Anne & Rilla – Zum ersten Mal verliebt

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Carl Meredith ging mit Miranda Pryor, hauptsächlich, um Joe Milgrave damit zu quälen. Jeder wußte, daß Joe nach besagter Miranda schmachtete, doch seine Schüchternheit hinderte ihn immer und immer wieder daran, seiner Neigung freien Lauf zu lassen. Den Mut, im Stockfinstern neben ihr einherzuschlendern, mochte er vielleicht gerade noch aufbringen, aber hier, in der Mondscheindämmerung, war das ein Ding der Unmöglichkeit. Aus diesem Grund trottete er der Prozession hinterher und dachte sich für Carl Meredith Sachen aus, die man lieber nicht laut sagt. Miranda war die Tochter dieses Mondgesichts-mit-Schnauzbart. Sie war zwar nicht so unbeliebt wie ihr Vater, aber es liefen ihr auch nicht viele hinterher, da sie ziemlich blaß und nichtssagend aussah und zu einem nervösen Kichern neigte. Sie hatte silberblondes Haar, und ihre Augen glichen kobaltblauen Kugeln, die den Eindruck erweckten, als hätte man sie zu Tode erschreckt. Eigentlich wäre sie viel lieber mit Joe gegangen als mit Carl, in dessen Gegenwart sie sich nicht gerade wohl fühlte. Aber schließlich war das auch eine Sache des Ansehens, einen College-Jungen neben sich zu haben, und einen Pfarrerssohn noch dazu.

Shirley Blythe ging mit Una Meredith, und beide verhielten sich ziemlich still, weil das nun mal in ihrer Natur lag. Shirley war ein Junge von sechzehn Jahren, ruhig, empfindsam, nachdenklich, mit verstecktem Humor. Er war immer noch Susans „kleiner brauner Junge“ mit seinem braunen Haar, seinen braunen Augen und seiner klaren braunen Haut. Er ging gern mit Una Meredith spazieren, weil sie nie versuchte, ihn zum Reden zu zwingen, und weil sie selbst auch nicht ständig auf ihn einquasselte. Una war immer noch so süß und scheu wie damals, als sie zusammen im Regenbogental spielten, und ihre großen dunkelblauen Augen sahen immer noch genauso verträumt und sehnsuchtsvoll aus. Sie hatte eine geheime, sorgsam gehütete Vorliebe für Walter Blythe, aber niemand außer Rilla hatte bisher Verdacht geschöpft. Rilla gönnte es ihr und wünschte, Walter würde diese Zuneigung erwidern. Sie mochte Una lieber als Faith, die mit ihrer Schönheit und ihrer selbstbewußten Art leicht die anderen Mädchen in den Schatten stellte. Und Rilla mochte es gar nicht, in den Schatten gestellt zu werden.

Doch im Augenblick war sie richtig glücklich. Wie schön war es, zusammen mit ihren Freundinnen den dunklen, schillernden Weg hinabzuschlendern und den harzigen Duft der kleinen Tannen und Fichten einzuatmen, der die Luft erfüllte. Hinter den verblassenden Hügeln war noch das Nachglühen des Sonnenuntergangs zu sehen. Vor ihnen leuchtete der Hafen. Eine Glocke ertönte von der kleinen Kirche aus Overharbour, und die nachklingenden, zauberhaften Töne erstarben hinter den langsam verschwindenden Landspitzen. Der Golf glitzerte immer noch silberblau in der Dämmerung. Ach, es war alles so herrlich: die klare, salzige Luft, der Tannenduft, das Lachen der Freundinnen. Rilla liebte das Leben, seine Frische und seinen Glanz. Sie liebte das Murmeln der Musik, das Summen einer fröhlichen Unterhaltung. Am liebsten wäre sie für immer und ewig diesen glitzernden, schattenhaften Weg entlanggelaufen. Es war ihre erste Party, und ihr stand ein herrlicher Abend bevor. Sie brauchte sich um nichts auf der Welt zu sorgen, nicht einmal um Sommersprossen und überlange Beine. Um nichts, außer vielleicht die Ungewißheit, ob sie auch wirklich zum Tanzen aufgefordert würde. Es war schön und tat gut, einfach nur zu leben, fünfzehn zu sein – und hübsch noch dazu. Rilla tat einen tiefen Atemzug – und hielt mittendrin inne. Jem erzählte Faith gerade eine Geschichte, die sich im Balkankrieg zugetragen hatte.

