Theologie des Neuen Testaments

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Mit den Konzepten der primary history und der paradigmatic history stehen sich demnach eine geschichtstheologische und eine toraorientierte Interpretation der biblischen Geschichtserzählung gegenüber. Die eine betont die Bedeutung des Gottesgedankens in seinem geschichtlichen Verhältnis zum Gottesvolk, die andere stellt die ewige Weisung der Tora und die Verpflichtung des Volkes Israel auf die Tora in den Mittelpunkt. Die geschichtstheologisch-dramatische Sichtweise der Geschichte Israels wirkt besonders in der jüdischen Apokalyptik fort, während die ungeschichtlich-toraorientierte, durch Sadduzäer und Pharisäer vorbereitet, dann schließlich im rabbinischen Judentum dominiert.

Die Darstellung der Geschichte des jüdischen Volkes und deren Deutung spielen eine wesentliche Rolle für das Selbstverständnis des antiken Judentums. Auf der Basis einer grundlegenden biblischen Geschichtserzählung (primary history) wird diese Geschichte entweder als eine dramatische und krisenhafte Beziehung zwischen dem Gott Israels und seinem Volk gedeutet oder aber als eine an den Forderungen der Tora zu messende Sammlung von Beispielen für die Erfüllung und Verfehlung der Tora (paradigmatic history). Bei beiden Geschichtskonzeptionen steht aber das eine Grundprinzip im Hintergrund, dass Gott die Geschichte seines Volkes bestimmt.

2.6Tora

Die biblische Grunderzählung von Genesis bis zum zweiten Buch der Könige denkt geschichtlich. Gehorsam oder Übertretung entscheiden über das Ergehen des Volkes Israel im Raum der Völkergeschichte. Die Völker können nur Macht über Israel gewinnen, wenn der Gott Israels es zulässt oder die Völker gar als Instrumente seines Strafhandelns nutzt. In den biblischen Geschichtserzählungen begegnen allerdings noch weitere Kriterien, die die Grenze zwischen Gehorsam und Ungehorsam markieren, etwa die Fremdgötterverehrung, die Höhen, auf denen verehrt, die Kultstatuen und Masseben, die aufgerichtet werden, oder auch das Vergießen unschuldigen Blutes. Es war durchaus umstritten, woran sich Gott orientiert, wenn er die Geschicke seines Volkes bestimmt.

Diese Fragen werden im antiken Judentum mit Hilfe der Vorstellung von den väterlichen Überlieferungen, dem Gesetz bzw. der Tora beantwortet. Nach Josephus führt die Beachtung der „väterlichen Gesetze“ (gr. patrioi nomoi; πάτριοι νόμοι) zu einem „glückseligen Leben“ (gr. eudaimonia; εὐδαιμονία). Philo ist der Überzeugung, dass die Tora den Aufstieg der Seele zur Weisheit (gr. sophia; σοφία) ermögliche, da die Tora mit dem Naturgesetz (gr. nomos physeos; νόμος φύσεως), das allem Seienden als Prinzip innewohnt, identisch sei. Das eher religionsgesetzliche Verständnis der Rabbinen hingegen unterstreicht die Verpflichtung zur Tora um ihrer selbst willen. Sie sei eine himmlische Gabe und ihre Befolgung sei für Israel Schöpfungsauftrag.

In der Hebräischen Bibel finden sich als Bezeichnungen für Recht, Rechtssatz, Weisung zahlreiche Wörter, etwa dat, mischpat, chok, mizwa und auch tora. Das hebr. Wort tora (תורה) meint zunächst die Einzelweisung. Als zusammenfassende Bezeichnung für die Gesamtheit der Gebote Gottes ist es erst in späterer Zeit belegt. Die Septuaginta übersetzt tora überwiegend und die verschiedenen anderen oben genannten hebräischen Begriffe zum Teil ebenfalls vereinheitlichend mit „Gesetz“ (gr. nomos; νόμος) im Singular. Das Wortfeld nomos dominiert in der griechischen Übersetzung noch in weiterer Hinsicht. So werden auch zum Teil sehr spezifische Rechtsbrüche und Übertretungen verallgemeinernd mit gr. anomia (ἀνομία) oder gr. paranomia (παρανομία) bezeichnet. Die Septuaginta nutzt im Falle der genannten Rechtsbegriffe, die feine terminologische Unterscheidungen erlauben, überwiegend das Wortfeld gr. nomos, wie sie auch in anderen Fällen dazu neigt, für die Übersetzung spezifischer hebräischer Begriffe „semantisch allgemeinere Äquivalente“ im Griechischen zu verwenden.22 Durch die vereinheitlichenden Übersetzungen der disparaten hebräischen Rechtsbegriffe wird auch eine Bedeutungsverschiebung des Begriffs „Gesetz“ bewirkt. Er steht nun für die Summe der religiös-ethnischen Regelungen des Judentums. Damit öffnet sich die Bezeichnung für die hellenistische Vorstellung, nach der ein Volk durch gemeinsame Sitten und durch ein gemeinsames Gesetz gebildet werde. Diese vereinheitlichende Tendenz findet sich dann auch im masoretischen Text der Hebräischen Bibel. In ihr kommt hebr. tora genau 220 Mal vor. Der Sachverhalt weist auf eine vereinheitlichende Redaktion des masoretischen Textes hin, die in der Zahlensymbolik (22 Buchstaben des Alphabets × 10) die zentrale Bedeutung der tora, ihre „Perfektion und Totalität“ zum Ausdruck bringen möchte.23 Verteilt über den gesamten Kanon wird tora zum zentralen Inhalt der Schrift, deren Bedeutung über die dort berichteten Einzelereignisse hinausgeht und dadurch zeitlos wirkt.

