Israel als Urgeheimnis Gottes?

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Aus dem oben Gesagten folgt fünftens, dass die „Analogie letzter objektiver Rhythmus im Sein und letzter subjektiver Rhythmus im Denken“147 ist. Man kann aus diesem Rhythmus nichts ableiten, aber es kann auch jenseits dieses Rhythmus nichts gedacht werden. Analogia entis ist „durchgehende Struktur eines rein frei Faktischen“148. Das Letzte, dessen der Mensch innewerden kann, ist dieser Rhythmus. Der terminus ad quem der analogia entis ist kein fassbares Ergebnis oder ein edles Menschenbild, sondern das Geheimnis des Deus semper maior und der Nüchternheit der menschlichen Existenz149.

„Es gibt nur den je neuen Rhythmus, in dem die ‚noch so große Ähnlichkeit‘ […] radikal aufgebrochen wird in das radikal Übersteigende einer ‚je immer größeren Unähnlichkeit‘ des ‚Gott, der über allem ist, was gedacht werden kann‘, – aber so, daß auch und gerade diese ‚je immer größere Unähnlichkeit‘ nicht in ein alogisch logisches Prinzip eines absolut ‚ganz Anderen‘ hinein umgreifbar ist, sondern den erfahrenden und denkenden Menschen jeweils neu aus ‚schwindelnden Höhen‘ hinunter-weist in eine je neue Erfahrung ‚noch so großer Ähnlichkeiten‘ im (auch religiös und theologisch) ‚fruchtbaren Bathos der Erfahrung‘“150.

Es mag hiermit zur Genüge ausgeführt worden sein, dass Przywaras analogia entis nicht, wie klischeehaft oft angenommen, ein Prinzip natürlicher Theologie sein will, sondern sich mit allen Mitteln um die Hervorhebung des Differenzmomentes, der Distanz zwischen Gott und Geschöpf bemüht und darum auch alle Spannungseinheiten innerweltlicher Gegensätze weit aufreißt, damit der nach Gott rufende Abgrund menschlicher Erfahrung freigelegt wird. Wie Rahner schreibt, ist Przywara „der Lehrer der Unabschließbarkeit metaphysischen Denkens geworden, das er an die Grenze führt, wo es sich entscheiden muß, zu zerbrechen oder sich umzusetzen in das ‚Adoro te devote, latens deitas‘“151.

Wenn es eine ernste Anfrage an dieses Denken gibt, dann wird sie in die entgegengesetzte Richtung gehen: Ob sie die sich faktisch und souverän zeigende Nähe Gottes und das Positive der Einheit und Beziehung zwischen Gott und Mensch, sowie zwischen Mensch und Mensch nicht übergeht152? Laut B. Gertz hat der betagte Przywara im persönlichen Gespräch zugegeben, dass „in dem Denken der lateranensischen Analogie auch eine geradezu dämonische Versuchung“ lauert.

„Sie könnte vielleicht dadurch gekennzeichnet werden, daß der Mensch in Gefahr ist, auch gegenüber einer jeweils ausbrechenden Überraschung einer unbegreiflichen Nähe Gottes der im voraus Wissende sein zu wollen, nämlich einer, der schon zuvor und für immer um eine je größere Unähnlichkeit und Ferne Gottes zu wissen meint. Liegt nicht vielleicht auch ein dämonischer Trotz in dem doch aus Demut gesprochenen Wort Augustinus: ‚Du, magst Du auch sagen: Freund, ich doch bekenne: Knecht!‘?“153

1.2.4 Theologia crucis et tenebris

Das 1932 erschienene Werk Analogia entis I gilt als Przywaras Hauptwerk, in dem sein formales metaphysisches Denken seinen Höhepunkt erreicht. Diese Veröffentlichung markiert aber auch den schon erwähnten signifikanten Wendepunkt in Przywaras Gesamtwerk. Die Sorge um die Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Welt bleibt weiterhin bestimmend. Przywaras titanisches Ringen um die Ausarbeitung der Formel der analogia entis kann aber als eine Beweisführung der Unmöglichkeit verstanden werden, das christliche Verhältnis zwischen Gott und Welt in metaphysischer Sprache auszudrücken. Die religiös-mystische Dimension wird immer stärker. Vollzog sich Przywaras Thomasinterpretation und sein metaphysisches Denken von Anfang an unter dem Einfluss der Tradition der theologia negativa154, so wird diese nun dominierend und die offenbarungs- und geschichtstheologischen Themen lösen die religionsphilosophischen weitgehend ab. Przywaras an metaphysischen Termini gereifter Denkansatz verdichtet sich in zwei Symbolen: Kreuz und Nacht.