„Der Doktor verlor beide Beine, sie wurden ihm zerquetscht, und man ließ ihn einfach liegen. Er schleppte sich kriechend von einem Mann zum andern, zu all den Verletzten um ihn herum, solange es ihm noch möglich war. Er tat alles, was er konnte, um ihre Schmerzen zu lindern, ohne dabei einen Augenblick an sich selbst zu denken. Er wollte gerade einem Mann das Bein verbinden, als ihn seine Kräfte verließen. Dort fand man sie, die toten Hände des Doktors hielten immer noch den Verband fest, die Blutung hatte aufgehört, und der andere Mann wurde gerettet. Wenn das kein Held war, Faith? Ich kann dir sagen, als ich das gelesen habe –“

Damit gerieten Jem und Faith außer Hörweite. Gertrude Oliver zitterte plötzlich. Rilla drückte ihr mitfühlend den Arm.

„War das nicht schrecklich, Miss Oliver? Mich wundert es nicht, daß Sie zittern. Ich weiß gar nicht, warum Jem solche grauenhaften Sachen immer ausgerechnet dann erzählen muß, wenn wir uns ein bißchen amüsieren wollen.“

„Du findest das schrecklich, Rilla? Ich finde es wunderbar! Wenn man so etwas hört, muß man sich doch schämen, jemals an der Natur des Menschen gezweifelt zu haben. Was der Mann da getan hat, war wie eine Tat Gottes. Und wie die Menschlichkeit übereinstimmt mit dem Ideal der Selbstaufopferung! Warum ich zittere? Das weiß ich selbst nicht. Es ist sicher warm genug heute abend. Vielleicht geht gerade jemand über das dunkle, sternenbeschienene Stück Erde, das einmal mein Grab sein soll. Das ist die Erklärung, die der alte Aberglaube liefern würde. Aber ich glaube, ich denke lieber nicht mehr über solche Sachen nach an so einem schönen Abend. Weißt du, Rilla, wenn es Abend wird, dann bin ich immer froh, auf dem Land zu leben. Wie zauberhaft ein Sonnenuntergang ist, das erfahren doch Stadtbewohner nie. Jeder Abend ist schön auf dem Land, sogar wenn es stürmt. Wenn der Sturm abends die Küste entlangfegt, das gefällt mir. Ein Abend wie heute ist allerdings fast zu schön. Er gehört der Jugend und den Träumen, und ich habe ein wenig Angst davor.“

„Mir kommt es vor, als sei ich ein Teil davon“, sagte Rilla.

„Natürlich, du bist jung und fürchtest dich noch nicht vor der Vollkommenheit. So, jetzt sind wir am Traumhaus angekommen. Es sieht verlassen aus diesen Sommer. Sind die Fords denn nicht gekommen?“

„Nein, zumindest nicht Mr. und Mrs. Ford und Persis. Nur Kenneth war da, aber der hat sich bei den Verwandten seiner Mutter in Overharbour aufgehalten. Wir haben ihn diesen Sommer kaum gesehen. Er hinkt ein bißchen, deshalb ist er auch nicht viel unterwegs gewesen.“

„Er hinkt? Was ist denn mit ihm passiert?“

„Er hat sich letzten Herbst beim Fußballspielen den Knöchel gebrochen und mußte fast den ganzen Winter über liegen. Seitdem humpelt er, aber es wird nach und nach besser, und er meint, daß er bald wieder ganz gesund ist. Er ist nur zweimal in Ingleside gewesen.“

„Ethel Reese ist ganz verrückt nach ihm“, sagte Mary Vance. „Dabei ist er ihr haushoch überlegen. Neulich hat er sie nach der Gebetsstunde begleitet, seitdem ist sie so eingebildet, daß es einem schlecht wird davon. Als ob einer aus Toronto wie Ken Ford auch nur im Traum daran denkt, sich mit einem gewöhnlichen Mädchen vom Lande abzugeben!“

Rilla wurde rot. Ach was, selbst wenn Kenneth Ford hundertmal mit Ethel Reese nach Hause ging, das war ihr doch egal, und ob ihr das egal war! Was er tat, kümmerte sie überhaupt nicht. Er war schließlich um Jahre älter als sie. Er war befreundet mit Nan und Di und Faith, aber sie, Rilla, war in seinen Augen doch noch ein Kind, das er höchstens einmal neckte, wenn überhaupt. Und sie konnte diese Ethel Reese nicht ausstehen. Nur, wieso sollte die denn gleich unter Kenneth Fords Würde sein, bloß, weil sie ein Mädchen vom Lande war? Also wirklich, diese Mary entwickelte sich anscheinend immer mehr zum Klatschmaul und hatte nur noch eins im Kopf, nämlich, wer mit wem nach Hause ging.