Die Festlegung der Tora vollzieht sich aber nicht nur symbolisch, sondern auch sehr konkret. Im Babylonischen Talmud findet sich die traditionell gewordene Gesamtzahl von 613 Geboten und Verboten. Da ältere Traditionen nicht nachweisbar sind, ist diese Zusammenstellung wohl spätestens auf die Mitte des 6. Jh. zu datieren (Endredaktion: bBB 157b; bBM 86a). Im Traktat Makkot (Geißelung) aus der Ordnung Nezikin (Schädigungen) des Babylonischen Talmuds heißt es:

bMak 23b (Übers. Goldschmidt): R. Simlai rief aus: „613 Gebote wurden Moses gegeben, 365 (Verbote), entsprechend der Zahl der Tage im Sonnenjahr, und 248 (Gebote), entsprechend der Teile des menschlichen Körpers.“

Erst aus späterer Zeit sind Listen erhalten, die diese 613 Gebote im Wortlaut nennen. Aus älterer Zeit und auch aus dem Neuen Testament sind aber immerhin Äußerungen überliefert, die die Einhaltung jedes einzelnen, noch so kleinen Gebotes bzw. der ganzen Tora einfordern (Gal 5,3; Jak 2,10).

Was ist aber nun die Tora im Sinne der Gesamtheit der religiösethnischen Gesetze? Der Mischna-Traktat Pirke Abot (Sprüche der Väter) berichtet davon, dass Moses und Aaron, als sie auf dem Sinai waren, nicht nur die schriftliche Tora, wie sie in den fünf Büchern Moses festgehalten ist, empfingen, sondern auch eine mündliche Tora, die ohne schriftliche Fixierung von Generation zu Generation mündlich weitergegeben wurde. Erst in rabbinischer Zeit bemüht man sich, Weisungen der mündlichen Tora, die über die schriftliche Tora hinausgehen, auf den Bibeltext zurückzuführen. Die älteste rabbinische Überlieferung verankert ihre Grundüberzeugungen bei den beiden Schulgründern Hillel und Schammai. Hillel gilt als der Konziliantere, Schammai eher als streng. Die Unterscheidung von schriftlicher und mündlicher Tora wird durch eine kurze anekdotische Erzählung über Schammai überliefert:

bSchabb 31a (Übers. Goldschmidt): Einst trat ein Nichtjude vor Schammai und sprach zu ihm: Wieviel Thoroth habt ihr? Dieser erwiderte: Zwei; eine schriftliche und eine mündliche. Da sprach jener: Die schriftliche glaub ich dir, die mündliche glaube ich dir nicht; mache mich zum Proselyten, unter der Bedingung, dass du mich nur die schriftliche Tora lehrst. Dieser schrie ihn an und entfernte ihn mit einem Verweis.

Im ersten Jahrhundert n. Chr. sind Tora, Gesetz und väterliche Überlieferungen zwar recht klar umrissen, in ihrer Konkretion aber bleiben sie Gegenstand von divergierenden Interpretationen. So gelten Beschneidung, Sabbat, Speisegebote und Reinheitsregeln in der Antike als bekannte Merkmale jüdischen Lebens, aber ob ein Junge beschnitten werden darf, wenn der achte Tag auf einen Sabbat fällt, oder was man macht, wenn der Rüsttag des Pessach, dem Tag, an dem die Lämmer geschlachtet werden sollen, auf einen Sabbat fällt, bleibt Gegenstand von Auslegungen.