Schon um 1930 ist der Entschluss gefasst: Die Frage um das Verhältnis zwischen Gott und Welt muss als „Ruf ins Kreuz“155 vernommen werden. Nur auf diesem Weg kann die Mitte zwischen Gott in der Welt und Gott über der Welt gefunden werden. Wenn Przywara in seinem letzten großen Werk Mensch (1958) das Hauptanliegen der Analogie-Methode noch einmal zu verdeutlichen sucht, dann wird es graphisch dargestellt. Die beiden Analogien, die aristotelische waagrechte und die lateranensische senkrechte, durchscheiden sich und so „steht mithin das letzte Formale von ‚Analogie‘ gleichsam im ‚Koordinaten-Kreuz‘ dieser Rhythmus-Richtungen“156. Przywaras religionsphilosophisches Ringen um die Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Welt entwickelt somit dieselbe Dynamik, die für den Mutterboden seiner Religiosität, die ignatianischen Exerzitien, charakteristisch ist157. Polarität und analogia entis scheinen Instrumente zur Verortung des christlichen Mysteriums zu sein, ähnlich dem, was über Przywaras großen Exerzitienkommentar Deus semper maior gesagt wurde: „In ‚Fundament‘ und ‚Erste Woche‘ sind die Grundlagen des Welt- und Menschenbildes gezeichnet; sie sind aber nicht mehr als der Boden, in den das Kreuz Christi eingesenkt wird“158.

Die je größere Glorie Gottes, auf die Przywaras Denken der analogia entis zielt, kann immer vom Menschen als eine Steigerung irdischer Pracht und Stärke verstanden und auf Gott projiziert werden. So stellt Przywara unmissverständlich klar, dass die Größe Gottes die Größe einer Liebe ist, die dem Menschen gerade als Torheit und Schwachheit vorkommt. Die einzige Sichtbarkeit dieser Liebe ist der menschgewordene Gott, dessen irdische Existenz wesenhaft unter dem Schatten des Kreuzes sich vollzieht und dem Hochmut der sündigen Existenz entgegentritt159. Nur durch die Hingabe an die verborgene Gottheit wird der Mensch der unermesslichen Glorie der verborgenen Gottheit teilhaft160.

Das Mittel schlechthin ist dazu „das Mysterium des Kreuzes gegen alle ‚ismen‘“. In dieser Hinsicht schließt sich der Jesuit dem Anliegen Martin Luthers an. „Zurück zum Kreuz Luthers“ gilt für alle, da es von allen verlangt, die menschlich-erbsündigen Konstruktionen aufzugeben und sich in das Mysterium der erlösenden Liebe hinein zu geben, „von Protestanten aus ihren Idealismen heraus, von Katholiken aus ihren Gloriolismen heraus“161.

Wie M. Zechmeister schreibt:

„Nicht mehr das über sich hinausverweisende Gleichnis wird im Alterswerk Przywaras das letzte sein, sondern der klaffende Widerspruch. Indem Przywara das Scheitern eines wie immer errungenen denkerischen Ausgleichs durchleidet, reduziert sich sein theologischer Ansatz immer mehr in eine theologia crucis. Allein das Kreuz, als Zeichen des Widerspruchs, als das ‚mysterium absconditum sub contario‘ ist Zeichen der Einheit zwischen Gott und Welt“162.

Die Paradoxie des Kreuzes besteht in diesem Ineinsfall von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit Gottes163. Die ignatianische Umkehr der Perspektive, die in der ersten Woche der Exerzitien empfohlen wird, bedeutet für Przywara „das Setzen der Nacht“ (er spricht von „Nykto-Thetik“)164. Das Betrachten aller Dinge im Licht Jesu Christi besagt nicht eine einfache Zunahme an lichter Erkenntnis, sondern eine Begegnung mit dem dunklen Skandal der Mensch- und Kreuzeswerdung Gottes und bedingungsloser Dienst, liebende Hingabe in die Nacht der Welt und in die Nacht Gottes hinein165, im Geiste des hl. Ignatius und noch mehr der Nachtmystiker des Karmel166.