Unterhalb vom Traumhaus war eine kleine Landungsbrücke, wo zwei Boote befestigt waren. Eines der Boote wurde von Jem Blythe gesteuert, das andere von Joe Milgrave, der sich mit Booten bestens auskannte und damit nicht ungern vor Miranda Pryor angab. Sie segelten den Hafen hinunter um die Wette, und Joes Boot gewann. Von allen Seiten kamen nun Boote herbei, und von überall drang Lachen herüber. Der große weiße Leuchtturm von Four Winds war hell erleuchtet, und oben blitzte das Leuchtfeuer mit jeder Umdrehung auf. Eine Familie aus Charlottetown, Verwandte des Leuchtturmwächters, verbrachte den Sommer dort und hatte alle jungen Leute aus Four Winds, Glen St. Mary und Overharbour zu der Party eingeladen. Als Jems Boot unterhalb des Leuchtturms an Land schwankte, riß Rilla sich verzweifelt die Schuhe von den Füßen und zog hinter Miss Olivers schützendem Rücken ihre Silberschuhe über. Ein Blick hinüber zu den felsigen Stufen zum Leuchtturm hoch hatte genügt, um festzustellen, daß dort überall Jungen herumstanden und alles mit Lampions erleuchtet war. Eins stand fest: In den Trampelschuhen, mit denen sie hergekommen war, würde sie da nicht hinaufmarschieren! Die Stöckelschuhe drückten ganz erbärmlich, aber niemand schöpfte Verdacht, als Rilla lächelnd die Treppe hinaufhüpfte, mit ihren leuchtenden dunklen Augen und dem fragenden Blick und ihren zarten runden Wangen, die sich sichtlich röteten. Kaum war sie oben angekommen, wurde sie auch schon zum Tanzen aufgefordert, und im nächsten Augenblick waren sie in dem Pavillon, der auf der Seeseite des Leuchtturms eigens für Tanzparties erbaut worden war. Es war ein entzückender Platz, überdacht von Tannenzweigen und geschmückt mit Laternen. Darunter lag das glitzernde Meer, links die Kämme und Mulden der Sanddünen im Mondlicht, rechts die Felsküste mit ihren pechschwarzen Schatten und kristallenen Buchten. Rilla und ihr Partner mischten sich unter die Tanzenden. Rilla war ganz hingerissen. Was für eine bezaubernde Musik Ned Burr aus Upper Glen seiner Geige entlockte! Es klang wirklich wie die Wunderflöten aus dem alten Märchen, die alle, welche die Musik hörten, zum Tanzen verführten. Wie kühl und frisch der Wind vom Golf her blies. Wie hell und wunderbar der Mond herabschien! Das war das Leben. Ein aufregendes Leben! Rilla hatte das Gefühl, als hätten ihre Füße und ihre Seele Flügel bekommen.

 

Der Pfeifer spielt sein Lied

Rillas erste Party war ein großer Erfolg, zumindest sah es zunächst so aus. So viele junge Männer wollten mit ihr tanzen, daß sie mitten im Tanz den Partner wechseln mußte. Ihre Silberschuhe tanzten fast wie von selbst, und obwohl ihr die Zehen weh taten und sie Blasen an den Fersen bekam, ließ Rilla sich davon nicht beeindrucken. Nur Ethel Reese fuhr einmal störend dazwischen, als sie Rilla aus dem Pavillon winkte, nur um sie mit süßlichem Lächeln darauf hinzuweisen, daß ihr Kleid hinten auseinanderklaffen würde und der Volant einen Fleck hätte. Rilla eilte daraufhin entsetzt in ein Zimmer, das vorübergehend als Ankleideraum für die jungen Damen diente, und stellte fest, daß der „Fleck“ ein winziger Grasfleck war und der „Riß“ nichts weiter als ein Häkchen, das sich gelöst hatte. Irene Howard machte es ihr wieder zu und bedachte sie mit ein paar gönnerhaften Komplimenten. Rilla fühlte sich geschmeichelt. Irene war neunzehn und schloß sich anscheinend gern jüngeren Mädchen an. Um vor ihnen die große Dame zu spielen, wie gehässige Zungen behaupteten. Doch Rilla war begeistert von Irene und ließ sich gern von ihr bemuttern. Irene war hübsch und elegant gekleidet. Sie konnte geradezu göttlich singen und nahm jeden Winter in Charlottetown Gesangsunterricht. Sie hatte eine Tante in Montreal, die ihr wunderbare Kleider schickte. Es hieß, sie hätte eine traurige Liebesaffäre gehabt. Niemand wußte Genaueres, aber gerade das machte sie so interessant. Für Rilla waren Irenes Komplimente die Krönung des Abends. Beglückt lief sie zurück zum Pavillon und verweilte einen Augenblick am Eingang im Schein der Laternen, um den Tanzenden zuzusehen. Als die wirbelnde Menschenmenge eine kurze Pause einlegte, erspähte sie für einen Augenblick Kenneth Ford am anderen Ende des Saales.