Die Tora im Sinne der Gesamtheit der überlieferten Regeln wurde bis ins 2. Jh. n. Chr. mündlich weitergegeben. Erst in der Mischna, die etwa um 200 n. Chr. eine schriftliche Form findet, werden zum ersten Mal die grundlegenden Gebote und die Diskussionen um diese festgehalten. Die Tosefta stellt eine Art kommentierende Neuschreibung der Mischna dar, die die Regelungen eher predigtartig vorstellt. Babylonischer und Jerusalemer Talmud, Bavli und Jeruschalmi, kommentieren die Traktate der Mischna und enthalten weitere rabbinische Meinungen zu dieser. In diesem Sinn kann man sagen, dass es die eine festumrissene Tora nie gab und bis heute nicht gibt. Dennoch gibt es eine Reihe von Regelungen, die in der Außenwahrnehmung des Judentums zu Unterscheidungsmerkmalen von der Umwelt werden, wie etwa Arbeitsruhe am Sabbat, Speisetabus, bes. die Ablehnung von Schweinefleisch, und die Ablehnung der Verehrung anderer Götter.

In den rabbinischen Schriften bewirkt die zentrale Stellung der Tora bisweilen ein Gottesverständnis, das diesen der Tora geradezu unterordnet und anthropomorphe Sichtweisen nicht scheut. So wird z. B. der Tagesablauf Gottes in wie folgt geschildert:

bAZ 3a (Übers. Goldschmidt): R. Jehuda sagte im Namen Rabhs: Zwölf Stunden hat der Tag. In den ersten drei Stunden sitzt der Heilige, gepriesen sei er, und befasst sich mit der Tora; in den anderen sitzt er da und richtet die ganze Welt, und sobald er sieht, dass die Welt sich der Vernichtung schuldig macht, erhebt er sich vom Stuhle des Rechts und setzt sich auf den Stuhl der Barmherzigkeit; in den dritten sitzt er und ernährt die ganze Welt, von den gehörnten Büffeln bis zu den Nissen der Läuse, in den vierten sitzt der Heilige gepriesen sei er, und scherzt mit dem Leviathan, denn es heißt, der Leviathan, den du geschaffen hast, um mit ihm zu spielen (Ps 104,26).

Gott hat einen Tagesablauf, an dessen Anfang das Studium der Tora steht. Die übrige Zeit wendet er auf, um Recht und Barmherzigkeit zu bewirken, die Schöpfung zu erhalten und zu spielen.

Der Begriff Tora erfährt durch die Übersetzung ins Griechische mit „Gesetz“ eine erhebliche Bedeutungsverschiebung. Tora bezeichnet eher einen vielfältigen und differenzierten Diskurs um Geltungsansprüche innerhalb des Judentums, Gesetz hingegen die Gesamtheit der religionsgesetzlichen Regelungen des Judentums. Im antiken Judentum existiert keine normative Festlegung auf eine Gesamtheit der für das Judentum ausschlaggebenden religionsgesetzlichen Regelungen. Vielmehr werden Gehalt und Bedeutung jedes einzelnen Gebotes wie auch die Gesamttatsache Tora kontrovers diskutiert, in den verschiedenen Sondergruppen unterschiedlich bewertet und immer wieder neu bestimmt.

 

2.7Tempel

Der Jerusalemer Tempel wurde in den Jahren zwischen 520 und 515 v. Chr. als Nachfolgebau für den im Jahr 587 v. Chr. zerstörten ersten, den Salomonischen Tempel errichtet. Er galt als das zentrale und einzige Heiligtum der Bewohner Judäas, eines Gebiets von ca. 40 × 50 km im Umfeld von Jerusalem mit 15.000 bis 25.000 Einwohnern zu dieser Zeit. Den Tempeldienst verrichteten 24 Priesterklassen, die abwechselnd je 14 Tage Tempeldienst zu leisten hatten. Danach kehrten die Priester wieder in ihre übliche Wohnumgebung, meist judäische Bergdörfer, zurück. Nur wenige Priester waren ganzjährig tätig, unter ihnen der Hohepriester. Der Jerusalemer Tempel war durch diese Regelung nicht nur ein Gebäude, sondern auch ein religiöses Sozialsystem, ein Priesternetzwerk.