Der Mensch wird durch die Gegensätzlichkeit der Wirklichkeit in die letzte Nacht des Nichtverstehens und der Haltlosigkeit hineingestellt. Und erst in diesem „Stand in Nacht“167 erfährt er Gott als den unbegreiflichen Wirklichkeitsgrund. Die Nacht der Welt ist ein Medium der Offenbarung des Lichtes Gottes, das den Menschen blendet und ihm als Finsternis, als dunkle Nacht vorkommt. Das Gottgeheimnis der Welt muss „aufdunkel[n]“168. Gott und Mensch sind sich am nächsten in der letzten Nacht, da der Mensch sich in ihr dem unbegreiflichen Gott gänzlich hingeben kann. So ist diese Nacht „ein wahres, aber dann unerhörtes, geheimnisvoll unverstehbares Teilhaben an der ‚hell-lichten Finsternis‘, wie Dionysius den arkanen Namen Gottes nennt“169.

In seiner kleinen Schrift Summula, die auf Przywaras theologische Vorträge während der letzten Kriegsjahre zurückgeht, zeichnet er seine Methode als einen Prozess. Der Weg der Gotteserkenntnis führt von einer theologia directa positiva, die eine theologia lucis der geradlinigen Erfassung Gottes in Bild und Gleichnis ist, zu – da sich die Bilder und Gleichnisse doch widersprechen – einer theologia indirecta dialectica, die eine theologia tenebrarum ist. Als eine theologia negativa sagt sie, was Gott nicht ist. Aber ausgerechnet als solche ist sie zugleich eine theologia excessus, eine Theologie des göttlichen Überschwangs über allem, was über Gott gedacht oder erfahren werden kann. Jede geradlinige Erfahrung oder Erahnung Gottes muss durch das Widersprüchliche in die Nacht hinein, um in der Nacht Gott als den je immer größeren Gott zu erfahren.

„Gott ist dieses Supra, dieses je neu, je größere, je unfaßlichere Über schlechthin. Als dieses Über überkommt und überfällt und überschattet Er jeweils neu und neuer, groß und größer, unendlich und unendlicher, unfaßlich und unfaßlicher, unsäglich und unsäglicher, – überkommt und überfällt und überschattet Er Seinen Menschen im Wirbel der Widersprüche, in der Finsternis und Leere des Nichts, – überkommt, überfällt und überschattet Er ihn mitten hinein in den Überschwang Seines Über: ihn zu überschwenden in den Überschwang Seiner hochzeitlichen Liebe“170.

 

„Denn Tod und Auferstehung sind eins“171, schreibt Przywara. Theologia tenebrarum ist mit der theologia excessus unauflöslich verbunden, aber so, dass sie den letzten, für den Menschen unüberbrückbaren Abgrund aufdeckt, der sich zwischen ihm und dem Gott des Lichtes und des Lebens erstreckt.

Es ist eine bisweilen exzessiv negativierende Denkfigur. In seinem Kampf gegen jede Form der Identität, gegen die evacuatio crucis und für das Paradoxe des Kreuzes als Unterscheidungskriterium jeder Aussage über Gott und Welt, zerstört Przywaras Denken alles Geformte172, als ob er sich todesmutig in alle Grausamkeiten der Welt hineinwagen oder Gott herausfordernd von der Tempelzinne hinabstürzen wollte. „Je ungeschminkter die Grenzen menschlicher Sterblichkeit beschrieben, je ernster die Ausweglosigkeit der Situation betrachtet wird, desto tiefer vermag sich die Gegenwart Gottes zu offenbaren“173.

1.2.5 Denken zwischen Dialog und „ungerechter Klassifikatorik“

Schon beim ersten Blick auf Przywaras Schrifttum sticht heraus, dass sein Denken sich grundsätzlich in Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen, historischen oder zeitgenössischen Gesprächspartnern ereignet. Die Palette von historischen oder zeitgenössischen Theologen, Philosophen, Vertretern des kulturellen und politischen Lebens, mit denen Przywara dialogisiert, streitet und sie in Zusammenhang mit unzähligen anderen in Verbindung bringt, oft quer durch alle Epochen und Denkschulen hindurch, ist außerordentlich breit, wenn auch zuletzt eklektisch. So urteilt Rahner, dass „das Eigenartige, fast Einmalige des Werkes Przywara“ gerade darin besteht, „daß er – ‚katholisch‘ ist im wirklichen, lebenslangen Dialog mit der Vergangenheit und Gegenwart, mit der ganzen abendländischen Geistesgeschichte von Heraklit bis Nietzsche: er öffnet sich allen und kann so allen geben“174.