Rillas Herz machte einen kleinen Sprung. Also war er doch gekommen. Sie war davon ausgegangen, daß er nicht kommen würde, was ihr natürlich völlig gleichgültig war.

Ob er sie sehen würde? Ob er sie wohl beachten würde? Natürlich würde er sie nicht zum Tanz auffordern. Das brauchte sie sich nun wirklich nicht zu erhoffen. Er hielt sie ja immer noch für ein Kind. „Spinne“ hatte er sie genannt, als er abends mal in Ingleside gewesen war. Es war noch keine drei Wochen her. Sie hatte hinterher deswegen in ihrem Zimmer geweint und ihn dafür gehaßt. Da machte ihr Herz wieder einen Sprung, als sie sah, daß er sich in Bewegung setzte und in ihre Richtung steuerte. Kam er etwa zu ihr? Kam er? Kam er wirklich? Ja, er kam! Er wollte zu ihr. Er stand neben ihr, und er schaute auf sie herab mit einem Blick, den Rilla noch nie in seinen dunklen Augen gesehen hatte. Oh, das war fast zuviel für sie! Und alles ging weiter wie bisher: Die Tänzer drehten sich im Kreis, die Jungen, die keine Partnerin fanden, lungerten im Pavillon herum, Pärchen hockten schmusend draußen auf den Felsen. Und niemand schien das überwältigende Ereignis zu bemerken!

Kenneth war ein großer, sehr gutaussehender junger Mann und hatte eine unglaublich lässig-charmante Art, gegen die alle anderen Jungen steif und plump wirkten. Er galt als ungeheuer klug und verbreitete einen Hauch von Großstadt und Universität. Allerdings hatte er auch den Ruf eines Herzensbrechers. Aber der wurde ihm wahrscheinlich angedichtet, weil er so eine anregende, samtweiche Stimme besaß, die bei jedem Mädchen Herzklopfen hervorrief, und noch dazu eine ganz gefährliche Art zuzuhören, so, als ob sein weibliches Gegenüber ihm genau das sagte, wonach er sich sein Leben lang gesehnt hatte.

„Bist du Rilla-meine-Rilla?“ fragte er leise.

„Ja, bin iss“, sagte Rilla und hätte sich im selben Augenblick am liebsten von den Felsen gestürzt oder in Luft aufgelöst.

Als Rilla noch ein kleines Kind war, hatte sie die Angewohnheit gehabt zu lispeln. Aber mit der Zeit hatte sich das gelegt. Nur wenn sie aufgeregt war oder sich anstrengen mußte, kam diese Neigung wieder durch. Dabei hatte sie schon ein Jahr lang nicht mehr gelispelt. Und jetzt, ausgerechnet in diesem Augenblick, als sie sich nichts sehnlicher wünschte, als endlich erwachsen und intelligent zu erscheinen, da mußte sie lispeln wie ein Baby! Es war zum Aus-der-Haut-Fahren! Sie war den Tränen nahe. Gleich würde sie losflennen, ja, losflennen. Wenn Kenneth doch nur gehen würde, am besten wäre er gar nicht erst hergekommen! Die Party war verdorben. Der Spaß war ihr gründlich vergangen.

Dabei hatte er sie „Rilla-meine-Rilla“ genannt und nicht „Spinne“ oder „Kindchen“ oder „Kleines“ so wie sonst, falls er sie überhaupt beachtet hatte. Daß er sie jetzt mit Walters Kosenamen ansprach, nahm sie ihm kein bißchen übel. Es klang so schön mit seiner leisen, zärtlichen Stimme und der winzig kleinen Betonung auf „meine“. Es wäre so schön gewesen, wenn sie sich nicht so schrecklich blamiert hätte. Sie wagte nicht aufzusehen, bestimmt lachte er sie aus. Sie hielt den Blick gesenkt. Ihre langen dunklen Wimpern und ihre schimmernden Augenlider wirkten bezaubernd und herausfordernd. Kenneth dachte bei sich, daß Rilla Blythe auf dem besten Wege war, das schönste Mädchen von Ingleside zu werden. Wenn sie doch bloß aufsehen würde, damit er noch einmal diesen ernsten, fragenden Blick erhaschen könnte. Sie war wirklich die Hübscheste auf der ganzen Party, kein Zweifel.