Im Jahr 169 v. Chr. führte der seleukidische Herrscher Antiochos Epiphanes IV mit der Unterstützung hellenisierter Judäer den Kult des Zeus Olympios im Jerusalemer Tempel ein. Diese stellten dort auch eine Statue des Antiochos auf. Der Aufstand gegen diese und andere Maßnahmen, wie etwa das Verbot der Beschneidung und das Gebot, die Speisegesetze unbeachtet zu lassen, führte zum Aufstand national-judäischer Traditionalisten unter der Führung des Mattathias Makkabäus und seiner fünf Söhne. Die Eroberung des Tempels stellte die Makkabäer vor die Frage, wie sie mit den durch „Frevel“ sakral zerstörten Kulteinrichtungen umgehen sollten. Der Altar wurde niedergerissen und nach den Vorschriften von 1Kön 6 neu errichtet (1Makk 4,36–59; 2Makk 10,1–8; Jos. Ant. 12,316–325). Die Einweihung erfolgte am 25. Kislev und begründet das Fest der Tempelweihe, Chanukka (חנוכה, Wortbedeutung unklar, „Lager am 25.“ oder „Einweihung“) bzw. der „Erneuerung“ (vgl. Joh 10,22). Der Talmud überliefert die Legende von der Entstehung des Festes: Im Tempel sei ein einziger Krug mit reinem Öl gefunden worden, der aber wunderbarerweise acht Tage ausgereicht habe.

bSchabbat 21b (Übers. Goldschmidt): Was bedeutet das Chanukafest? – Die Rabbanan lehrten: Am fünfundzwanzigsten Kislev beginnen die Tage des Chanukafestes; es sind ihrer acht, an denen man keine Trauerfeier abhalten noch fasten darf. Als nämlich die Griechen in den Tempel eindrangen, verunreinigten sie alle Öle, die im Tempel waren. Nachdem die Herrscher des Hauses der Hasmonäer sich ihrer bemächtigt und sie besiegt hatten, suchte man und fand nur ein einziges mit dem Siegel des Hohepriesters versehenes Krüglein mit Öl, das nur so viel enthielt, um einen Tag zu brennen. Aber es geschah ein Wunder, und man brannte davon acht Tage. Im folgenden Jahre bestimmte man, diese Tage mit Lob- und Dankliedern als Festtage zu feiern.

Das Tempelgebäude wurde von Herodes dem Großen in den Jahren ab 20 v. Chr. grundlegend umgestaltet. Aus jüdischer Perspektive ist dieser Neubau aber kein neuer, dritter Tempel, sondern steht sakralrechtlich in Kontinuität zum zweiten Tempel bzw. zu dem von den Makkabäern neu eingeweihten Tempel. Diese sakralrechtliche Komponente kommt darin zum Ausdruck, dass Herodes die Priester alle für den Tempelneubau notwendigen Handwerke erlernen ließ, sodass die Arbeiten am Tempel durch Priester ausgeführt wurden.

Der Tempel war der einzige legitime Ort der kultischen Gottesverehrung und damit des Opferdienstes. Täglich wurden als regelmäßiges Dankopfer, Tamid, zwei einjährige Schafe („Lämmer“) geopfert. Eines am Morgen und eines am Abend als Brandopfer, begleitet von einem Mehl-Öl-Gemisch als Speisopfer und Wein als Trankopfer (Ex 29,38–42; Num 28,3–8).

Num 28,3–5: Und sage ihnen: Das ist das Feueropfer, das ihr dem Herrn darbringen sollt: zwei einjährige Lämmer ohne Fehler, täglich als regelmäßiges (hebr. tamid; תמיד) Brandopfer. (4) Das eine Lamm sollst du am Morgen bereiten, und das zweite Lamm sollst du in der Abenddämmerung bereiten, (5) und als Speisopfer ein zehntel Efa Feinmehl, untergerührt mit einem viertel Hin gestoßenen Öles.

Ex 29,38.45: Und dies sollst du auf dem Altar darbringen: täglich zwei einjährige Lämmer als regelmäßiges (hebr. tamid; תמיד) Opfer. […] (45) Und ich werde mitten unter den Kindern Israels wohnen und ihr Gott sein.

Am Sabbat verdoppelte sich die Zahl der Opfertiere auf vier (Num 28,9 f.), am Monatsanfang wurden zwei Jungstiere, ein Widder und sieben Lämmer ebenfalls begleitet von Speis- und Trankopfern dargebracht (Num 28,11–15). Ein normaler, festfreier Monat von 30 Tagen und 4 Sabbaten erforderte demnach ca. 78 Opfertiere. An den Festtagen erhöhte sich die Zahl der Opfertiere. An der Spitze steht das siebentägige Laubhüttenfest, Sukkot (von hebr. sukka; סכה; „Laubhütte“; vgl. Lev 23,34–43). Der Festkalender in Num 29,12–38 nennt täglich 29 bis 23 Opfertiere (am ersten Tag 13 Jungstiere, zwei Widder und vierzehn einjährige Lämmer). Insgesamt sollen einschließlich des achten Tages mit neun Opfertieren am Sukkot ca. 190 Opferschlachtungen stattfinden. Während die bisher angeführten Opfer Aufgabe des regelhaften Tempeldienstes waren, gab es zusätzlich noch Opfer, die durch Einzelpersonen, Familien und Sippen angeregt wurden.