Wie Przywara selbst sagte, ging seine Arbeit durch „Beziehungen zu Lebenden“175. Zu seinem Phänomen gehört, dass er vor allem in der Zwischenkriegszeit als katholischer Theologe „der unheimlich hellsichtige Gesprächspartner fast aller bedeutsamen Theologen und Philosophen seiner Zeit“176 war, sei es durch seine Rezensionen und Besprechungen, sei es durch seine unermüdliche Vortragstätigkeit, die ihren Höhepunkt in den Jahren 1928 und 1929 erreichte, als Przywara an den Davoser Hochschulkursen mitwirkte, die solche Protagonisten der damaligen Zeit wie Albert Einstein, Franz Oppenheimer, Ernst Cassirer, Léon Brunschvicg, Nicolai Hartmann, Lucien Lévy-Bruhl, Wilhelm Pinder, Martin Heidegger, Paul Tillich und andere zusammenführten177. Als bahnbrechend muss die interkonfessionelle Debatte zwischen Przywara und Barth bezeichnet werden. Auch wenn sich diese Diskussion unglücklicherweise in den Missverständnissen um den Terminus analogia entis verrann, so bezeichnete Josef Pieper Przywara als einen „der Wiederentdecker des kontroverstheologischen Gesprächs in Deutschland“178.

Dieser Anstrengung, im Geist der Polarität und Analogie alle möglichen Elemente der sich vor ihm erstreckenden Geisteslandschaft zu begreifen, zu analysieren und zu verorten, um ins Gespräch mit der Welt zu treten, wird man etwas Titanisches beimessen müssen179. Przywara zieht in diesen lebhaften Diskurs, um inmitten der vielen Stimmen die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gott und Welt, nach dem Einen und Ganzen zu stellen. Dazu begibt er sich an die „Komplikationsstellen der Wirklichkeit“180 und dialogisiert mit der Gegenwart, „wo sie nicht nur an sich interessant ist, sondern die Forschenden plagt und wo die Schmerzen der kreißenden Zeit eine möglich glückhafte Geburt erhoffen lassen“181.

Zwei Titel seiner Aufsatzsammlungen bringen zum Ausdruck, wie Przywara seine Sendung verstand. Die Aufsätze aus den Jahren 1922–1927 werden unter dem Titel Ringen der Gegenwart herausgegeben, da er in das Ringen innerhalb des Katholizismus und des Geisteslebens im Allgemeinen „in weitem Umfang hineingezogen“182 wurde. Noch deutlicher kommt es zum Tragen in der Überschrift der Sammlung seiner nach dem II. Weltkrieg verfassten Artikel In und gegen. Das „besondere Zwielicht des Heute einer Katastrophe, die noch nicht ausgetragen ist, und einer neuen, die dräut, zwang den Verfasser zu einer besonderen Betonung von Scheidung und Unterscheidung“. So will er ganz „liebevoll“ in den jeweils anderen Standpunkt „einsteigen“ und in ihm „untergehen“, um dann die letzte Scheidung und Unterscheidung zu vollziehen. „Aber das Tantum-quantum, das Soweit-Als der Scheidung und Unterscheidung ist für ihn das ‚In‘ des ‚Einsteigens“183. Przywara ist kein kühler Observator. Die absolute Voraussetzung seines Urteilens und Scheidens ist sein Mit-, ja Untergehen in dem, was die Zeit bewegt184.