Was sagte er da? Rilla glaubte ihren Ohren nicht zu trauen.

„Willst du mit mir tanzen?“

„Ja, will ich“, sagte Rilla. Dabei achtete sie mit solcher Entschlossenheit darauf, nur ja nicht zu lispeln, daß es fast wie ein Ausruf klang. Wieder surrte es in ihrem Kopf. Wie dreist das klang, wie fordernd, als ob sie sich ihm geradezu an den Hals werfen wollte! Was sollte er bloß von ihr denken? Warum mußten solche Mißgeschicke denn ausgerechnet immer dann passieren, wenn sie sich von ihrer schönsten Seite zeigen wollte?

Kenneth zog sie mit sich auf die Tanzfläche.

„Eine Runde Hüpfen wird mein angeknackster Knöchel wohl mitmachen“, sagte er.

„Ja, wie geht es denn deinem Knöchel?“ fragte Rilla. Konnte ihr denn wirklich nichts Klügeres einfallen! Sie wußte doch genau, daß er es nicht mehr hören konnte, wenn jemand sich nach seinem Knöchel erkundigte. Als er in Ingleside war, hatte er das gesagt. Zu Di hatte er sogar gesagt, er werde sich ein Plakat vor die Brust hängen, auf dem alle lesen könnten, daß es seinem Knöchel besserging. Und jetzt mußte sie ihn schon wieder mit dieser abgedroschenen Frage nerven.

Kenneth hatte es in der Tat satt, über seinen Knöchel zu reden. Allerdings hatte noch niemand mit einem so bezaubernden Mund und einem so verführerischen Grübchen in der Oberlippe danach gefragt. Vielleicht antwortete er deshalb so überaus geduldig, daß es seinem Knöchel besserginge und er kaum noch Schmerzen hätte, solange er nicht zu lange herumlief oder stand.

„Der Knöchel wird bald wieder so kräftig sein wie früher, aber auf Fußball muß ich diesen Herbst wohl verzichten.“

Sie tanzten zusammen, und Rilla spürte, wie die Mädchen in ihrer Nähe sie beneideten. Nach dem Tanz gingen sie hinab zu den Felsstufen, und Kenneth fand ein kleines Boot, mit dem sie im Mondschein zur Sandküste hinüberruderten. Dort spazierten sie am Meer entlang, bis Kenneths Knöchel nicht mehr mitmachte. Sie setzten sich zwischen die Dünen, und Kenneth sprach mit ihr wie sonst nur mit Nan und Di. Rilla, von plötzlicher Schüchternheit ergriffen, brachte kaum ein Wort hervor und dachte, er müsse sie wohl für schrecklich dumm halten. Trotzdem war alles so schön: die herrliche Mondnacht, das schimmernde Meer, die kleinen Wellen, die schäumend an Land spülten, der kühle, launenhafte Wind, der durch die Dünengräser summte, die süße Musik, die übers Wasser herüberdrang.

„,Ein fröhliches Mondscheinlied für der Meerjungfrauen Fest‘“, zitierte Kenneth leise aus einem von Walters Gedichten.

Und sie beide ganz allein inmitten dieser Herrlichkeit! Wenn bloß ihre Stöckelschuhe nicht so drücken würden! Und wenn sie doch bloß so klug reden könnte wie Miss Oliver. Ach was, wenn sie wenigstens so normal reden könnte wie sonst mit anderen Jungen! Aber es fiel ihr nichts ein, sie konnte nur zuhören und hier und da irgendwelche belanglosen Sachen dahermurmeln. Aber vielleicht waren ja ihre träumerischen Augen, ihr reizender Mund und ihr schlanker Hals ausdrucksvoll genug. Jedenfalls schien Kenneth es mit der Rückkehr nicht eilig zu haben, und als sie dann doch gingen, war das Abendessen schon in vollem Gange. Er entdeckte für sie einen Platz am Fenster der Leuchtturmküche und setzte sich neben sie aufs Fensterbrett, während sie Eiskrem und Kuchen verspeiste. Rilla schaute umher und dachte, wie schön doch ihre erste Party war! Nie würde sie diese Party vergessen! Das Lachen der Partygäste drang bis in die Küche. Blicke aus schönen Augen funkelten und leuchteten. Vom Pavillon draußen hörte man das fröhliche Lied der Geige und die rhythmischen Schritte der Tänzer.