Die Deutung dieser Opferhandlungen und der mit ihnen verbundenen Mahlgemeinschaften ist nicht ganz einfach. Es geht sicher nicht um die Sättigung Gottes, sondern um die Gemeinschaft mit Gott. Gese hebt die Funktion der Sühne durch das Opfer hervor, die die durch den Menschen verschuldete „Störung des Gottesverhältnisses“ aufhebe und überhaupt erst so die Gemeinschaft Israels mit Gott ermögliche.24 Nur die im Opfer vollzogene Sühne der wissentlichen und unwissentlichen Schuld Israels erlaube die Nähe zu Gott. Marx hingegen stellt den kommunitären Charakter in den Mittelpunkt.25 Das Opfer werde von Gott als Zusage der Mahlgemeinschaft des Gottes Israels mit seinem Volk verstanden. Die Priesterschrift bevorzuge das Opfer mit gemeinschaftlicher Opfermahlzeit (hebr. säbach schelamijm; ). Sie vertrete die Vorstellung, Gott lasse sich zu dieser Mahlgemeinschaft einladen und zeige mit der Annahme der Produkte des Landes seine Verbundenheit mit Volk und Land.

Die Opferhandlung ermöglicht jedenfalls den Zugang und die Nähe zu Gott, wie die Begrifflichkeit für „opfern“ (hebr. qarab; קרב), wörtlich „sich nähern (um zu opfern)“, und Opfer (hebr. qorban; קרבן) für Nähe zu Gott unterstreicht. Das Opfer ist demnach ein kultisches Ritual, das die Präsenz Gottes bei den an diesem Ort versammelten Menschen gewährleistet.

Eine Sonderstellung nimmt das Passahfest ein, weil die Opfertiere dabei nicht von Priestern geschlachtet wurden und die Mahlzeit auch nicht am Tempel stattfand. Die nichtpriesterliche Schlachtung und das sich anschließende gemeinschaftliche Laienmahl hatten keine sühnende Wirkung. In nachexilischer Zeit hatte sich die Regelung durchgesetzt, dass die Passahlämmer, die in den Familien und Gruppen als Festmahl verspeist werden sollten, im Tempel zu schlachten waren (2Chr 35,11). 2Chr 35,7–9 nennt für ein Passahfest zur Zeit Josias insgesamt 37.600 Stück Kleinvieh, Ziegen und Lämmer, und 3.800 Rinder, die geschlachtet wurden. Im 1. Jh. n. Chr. ist damit zu rechnen, dass ein großer Teil der judäischen und galiläischen Bevölkerung zum Passah nach Jerusalem kam, d. h. zumindest einige hundertausend Pilger.26 Die Schlachtungen wurden von Priestern und Leviten überwacht, aber von „Israeliten“ durchgeführt (mPes V,5).

In den einschlägigen Texten von Mischna und Talmud werden die damit verbundenen Vorgänge wie Festbinden der Tiere, Schlachtungen, Auffangen des Blutes, Weitergabe des Blutes zum Altar, Vorrichtungen zum Aufhängen und Abhäuten der Tiere, deren Zerlegung usw. im Detail beschrieben (z. B. bTamid 30a–30b). Der Opferkult und die mit ihm verbundenen Dienstleistungen wie Erwerb der Opfertiere, Vergabe des Priesteranteils von den Opfertieren oder Verwertung von Häuten und Fellen hatten auch eine nicht unerhebliche wirtschaftliche Bedeutung. Der Tempel war ein Großabnehmer für die verschiedenen Opfertierarten, Wein, Öl, Getreide, Weihrauch, Kleidung u. a.27

Es ist wichtig, sich die konkreten Abläufe des Jerusalemer Kultes zu vergegenwärtigen, um die Dimensionen des Geschehens zu verstehen, innerhalb derer dann das Auftreten Jesu (Mk 11,15 f.) und des Paulus (Apg 21,26–22,30) im Tempel einzuordnen ist. Die hier geschilderten Vorgänge unterschieden sich nicht kategorial und grundsätzlich von Vorgängen an vergleichbaren antiken Kultstätten. Der aus heutiger Perspektive offensichtliche Unterschied besteht darin, dass für keine antike Kultstätte auch nur annähernd vergleichbar ausführliche Kultnarrative, Festkalender und religiös-theologische Erörterungen über den Opferkult vorliegen.