An dieser Stelle ist es aber unabdingbar, nach der Methode zu fragen, die Przywara überhaupt ermöglichte, das Übermaß an Literatur und in den Gesprächen und Debatten steckenden Ansätzen zu bewältigen und sich schöpferisch anzueignen. Der wichtigste methodologische Ansatz, sich mit dem Werk eines Autors auseinanderzusetzen, bestand in der von Przywara in den ersten Jahren seiner Tätigkeit herausgearbeiteten Methode einer „immanenten Synthese“. Przywara pflegte die entscheidenden Stellen aus allen Werken, „die sogenannten ‚Kernstellen‘, je auf einem Zettel herauszuschreiben“, um dann unter diesen „letzten Aspekten“ den „immanenten Bezug zueinander“ aufzuzeigen185. Es geht ihm also um keine Anthologie, sondern darum, das dem ganzen Werk innewohnende System herauszustellen, ein „nicht rational statisches System, sondern System einer immanent schwingenden Rhythmik“186. Przywaras Lektüre gleicht einem Abhorchen, ob und wie sich bei den vielen Autoren unter den zeitgebundenen Begriffen und Themen die eine Frage nach Gott und Welt kund tut. „Es kommt darauf an, in der geschichtlich bedingten Sicht und Sprache des einen Denkers das Denken des anderen wiederzufinden, wie es z.B. aus dem F-Dur-Schlüssel seiner geschichtlichen Bedingtheit in den as-Moll-Schlüssel der geschichtlichen Bedingtheit des anderen über-tragen ist“187. Hinter diesem methodologischen Vorgehen steht der Ratschlag von Przywaras erstem Philosophie-Lehrer Josef Fröbes SJ, „in reiner Sachlichkeit (ohne pastorale oder apologetische Neben-Absichten) jeden Autor (sei er noch so anti-christlich oder antireligiös) ‚besser verstehen zu wollen, als er selbst sich versteht‘, […] um dann erst die Auseinandersetzung mit ihm zu beginnen“188.

Je größer die Bewunderung für das Kreative der hier beschriebenen Methode Przywaras wird, desto stärker treten auch die mit ihr verbundenen Risiken und Mängel in Erscheinung. Wie Przywara selbst beteuert, muss in der Situation der Auflösung des Bisherigen sich die Tradition als schöpferische Macht bewähren. Ausgerechnet an den Katholizismus ergeht kein „Gerufensein, seine Schätze wie in einem Museum auszustellen. Es ist das eigentliche Gerufensein: im Tode Leben zu wirken“189. Er sucht in den Texten intuitiv nach den entscheidenden Einsichten, in denen das Gültige durchbricht190. Das Katholische muss „Aug in Aug“ mit den Bedrohungen gedacht werden, wie sich Przywara oft auszudrücken pflegt191. So handelt es sich bei seiner Beschäftigung mit den Texten nicht um eine Exegese, sondern vielmehr eine „schöpferische Aneignung“192 des jeweiligen Denkansatzes, der selbstständig oder sogar eigenwillig weitergedacht wird. Den Vorwurf, der historisch-kritischen Redlichkeit nicht gerecht zu sein, kann man allerdings nicht von der Hand weisen. Umso mehr, da Przywara seine Interpretationen nicht selten als die einzig objektiven darstellt.

Der formale, konstruktive Denkimpetus Przywaras verbindet sich oft mit leidenschaftlicher Suche nach den Polaritäten und Gegensätzen zwischen den Autoren, was dazu führt, dass seine Werke an gewaltige Konstruktionen erinnern, in denen die einzigen Autoren als Repräsentanten bestimmter Ideen in dialektische Paare getrieben werden, um die Spannung oder die Dialektik zwischen ihnen aufzuzeigen. „Er denkt weniger mit ‚Begriffen‘ als mit ‚Systemen‘ und geistigen Ganzheiten, die bei ihm den Platz des Einzelbegriffs einnehmen“193. Darin liegt auch die Versuchung einer gewaltsamen Schematisierung, bei der sich die einzelnen Inhalte, aber auch die konkreten Autoren, in rein formale Gegenpole auflösen. Im Zuge der Beschäftigung mit der Überfülle von Autoren wird Przywara seinem Gegenüber nicht immer gerecht. Durch seinen erbitterten Kampf gegen jede Form von Identität und geradlinigem Denken stilisiert Przywara, nicht selten durch maßlos übertriebene Formulierungen, jede Position auf eine Form von Identität194. Da, wo diese Denkform übergewichtig wird, findet kein echtes Gespräch, keine Begegnung mit einem geschichtlich realen und nicht nur formal oder mystisch stilisierten Anderen statt.