In einer Gruppe von Jungen, die an der Tür standen, wurde es plötzlich unruhig. Ein junger Mann drängte sich durch, blieb auf der Schwelle stehen und blickte mit ernstem Gesicht um sich. Es war Jack Elliott aus Overharbour, ein McGill-Medizinstudent, ein sehr ruhiger Mensch, der sich nicht viel aus geselligen Zusammenkünften machte. Er war zwar zu der Party eingeladen worden, aber keiner rechnete mit ihm, weil er bis spät abends in Charlottetown zu tun hatte. Doch da stand er jetzt, mit einem zusammengefalteten Stück Papier in der Hand.

Gertrude Oliver erblickte ihn von ihrem Platz aus und fing wieder an zu zittern. Immerhin hatte auch sie die Party genießen können, nachdem sie jemanden aus Charlottetown kennengelernt hatte. Es war ein Fremder und viel älter als die meisten Gäste, weshalb er sich zunächst als Außenseiter fühlte und froh war, auf diese kluge junge Frau zu treffen, mit der man sich so angeregt über Dinge unterhalten konnte, die draußen in der Welt passierten. In seiner angenehmen Gesellschaft hatte sie ihre bösen Vorahnungen vergessen. Jetzt kamen sie plötzlich wieder. Was waren das für Nachrichten, die Jack Elliott da brachte? Die Zeilen aus einem alten Gedicht schossen ihr unwillkürlich durch den Kopf: „Tumult war plötzlich in der Nacht – still! Horch! Dunkel ertönt es wie Grabgeläut.“ Warum mußte sie ausgerechnet jetzt daran denken? Wieso sagte Jack Elliott nichts, er wollte doch etwas sagen?! Warum stand er einfach nur so da?

„Frag ihn, frag du ihn“, sagte sie aufgeregt zu Allan Daly. Aber es war ihm schon jemand zuvorgekommen. Plötzlich wurde es ganz still im Raum. Im Pavillon hatte der Geiger einen Augenblick aufgehört zu spielen, und es wurde auch dort still. Weit draußen hörten sie das dunkle Murmeln des Meeres, die Vorzeichen eines Sturms, der schon den Atlantik heraufzog. Von den Felsen her ertönte das Lachen eines Mädchens, das in der plötzlichen Stille abrupt aufhörte.

„England hat Deutschland heute den Krieg erklärt“, sagte Jack Elliott ganz langsam. „Die Nachricht wurde telegraphisch übermittelt, gerade, als ich die Stadt verließ.“

„Gott steh uns bei!“ flüsterte Gertrude Oliver erschrocken. „Mein Traum – mein Traum! Die erste Welle ist herangekommen.“ Sie blickte Allan Daly an und versuchte zu lächeln.

„Ist das der Berg Harmageddon?“ fragte sie.

„Ich fürchte, ja“, sagte er ernst.

Alle riefen durcheinander. Die meisten klangen allerdings nur überrascht oder etwas verwundert. Nur wenige erkannten die Tragweite dieser Botschaft, den meisten bedeutete sie nichts. Es dauerte nicht lange, da wurde weitergetanzt, und es ging wieder genauso fröhlich zu wie vorher. Gertrude und Allan Daly jedoch sprachen besorgt über die Neuigkeit. Walter Blythe war blaß geworden und ging hinaus. Draußen traf er auf Jem, der gerade die Felsenstufen heraufeilte.

„Hast du gehört, Jem?“

„Ja. Der Pfeifer ist gekommen. Hurra! Ich habe doch gewußt, daß England Frankreich nicht im Stich lassen würde. Ich wollte Captain Josiah bitten, die Flagge zu hissen, aber er sagt, das gehöre sich nicht vor Sonnenaufgang. Jack sagt, daß morgen die ersten Freiwilligen aufgerufen werden.“

„Wie kann man wegen nichts so einen Aufstand machen“, sagte Mary Vance verächtlich, als Jem vorbeirannte. Sie saß mit Miller Douglas auf einer Hummerfalle, was eigentlich nicht nur ziemlich unromantisch, sondern auch sehr unbequem war. Doch Mary und Miller waren glücklich, da, wo sie saßen, und das war die Hauptsache. Miller Douglas war ein großer, stämmiger, ungehobelter Kerl, der Mary Vances Ausdrucksweise ungeheuer talentiert fand und eine Schwäche hatte für Mary Vances Augensterne. Und keiner von beiden hatte auch nur die geringste Ahnung, warum Jem Meredith die Leuchtturmfahne hissen wollte. „Was macht das schon, wenn es da drüben in Europa Krieg gibt? Uns betrifft das doch nicht.“

 

Walter schaute sie an und hatte plötzlich wieder eine seiner merkwürdigen Visionen.