Es kommt hinzu, dass im jüdischen Schrifttum die Feste einer Sinnbildung unterliegen, die als Spiritualisierung oder auch Theologisierung bezeichnet werden kann. Der Kult, das Opfer, die Inszenierung der Gemeinschaft und ihre sozialen Strukturen werden intensiv reflektiert, die Kultterminologie wird metaphorisiert und die mit dem Kult verbunden Heilserwartungen werden immer wieder aktualisiert, auf andere Phänomene übertragen und gesteigert. So spricht der qumranische Yahad, der sich vom Jerusalemer Tempelkult abgewendet hat, von einem „Heiligtum aus Menschen“ (hebr. mikdasch adam; ).28 Paulus nennt die Gemeinde einen „Tempel Gottes“, dessen Beschädigung durch falsches Verhalten Gott strafen werde (1Kor 3,16). Der Tod Jesu am Kreuz wird als sühnendes Opfer (Röm 3,24–26) und Jesus als der Hohepriester verstanden, der „nicht durch das Blut von Böcken und Kälbern, sondern mit seinem eigenen Blut […] sich selbst als makelloses Opfer Gott hingegeben“ hat (Hebr 9,11–14).

Im antiken Judentum wird man grob drei Stufen des Umgangs mit Opfer, Kult und Fest benennen können, die Kaiser als Historisierung, Denaturierung und Eschatologisierung bezeichnet.29 Das ursprünglich nomadische Passah, das Schlachten der Lämmer und der Blutritus, wird historisiert, indem es mit einem einmaligen historischen Ereignis, dem Exodus, verbunden wird, und denaturiert, indem es seine Funktionen für die nomadische Gemeinschaft verliert und an die eine und einzige zentrale Kultstätte, den Jerusalemer Tempel, gebunden wird. Das Passah wird zum Erinnerungsfest an die Befreiung aus der Knechtschaft und zugleich an die kultischen Vorstellungen und Interessen der Priesteraristokratie angepasst. Die Zusagen des Kultes und des Festkreises werden durch Metaphorisierung auf andere Sachverhalte übertragen, die die in der Gegenwart ausbleibende Realisierung der Heilserwartung in die eschatologische Endzeit verlagern.

Für die Funktionen am Tempel wurde eine Tempelsteuer in Höhe einer tyrischen Doppeldrachme erhoben. Diese Tempelsteuer wurde auch in der Diaspora eingetrieben. Der Transport des Geldes nach Jerusalem stellte ein Politikum dar, da der Geldabfluss aus den Siedlungsgebieten der Diasporajuden von Nichtjuden bisweilen kritisch bewertet wurde. Cicero berichtet von einem Edikt des Statthalters der römischen Provinz Asia aus dem Jahr 62 v. Chr., das den Export von „Gold der Juden“ (d. i. Tempelsteuer) verboten habe.30 In diesem Zusammenhang erwähnt Cicero auch, dass in Laodikeia zwanzig Pfund Gold eingezogen wurden, was einer jüdischen Bevölkerung in der Gegend um diese Stadt von etwa 10.500 personenrechtlich freien jüdischen Männern entspricht.

Der Jerusalemer Tempel ist das zentrale Heiligtum des Judentums, an dem eine mit dem Volk verbundene Priesterschaft die kultischen Dienste verrichtet. Das tägliche Opfer wie auch die umfangreichen kultischen Handlungen an den Festen unterstreichen die religiöse, soziale, politische, aber auch wirtschaftliche Bedeutung des Tempels. Das Disporajudentum ist durch die Tempelsteuer ebenfalls in die durch den Tempel konstiuierten inneren Beziehungen des antiken Judentums eingebunden. Der Tempel gilt als der Ort, an dem Gott seine Präsenz zugesagt hat. Vor allem diese Vorstellung führt dazu, dass kultische Begriffe metaphorisiert verwendet und auf andere religiös bedeutsame Sachverhalte übertragen werden.