Vielleicht werden Przywaras Anspruch und seine Grenzen nirgendwo so deutlich, wie in Przywaras spätem Werk Humanitas. Auf gut über 800 Seiten wird in diesem verblüffenden Werk eine Überfülle von Autoren, Gedanken, Symbolen und Geschichten in ihren Gegensätzen gesichtet und zueinander geführt, um so das Bild der Zeit zu zeichnen. In seiner Rezension schreibt der jüdische Philosophieprofessor Fritz Kaufmann, dass Przywara neben genialen auch dilettantische, unverantwortliche und schlichtweg falsche Interpretationen liefert: „Große, aber auch gespenstische und verzerrte Visionen tauchen aus dieser Nacht und diesem Lodern der Seele auf“, die man „halb schmerzlich, halb belustigt begreift“195. Darüber hinaus ist dieses Werk kein wahres Ganzes und keine echte Spannungseinheit, da die vielen Standpunkte nur durch gewaltige Titel zu einer künstlichen Einheit zusammengeklammert werden. „Es ist vielleicht aber auch so, daß diese verwirrende Vielheit ein tiefsinniger Reportagetrick ist, den Grundcharakter der Zeit – ihren Mangel an Einheit – bloßzustellen“196. Es sei ein chaotisches und zerrissenes Bild der Zeit in einem qualvollen und doch missglückten Werk, dessen Bedeutung sich als Ausdruck von Przywaras Theologie des Kreuzes und als Aufschrei der zerrissenen Welt enthülle.

Schließen wir uns dem Urteil Rahners an, um die Stärken, aber auch die Grenzen und Gefahren von Przywaras Denken im Gespräch konzise darzustellen.

„Przywara mag manchmal selbst der erschreckenden und unheimlichen Kunst seiner ‚universalen Klassifikatorik‘ (Balthasar) erliegen und ungerecht gegen die werden, deren wirkliche oder bloß vermeintliche Systematik er zu Paaren treibt in den Abgrund des Geheimnisses Gottes hinein, er mag in Versuchung sein, die Destruktion aller Systeme selbst wiederum zum System zu erheben. Aber weil seine Radikalität eben doch die der Liebe sein will, die die Torheit des Kreuzes und die Schande der wehrlosen Liebe annimmt, darum – kann er in seiner Radikalität doch auch der Lehrer einer kommenden Zeit sein, mag sie äußerlich bürgerlich bleiben und so erst recht gewarnt werden müssen, mag sie in Abgründe stürzen, die ihr als Abgründe Gottes verkündigt werden müssen, in denen die Unbegreiflichkeit des Erbarmens wohnt“197.

1.2.6 Exkurs: Perplexität

Im oben Geschriebenen ist schon mehrmals angeklungen, das Przywara ein schwer einzuordnendes Phänomen war, ein Mann sui generis, eine eigenwillige Person und ein extremen Schwankungen seiner psychischen Kondition ausgesetztes Genie. So lohnt es sich, einen Blick auf die persönlichen und plastisch beschriebenen Eindrücke seiner wichtigsten theologischen Gesprächspartner der 20er Jahre, Karl Barth und Eduard Thurneysen, zu werfen, die etwas von der Atmosphäre einer Begegnung mit Przywara wiedergeben.

Am 30. September 1923 schreibt Thurneysen an Barth, um ihn auf Przywaras Schrifttum aufmerksam zu machen:

„Verschaff dir doch Heft 11 der ‚Stimmen der Zeit‘, August 1923, Herder Freiburg. Dort ist ein merkwürdig scharfsinniger und ausführlicher Aufsatz über uns von Seiten des katholischen Partners. Er ist interessant, weil er den katholischen Standpunkt sehr deutlich sichtbar macht. Es fallen dabei wesentliche und eingehende Bemerkungen zu Augustin. Es ist ein Kenner, der da redet. Wir kommen gut weg, wenn auch unser eigentliches Anliegen nicht gesehen ist“198.

Etwa fünf Jahre später, im Februar 1929 in Münster, kam es zu einer persönlichen Begegnung und Debatte zwischen Barth und Przywara199. Wenige Tage nach dem „zweistündigen Vortrag […] über die Kirche, der kunsthandwerklich betrachtet, einfach ein Leckerbissen, ein Meisterstück war“, an den sich ein Seminar anschloss, in dem Przywara „nochmals zwei Stunden brilliert [hat] in Beantwortung unserer [der Studenten] sorgfältig vorbereiteten Fragen“, sowie zwei Abende persönlicher Auseinandersetzung, schreibt Barth an Thurneysen, Przywara habe ihn

 

„‚überströmt‘, wie nach seiner Lehre der Liebe Gott, wenigstens innerhalb der katholischen Kirche, die Menschen nur so überströmt mit Gnade, sodaß die Formel ‚Gott in-über Mensch von Gott her‘ das Stenogramm seiner Existenz und zugleich die Auflösung aller protestantischen und modernistischen, transzendentischen und immanentistischen Dummheiten und Verkrampfungen im Frieden der analogia entis bedeutet“200.