„Bevor dieser Krieg zu Ende ist“, sagte er oder eine Stimme, die aus ihm sprach, „wird ganz Kanada – jeder Mann, jede Frau und jedes Kind – ihn zu spüren bekommen. Auch du, Mary, wirst ihn zu spüren bekommen, bis auf den Grund deines Herzens. Du wirst blutige Tränen weinen. Der Pfeifer ist gekommen. Und er wird spielen, bis seine schreckliche, unwiderstehliche Musik bis in die entlegensten Winkel der Erde gedrungen ist. Es wird Jahre dauern, bis der Totentanz zu Ende ist. Jahre, Mary! Und in diesen Jahren werden Millionen Herzen brechen.“

„Was du nicht sagst!“ erwiderte Mary, wie immer, wenn ihr nichts Besseres einfiel. Sie wußte nicht, was Walter meinte, aber ihr war unbehaglich zumute. Walter Blythe sagte immer so sonderbare Sachen. Dieser alte Pfeifer, von dem er sprach – das letzte Mal hatte er in ihren Kindertagen im Regenbogental von ihm gesprochen, und jetzt tauchte der plötzlich wieder auf. Das gefiel ihr überhaupt nicht, und sie hatte keine Lust, sich solchen Unsinn anzuhören.

„Nun mal nicht den Teufel an die Wand, Walter“, sagte Harvey Crawford, der gerade dazukam. „Dieser Krieg wird doch nicht Jahre dauern. In ein, zwei Monaten ist alles vorbei. England wird Deutschland in Null Komma nichts von der Landkarte verschwinden lassen.“

„Glaubst du wirklich, ein Krieg, auf den Deutschland sich seit zwanzig Jahren vorbereitet hat, könnte in ein paar Wochen vorbei sein?“ ereiferte sich Walter. „Das ist nicht so ein schnödes Gerangel wie im hintersten Balkan, Harvey. Hier geht es um Leben und Tod. Deutschland wird siegen oder sterben. Und weißt du, was passiert, wenn es siegt? Kanada wird deutsche Kolonie!“

„Na, da müssen wohl noch ein paar andere Dinge passieren, bevor es soweit kommt“, sagte Harvey und zuckte mit den Schultern. „Erstens müßte die britische Armee geschlagen werden, und zweitens würden wir beide, Miller und ich, eine ganze Menge Staub aufwirbeln, was, Miller? Die Deutschen haben in diesem alten Land nichts zu suchen, oder?“

Harvey lief lachend die Treppe hinunter.

„Ich stelle fest, ihr Kerle redet den größten Blödsinn daher“, sagte Mary Vance verärgert. Sie stand auf und zog Miller zur Felsküste hinunter. Wann würden sie je wieder die Gelegenheit bekommen, sich ungestört miteinander zu unterhalten? Mary hatte jedenfalls nicht vor, sich diese Gelegenheit durch Walter Blythes dummes Geschwätz von Pfeifern und Deutschen und sonstigem Kram verpatzen zu lassen. Sie ließen Walter auf den Felsstufen stehen, wie er hinausschaute auf Four Winds. Doch seine brennenden Augen konnten die Schönheit nicht mehr erkennen.

Auch für Rilla war das Schönste des Abends vorbei. Seit Jack Elliotts Ankündigung hatte sie das Gefühl, daß Kenneth nicht mehr an sie dachte. Sie fühlte sich plötzlich einsam und unglücklich. Das war schlimmer, als wenn er sie überhaupt nie beachtet hätte. War denn das das Leben? Da passierte etwas Schönes, und dann, wenn man so richtig im Glück schwelgte, dann entwischte es einfach wieder? Erschüttert stellte Rilla fest, daß sie sich um Jahre älter fühlte als zu dem Zeitpunkt, als sie – nur vor wenigen Stunden – das Haus verlassen hatte. Vielleicht kam ihr das nur so vor, vielleicht stimmte es aber auch. Wer weiß? Über die Seelenqualen der Jugend sollte man nicht lachen. Sie sind schrecklich, denn die Jugend hat nicht gelernt, daß „das auch vorübergeht“. Rilla seufzte und wünschte, sie wäre zu Hause in ihrem Bett und könnte in ihr Kissen weinen.

„Müde?“ fragte Kenneth ganz freundlich, aber geistesabwesend – ach, so geistesabwesend! Es kümmerte ihn doch gar nicht, ob sie müde war oder nicht, dachte sie.

