungewöhnliches aufgefallen.«

Was nichts heißen musste, wie mir nur allzu klar war. Tatsächlich gab es eine hohe Dunkelziffer an unentdeckten Morden, bei denen bloß ›Herzversagen‹ im Totenschein stand. Aber das würde ich den Schwestern nicht auf die Nase binden.

Musste ich auch nicht, wie sich bei Käthes nächsten Worten herausstellte.

»Du machst wohl Witze«, sagte sie spitz. »Jeder weiß, dass längst nicht jeder Mord entdeckt wird, wenn nicht gerade ein riesiges Küchenmesser deutlich sichtbar in der Brust des Opfers steckt. Ärzte sind auch nur Menschen, oder? Da liegt ein alter Mensch tot im Bett, und schon scheint alles klar zu sein. Bloß kein Aufheben darum machen, was übrigens auch ganz im Sinne der hochwohlgeborenen Frau von Dillingen sein dürfte. Für das Ansehen der Residenz ›Herbstglück‹ ist es nicht gerade die beste Werbung, wenn sich herumspricht, dass man dort ermordet und bestohlen wird.«

Das wartende Schweigen am anderen Ende der Leitung erforderte eine diplomatische Antwort.

»Da bin ich ganz deiner Meinung«, erwiderte ich also. »Aber wie ich schon sagte: Vielleicht wird ein eventueller Mord sich nicht beweisen lassen, so schlimm das auch sein mag. Wir können nicht zur Kommissarin gehen und erwarten, dass sie sofort tätig wird. So einfach ist das nicht. Dazu braucht sie echte Beweise oder wenigstens überzeugende Verdachtsmomente.«

»Dass der Teppich und die Uhr verschwunden sind, findest du also nicht verdächtig?«, fragte Käthe.

»Doch, das tue ich sehr wohl. Aber darum geht es nicht, die Kommissarin muss es verdächtig finden. Nicht nur das: Sie müsste es auch als mögliches Motiv für einen Mord anerkennen. Und jetzt kommt das größte Problem: Ihr beide seid vielleicht die Einzigen, denen das Verschwinden aufgefallen ist. Vorschlag: Ich bitte Erwin, beim zuständigen Dezernat nachzufragen, ob ein Diebstahl der Gegenstände angezeigt wurde.«

Sofort besserte sich ihre Laune wieder. »Das könnte er tun?«, zwitscherte sie. »Das ist ja wunderbar!«

»Er kann es versuchen«, sagte ich. »Ich will euch nichts versprechen, was dann ein anderer halten muss. Bitte, ihr müsst noch ein wenig Geduld haben. Lasst uns in Ruhe überlegen, was wir tun können, um eventuelle Beweise zu sammeln. Genau aus diesem Grund treffen wir uns am Mittwochvormittag mit Erwin.«

Als wir aufgelegt hatten, lehnte ich mich im Sofa zurück und atmete tief durch.

Dass Käthe und Cäcilie ungeduldig waren, konnte ich sehr gut verstehen. Aus ihrer Sicht hatten sie einen sehr konkreten Verdacht, und sie wollten so schnell wie möglich handeln. Ein wenig erinnerten sie mich an mein früheres Ich. Auch ich hatte eine ganze Zeit gebraucht, um zu kapieren, wie die Ermittlungen der Polizei funktionieren.

Noch heute erinnere ich mich mit Grausen an meinen allerersten Besuch im Präsidium bei Kommissarin Küpper, um ihr von meinem Verdacht gegenüber einigen Hausfrauen zu berichten, die ich für Mörderinnen hielt. Auch ich war damals fest davon ausgegangen, damit einen Einsatz auszulösen. Okay, vielleicht nicht gerade eine Hundertschaft vermummter Spezialkräfte und zwei Helikopter, aber doch immerhin intensive Befragungen derjenigen, auf die ich mit meinem kleinen, schmutzigen Finger gezeigt hatte.

Minuten später war ich wie ein geprügelter Hund mit eingezogenem Schwanz aus ihrem Büro geschlichen.

Sie hatte mir umstandslos und nicht sonderlich höflich verklickert, dass haltlose Anschuldigungen gegen missliebige Personen zu ihrem Alltag gehörten – zu ihrem größten Leidwesen. Zu viele Krimis – ob in bewegten Bildern oder als gedruckter Text – führten bei ›besorgten Bürgern‹ wie mir ihrer Erfahrung nach gerne mal zu überbordenden Fantasien, was vermeintliche Kriminalfälle anginge. Sehen Sie sich gerne Krimiserien an, Frau Luchs?, hatte sie mich süffisant gefragt.