Die darauffolgende Schilderung seiner persönlichen Eindrücke nach der Begegnung ist – abgesehen von seiner feinen Ironie – ein wichtiges zeitgeschichtliches Dokument über den Ton und die Art von Przywaras Disputen, aus denen seine Schriften hervorgegangen sind. Diese Zeilen seien hier, bis auf wenige Nebenbemerkungen, unverkürzt wiedergegeben:

„Du mußt dir ein kleines Männlein mit einem großen Kopf vorstellen […] – ein Männlein, das auf alles, aber auch alles, was man ihm sagt, alsbald eine immer irgendwie gescheite und die Sache in irgendeine Weise treffende Antwort wohldisponiert vorzutragen weiß, dem man zusieht wie einem Eichhorn, das sich von Wipfel zu Wipfel schwingt, immer das Tridentinum, das Vaticanum hinter sich, Augustinus auswendig und inwendig, Thomas, Duns Scotus, Molina usw., immer die Kirche, die Kirche, die Kirche, aber eben wirklich die um den festen Pol des immer manifester werdenden Dogmas herum höchst lebendig und mannigfaltig sich bewegende Kirche, deren sichtbare Einheit er selbst zu bilden scheint […] dazu nun historisch, philosophisch, psychologisch einfach ‚durch‘, aber auch in der Bibel notorisch zu Hause, ausgerechnet Paulus sein bevorzugter Apostel, endlich aber auch seiner eigenen Fragwürdigkeit wohl bewußt (‚Jesuit kann man nur auf der Todeslinie sein‘!!!), sein letztes Diskussionsvotum im Seminar schließend mit dem schönen Credo: Wir Menschen sind alle Schlingel! (als Antwort auf unsere Frage, wie es etwa in Bezug auf ‚Gott in-über Mensch von Gott her‘ mit der Sünde stehen möchte) faktisch auch zu Konzessionen bereit, nicht in bezug auf Dogma natürlich, aber in bezug auf seine Formulierungen, deren ihm immer neue und immer noch schönere zu entströmen scheinen. […] Zwischen allem aber auch wieder Augenblicke einfacher, tiefer Meditation über die wunderbaren Wege Gottes, die sich in dem allen offenbarten, Augenblicke, wo man einfach einen lieben frommen Mann oder etwa einen Boller meint reden zu hören. Sein Lieblingswort ausgerechnet das von [Hermann] Kutter so geschätzte von der spielenden Weisheit Sprüche 8. Und dann wieder zu jeglichem guten Tun, auch zu einem Trunk Bier sehr wohl zu haben und unsere Kinder, die auf den leibhaftigen Jesuiten von der Schule her sehr gespannt waren, durch seine Freundlichkeit entzückend. Ja, Eduard, was war das wohl? Und was ist es eigentlich mit dem Katholizismus, der allen unseren Reformationsfeiern zum Trotz so alert auf dem Plane ist? Wars ein Engel des Antichrist oder ein auserwähltes Rüstzeug des Herrn? Der Großinquisitor oder wirklich ein Jünger des ‚Völkerapostels‘? Oder beides zugleich oder keines von beiden, sondern schließlich auch nur wieder ein Exemplar von der unerschöpflichen unausrottbaren Spezies Mensch, das nun eben auf diese Weise aus dem letzten Loch pfeift? Nicht wahr: ‚da staunt der Fachmann und der Laie wundert sich‘, und ich empfinde es irgendwie als sehr gesund, über ein Staunen voll Abscheu und Bewunderung vorläufig gar nicht weit hinaus gekommen zu sein. Es gibt sichtlich auch diese Möglichkeit: Leute, die unsereins auch unter Berufung auf Gott (mit allem kutterischen Nachdruck!), auch im Namen der Kirche, auch mit der Bibel unter dem Arm, auch (und sehr viel besser) wissend um Tod und Teufel, Zeit und Ewigkeit, auch im Blick auf den wirklichen Menschen von heute … nicht mehr wie vor 400 Jahren verbrennen, aber einfach aus einer letzten Höhe herunter auslachen. Ists raffinierteste Welt, die da lacht, oder ist doch auch etwas darin von dem Lachen dessen, der im Himmel wohnet [vgl. Ps 2,4]?“201

Dieser Perplexität muss eine Przywara-Arbeit Rechnung tragen.