 

2.8Diaspora

Seit dem babylonischen Exil waren in Mesopotamien und Ägypten zwei Diasporagruppen entstanden. Die nach dem Alexanderzug sich auch über Kleinasien, Syrien und Ägypten ausbreitende hellenistische Weltkultur, das ptolemäische und das seleukidische Reich ermöglichten und förderten zum Teil die Ansiedlung von Judäern außerhalb des judäischen Kerngebietes. Die Forschung beziffert die judäische Bevölkerung in Palästina im 1. Jh. n. Chr. auf etwa 800.000 bis eine Million Einwohner. Philo nennt für Alexandria und Ägypten ebenfalls die Zahl Eine Million und spricht davon, dass etwa ein Viertel der Stadtbevölkerung Alexandrias jüdisch gewesen sei.31 Die Angaben Philos sind wohl übertrieben. Da die Einwohnerzahl Alexandrias in dieser Zeit in der Forschung nur auf etwa 300.000 bis 500.000 geschätzt wird, wären davon ein Viertel doch eher ca. 100.000 Juden. Weiterhin belegen Inschriften und literarische Quellen jüdische Bewohner der an Palästina angrenzenden Provinzen Syrien und Kilikien. Für Kleinasien überliefert Josephus einen Brief des Antiochos III (223–200 v. Chr.), in dem dieser die Anweisung erteilt, „2000 jüdische Haushalte” von Mesopotamien nach Lydien und Phrygien umzusiedeln, ihnen Land zu geben und ihnen die Befolgung ihrer eigenen Gesetze zu erlauben.32 Von diesen 2.000 im 3. Jh. v. Chr. umgesiedelten Familien stammen vermutlich auch die bereits oben genannten ca. 10.500 steuerpflichtigen jüdischen Männer des 1. Jh. v. Chr. ab, die in der Gegend um Laodikeia lebten. Auch Philo erwähnt, dass in Kleinasien und Syrien „Juden in großer Zahl in jeder Stadt“ lebten.33 Weitere Hinweise lassen sich aus Einzelnachrichten entnehmen, wie etwa die Information, dass Herodes der Große Abgaben kilikischer Kleinstädte übernommen habe, oder die Aufzählung judäischer Kolonien (gr. apoikia; ἀποικία) in Pamphylien und Kilikien durch Philo.34 Auf Philo geht auch die Aussage zurück, die Juden Judäas hätten den römischen Statthalter von Syrien gewarnt, dass die Missachtung des jüdischen Religionsgesetzes zu Aufständen der Juden weltweit führen könnte. Sie tragen vor:

Philo, Gai. 215: Wäre es nicht höchst gefährlich, diese Massen (der Juden in Palästina und in der Diaspora) zu Feinden zu machen? Ach, nie geschehe es, dass sie, nachdem sie sich verbündet hätten, von allen Seiten zur Vergeltung vorrückten.

Die zahlreichen literarisch und inschriftlich belegten jüdischen Einzelpersonen und Gemeinden in der Antike lassen sich nur schwer zusammenfassen. Versuche, eine Gesamtzahl zu bestimmen, sind naturgemäß ungenau. Es ist jedenfalls mit einer eher städtisch orientierten Bevölkerung zu rechnen, die sich vor allem im Osten des Mittelmeerraums konzentriert. Wenn man zugrunde legt, dass ca. 20 % der Bevölkerung im Mittelmeerraum in Städten lebten und dass sich die jüdische Bevölkerung außerhalb Palästinas überwiegend ebenfalls in Städten ansiedelte, dann kann man unter Einbeziehung der Zahlen aus Alexandria und Palästina auf einen Bevölkerungsanteil von 2 bis 5 % im römischen Reich kommen. Die Frage, ob dieser große Bevölkerungsanteil allein auf natürliches Bevölkerungswachstum oder auch auf Mission und Ausbreitung des Judentums unter Nichtjuden zurückgehen kann, ist umstritten. Eine organisierte Mission ist nicht nachzuweisen (vgl. Mt 23,15), allerdings ging von den Formen jüdischen Lebens in der Diaspora auch eine Anziehungskraft aus. Josephus berichtet z. B., dass in Antiochien die Synagoge so attraktiv gewesen sei, dass „eine große Menge der Griechen zu ihren (der Juden) Gottesdiensten“ gekommen sei.35

Die Sprache des Diasporajudentums war Griechisch, ihre Bibel die Septuaginta, die aber nicht einfach als Übersetzung galt, sondern selbst als inspirierte Schrift betrachtet wurde.

Aristeasbrief 310: Da gut und fromm und sehr genau übersetzt worden ist, ist es gut, dass sie so erhalten bleibe und keinesfalls eine Überarbeitung erfolge.