„Kenneth“, sagte Rilla zaghaft, „du glaubst doch auch nicht, daß wir hier in Kanada viel mit dem Krieg zu tun haben werden, oder?“

„Ob wir viel damit zu tun haben? Natürlich, zumindest die Glücklichen, die in der Lage sind mitzumachen. Ich falle ja aus. Und schuld daran ist nur dieser verdammte Knöchel. So ein Mist!“

„Aber ich verstehe nicht, wieso wir Englands Schlachten austragen sollen!“ rief Rilla. „Wieso kann England nicht für sich alleine kämpfen?“

„Das ist eben der Punkt. Wir sind Teil des britischen Reiches. Das ist eine Familienangelegenheit. Wir müssen einander beistehen. Das schlimmste ist, daß alles vorüber sein wird, ehe ich mich nützlich machen kann.“

„Soll das heißen, du würdest dich freiwillig melden, wenn das mit deinem Knöchel nicht wäre?“ fragte Rilla ungläubig. Der Gedanke kam ihr so – so lächerlich vor.

„Natürlich. Zu Tausenden werden sie losziehen. Jem wird bestimmt gehen, da wette ich mit dir. Walter wird allerdings noch nicht kräftig genug sein. Und Jerry Meredith, der geht mit Sicherheit! Oje! Und ich habe mir Gedanken gemacht, weil ich dieses Jahr nicht Fußball spielen kann!“

Rilla fehlten die Worte. Jem! Und Jerry! Was für ein Unsinn! Vater und Mr. Meredith würden das doch gar nicht erlauben. Sie waren doch noch nicht mal mit dem College fertig. Konnte denn Jack Elliott diese schreckliche Nachricht nicht für sich behalten?

Da kam Mark Warren und forderte sie zum Tanz auf. Rilla ging mit ihm, sie wußte ja, daß es Kenneth egal war. Dabei hatte er sie eben noch am Strand unten so angesehen, als wäre sie das einzige Wesen auf der Welt, das ihm irgend etwas bedeutete. Und jetzt war sie plötzlich niemand mehr. Seine Gedanken kreisten nur um dieses große Spiel, das da auf blutgetränkten Spielfeldern ausgetragen wurde und bei dem Weltreiche auf dem Spiel standen. Ein Spiel, bei dem das weibliche Geschlecht plötzlich nicht mehr wichtig war. Den Frauen, dachte Rilla unglücklich, blieb nichts anderes übrig, als zu Hause zu sitzen und zu weinen. Das war doch alles verrückt. Kenneth konnte nicht gehen. Das hatte er ja selbst gesagt. Und Walter zum Glück auch nicht. Jem und Jerry würden Verstand genug besitzen, sich nicht anzuschließen. Warum also sich Sorgen machen? Nein, sie wollte sich amüsieren! Wie ungeschickt sich dieser Mark Warren anstellte! Einen Patzer nach dem anderen machte der. Warum, um Himmels willen, mußte einer unbedingt tanzen, wenn er keine Ahnung davon hatte, noch dazu mit solchen Quadratlatschen! Da, jetzt stieß sie auch noch mit jemandem zusammen wegen ihm! Vielen Dank, mit dem würde sie nicht noch mal tanzen!

Dafür tanzte sie mit anderen, auch wenn sie keine rechte Lust mehr dazu hatte und ihre Stöckelschuhe sie entsetzlich drückten. Kenneth war anscheinend gegangen. Zumindest war er nirgends zu sehen. Ihre erste Party war ein Reinfall. Dabei war es vorhin noch so schön gewesen. Rilla hatte Kopfschmerzen, und ihre Zehen brannten. Aber es sollte noch schlimmer kommen.

Sie war mit ein paar Freundinnen zur Felsküste hinuntergegangen, während oben immer noch weitergetanzt wurde. Es war angenehm kühl hier unten, und sie waren alle müde. Rilla saß schweigend da und beteiligte sich nicht an der fröhlichen Unterhaltung der anderen. Sie war froh, als jemand von oben rief, daß die nächsten Boote gleich abfahren würden. Eine fröhliche Kletterpartie vom Leuchtturm herab begann. Einige Paare drehten im Pavillon immer noch ihre Runden, aber die Menge hatte sich gelichtet. Rilla hielt Ausschau nach der Gruppe, die aus Glen kam. Niemand war zu sehen. Sie lief in den Leuchtturm. Niemand da. Verzweifelt rannte sie zur Felstreppe, wo die Gäste aus Overharbour hinunterliefen. Unterhalb konnte sie die Boote sehen. Aber wo war Jems Boot und wo Joes?

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