1.3 Das christlich-jüdische Verhältnis in Przywaras Welt und Denken

Przywaras Welt der Brüche und Gegensätze und sein denkerisches Ringen ist der Raum seiner Begegnung mit Juden und mit dem Judentum. Diese ausgiebige Darstellung seiner existenziellen Verortung und seiner Denkfiguren ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass das „Phänomen“ Przywara in all seinen Schattierungen wenig bekannt ist. Viel wichtiger ist, dass das christlich-jüdische Verhältnis bei Przywara weit mehr als einen abgesonderten Topos darstellt, den man anhand punktueller Begegnungen und Äußerungen analysieren kann. Es muss als eine Dimension seines ganzen Werkes betrachtet werden, sowie es eine Dimension seiner Welt war und als solche in sein Denken eingegangen ist.

Die jüdischen Mitbürger gehörten von Anfang an zu Przywaras Umfeld, auch wenn die verschiedenen religiösen oder ethnischen Milieus eher neben- als miteinander lebten. Über seine Heimatstadt schreibt Przywara, dass sie überwiegend katholisch war, „aber so, daß seine evangelischen Einwohner als die Kulturschicht galten und die jüdischen Einwohner als die Handelsschicht“202. In dieser Bemerkung spiegelt sich der imposante soziale Aufstieg der deutschen Juden im „langen“ 19. Jahrhundert wider. Wohnte die jüdische Bevölkerung der deutschen Staaten im 18. Jahrhundert noch in überwiegend verarmten Verhältnissen in kleinen Ortschaften, so war sie schon um 1850 zum großen Teil urbanisiert und befand sich im sehr effektiven ökonomischen Aufschwung. Die Gleichstellung und Erlangung aller bürgerlichen Rechte, die in Österreich-Ungarn 1867 und in Preußen und in den meisten deutschen Staaten 1869 erfolgte, schuf eine für die damaligen europäischen Verhältnisse sehr gute und verlässliche Rechtslage, was eine sehr schnell fortschreitende Assimilierung der jüdischen Bevölkerung zur Folge hatte. Als Profiteure der Aufklärungsideale wurden die deutschen Juden zur treibenden Kraft der Moderne, Industrialisierung und kapitalistischen Wirtschaft und trugen zur liberalen Atmosphäre der Großstädte bei203. Wie weitgeschritten die deutsch-jüdische Symbiose war, zeigte sich angesichts des I. Weltkrieges, als die überwältigende Mehrheit der deutschen Juden einen für sie selbstverständlichen deutschen Patriotismus und eine Opferbereitschaft an den Tag legte, sowie in den zahlreichen ethnischen Konflikten in Mitteleuropa die deutsche Partei ergriff204.

Dieses weitgehend harmonische deutsch-jüdische Miteinander trübte sich jedoch nach der für die meisten Deutschen völlig unerwarteten Niederlage im I. Weltkrieg zunehmend. Die antisemitischen Töne, die nie verstummt sind, wurden immer rauer und lauter, um 1933 zur Staatsräson zu werden. Dabei handelte sich um eine neue Art des Antijudaismus, der nicht mehr theologisch, sondern nationalistisch und rassistisch begründet war. Das Judentum wurde als Bedrohung für das Germanentum beschimpft. Glaubten sich die meisten Juden als integraler und mitkonstitutiver Teil der deutschen Gesellschaft und des Geisteslebens, ja als Deutsche, so mussten sie erleben, dass ihnen im veränderten Klima zuerst das Deutschsein, dann aber auch das Menschsein abgesprochen wurde. Binnen nicht einmal zweier Jahrzehnte beschritten die deutschen Juden den kollektiven Weg von einer Ernüchterung angesichts der gescheiterten Assimilation über den Verlust der bürgerlichen Rechte bis zur physischen Vernichtung. „Ich staune, daß Sie in dieser Luft atmen können“205, schreibt 1949 Gershom Scholem an Hans-Joachim Schoeps, einen der wenigen jüdischen Intellektuellen, die sich entschlossen haben, unmittelbar nach dem Ende des II. Weltkrieges nach Deutschland zurückzukehren. Dieser Raum der spezifischen Begegnung zwischen Juden und Christen sowie Juden und Deutschen ist sprichwörtlich untergegangen.