Das jüdische Leben der Diaspora kam ohne Opfer aus. Die Nähe zu Gott wurde vor allem in der Befolgung der Tora, ihrer Lesung im Synagogengottesdienst und im Gebet gesucht. Es ist nicht ganz klar, ab wann und auf welche Weise das Synagogengebäude bzw. der Ort der Gebetszusammenkunft als sakraler Ort verstanden wurde. Nach Levine leitet sich die Synagoge aus dem Tor der jüdischen Stadt ab, in dem Recht gesprochen wurde und wo sich die Ältesten versammelten.36 In der Diaspora fiel das Stadttor für die jüdische Minderheit als Versammlungsort aus. Die Synagoge trat an ihre Stelle als soziales und rechtliches Zentrum. Die religiöse Funktion als Ort des Gottesdienstes und Gebets habe sich später etabliert und die Vorstellung der Sakralität der Synagoge sei erst durch die Präsenz der Torarolle entstanden, deren Heiligkeit auf das jeweilige Gebäude übertragen worden sei.

Andere Theorien leiten hingegen die Synagoge als Gebetsstätte aus der ägyptischen Diaspora ab, die das Vorbild aus ihrer Umwelt übernommen habe, und betonen den ursprünglich religiösen Charakter. Das Zentrum jüdischen Lebens in der Diaspora stellte jedenfalls die Synagogengemeinschaft dar, die sich als „Personengemeinschaft“ (gr. politeuma; πολίτευμα) versteht und sich an einem Ort versammelt, der im Griechischen meist mit „Gebetsstätte“ (gr. proseuche; προσευχή) bezeichnet wird. Im ersten Jahrhundert n. Chr. existierten in der Diaspora bereits einige repräsentative Synagogengebäude. Oft wurden jedoch Privathäuser für die Synagogenversammlung genutzt. Das Bild, das Lk 4,16–30 von der Synagoge in Nazareth zeichnet, scheint hingegen unhistorisch zu sein. Lukas überträgt die Verhältnisse der Diaspora der Jahre 80–90 n. Chr. auf das Galiläa der 30er Jahre. Im Nahbereich des Jerusalemer Tempels, d. h. in Judäa, sind Gebäude, die als Synagogen interpretiert werden können, nur für jüdische Sondergruppen belegt. Erst nach der Tempelzerstörung entstehen in größerem Ausmaß auch Synagogengebäude in Judäa und besonders in Galiläa.

Das Judentum hatte sich ab dem sechsten Jahrhundert v. Chr. über andere Länder verteilt. Dieses sogenannte Diasporajudentum blieb an die Zentren jüdischen Selbstverständnisses in Palästina, besonders an die Stadt Jerusalem und den Tempel, rückgebunden. Es brachte aber auch eigenständige religiöse und kulturelle Institutionen hervor, wie etwa die Synagoge, die Tempelsteuer, Bibelübersetzungen, religiöse Literatur in Griechisch und die Auseinandersetzung mit hellenistischen Denk- und Lebensweisen.

2.9Sondergruppen

Die religiösen Sondergruppen haben sich im Zuge eines Prozesses der inneren Diversifizierung des Judentums des Zweiten Tempels gebildet. Pharisäer, Sadduzäer, Essener und weitere Gruppierungen werden von Josephus als Sekten oder Sondergruppen (gr. hairesis; αἵρεσις) des Judentums und ihre Mitglieder als Sektierer, Anhänger (gr. hairetistai; αἱρετισταί) bezeichnet.37 Philo macht uns mit zwei Gruppierungen vertraut, die sich ebenfalls als Sondergruppen von der Mehrheit abgrenzen. Er nennt zum einen die Essaier oder Essener (gr. Essaioi; Ἐσσαίοι), die eine praktische und aktive Lebensführung bevorzugen, und zum anderen die „Therapeuten und Therapeutinnen“ (gr. therapeutai; θεραπευταί), die sich gemäß ihrer „Lebensweise als Philosophen“ mit dem beschaulichen Leben (gr. theoria; θεωρία) befassen.38

In den Textfunden von Qumran begegnet eine Klasse von Texten, die eine weitere Sondergruppe vorstellt, die sich als „Gemeinschaft“ (hebr. yahad; יחד) in Abgrenzung von der Mehrheit des judäischen Judentums versteht.39 Vor diesem Hintergrund jüdischer Sondergruppen sind auch die Gemeinschaften der ersten Christusanhänger zu verstehen, die vom Apostel Paulus in seinen Briefen als „Versammlung“ (gr. ekklesia; ἐκκλησία), „Versammlung Gottes“ oder „Versammlung Christi“ angesprochen werden (Phil 4,15; 1Kor 1,2; Röm 16,16). Unter diesen Gemeinschaften nehmen die von Paulus, dem Apostel der Völker, gegründeten Gemeinden als „Versammlungen der (nichtjüdischen) Völker“ wiederum eine Sonderstellung ein.40