Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 01: Oma Vettel

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Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 01: Oma Vettel
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

M.E. Lee Jonas

Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith

Band eins:

Oma Vettel

E-Book

Fantasy-Roman

Erstveröffentlichung 02. Mai 2014

3. Auflage, Juli 2015

Copyright © M.E. Lee Jonas 2013

E-Mail: emelie.jonas@web.de

Website: emelie.jonas

Nach einer Idee von: Al Lowve

Korrektorat: Claudia Heinen

Zeichnungen & Skizzen: M.E. Lee Jonas

Umschlags- & Covergestaltung: Juliane Schneeweiss

Qindie-Siegel: http://www.qindie.de

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Ein ganz normaler, ungewöhnlicher Geburtstag!

Kapitel 2

Nach dem Vergessen und vor der Erinnerung

Kapitel 3

Der Gedankenstein kehrt zurück

Kapitel 4

Das Wiedersehen

Kapitel 5

Havelock. Zurück nach Hause

Kapitel 6

Plötzlich Prinzessin!

Kapitel 7

Gute Hexe. Böse Hexe

Kapitel 8

Eine sehr lange, sehr seltsame Party

Kapitel 9

Schöne Weihnachten und ein kurioses Orakel

Kapitel 10

Eine Hausbesichtigung mit haarigen Folgen

Kapitel 11

Oma Vettel verschwindet

Kapitel 12

Linus und der Falke vom Porpoise Bay

Kapitel 13

J.J. betritt den dunklen Phad

Kapitel 14

Altenstadt

Kapitel 15

Das Zentrum des dunklen Phads

Kapitel 16

Eine neue Mission

Kapitel 17

Lincolns alte Heimat

Kapitel 18

Die Deponie

Kapitel 19

Bingo!

Kapitel 20

Im Reservat der Gluggs

Kapitel 21

Ein Drache in der Arena

Kapitel 22

Sander

Kapitel 23

Reise nach Rosaryon

Kapitel 24

Die schwarze Prinzessin im Amtsgebäude

Kapitel 25

Oma Vettel kommt frei!

Kapitel 26

Wenn die Zeit stehen bleibt

Kapitel 27

Alte Liebe rostet nicht!

Kapitel 28

Marlas Entscheidung

Kapitel 29

Ein unerwarteter Abschied

Epilog

Copyright & Impressum

Buchempfehlungen

Danksagung

Es existiert eine riesige, gigantische, in Dunkelheit liegende Galaxie, in der einfach alles, auch das aller, aller Undenkbarste und aller, aller Unmöglichste denkbar und möglich ist! Sie ist nicht außerordentlich weit weg, manche würden sagen: »Um die Ecke.« Das Einzige, was man benötigt, um diese schöne, unglaubliche, wundersame, tolle, grandiose, besondere, aberwitzige, fantastische, magische, verrückte, bombastische, einmalige, abgefahrene, megacoole Super-Galaxie voller unendlicher, absonderlicher Wunderdinglichkeiten zu erreichen, ist eine miniklitzekleine Portion »Vorstellungskraft«.

Ich danke M.E. Lee Jonas für diese fantastische Umsetzung meiner kuriosen Idee. Du hast allem eine Seele gegeben. Ich danke meiner Frau und meiner Tochter, die es mit mir, dem »alten Spinner«, aushalten müssen. Und ich danke Martina, dem ersten Fan von J.J. Dein Zuspruch hat unendlich viel geholfen.

(Al Lowve, 02 Mai 2014)

Prolog

Es gibt Orte in dieser Welt, von denen man sagt, sie seien mystisch und voll unerklärlicher Magie. Man glaubt, es gäbe dort Pforten, hinter denen sich fantastische Reiche von Zauberern, Elfen und Feen befinden. Wir bezeichnen sie als Mythos. Legenden, die wir Menschen uns erzählen, damit wir einen Ort haben, zu dem wir unsere geheimsten Wünsche und Träume schicken können. Und genauso lang, wie wir uns diese Legenden erzählen, suchen wir diese Reiche und verzweifeln, weil wir angeblich immer scheitern. Wir vergessen mit der Zeit, dass wir sie längst betreten haben, denn als Kinder lebten wir noch mitten in dieser Welt voller Wunder und Magie. Aber irgendwann sind wir plötzlich erwachsen und blind für den Zauber, der uns täglich umgibt.

Wir vergessen ihn und die Erinnerung an unsere Träume verblasst.

Doch es gibt diese Orte hier in unserer Welt. Sie liegen auch nicht im Verborgenen oder am anderen Ende der Welt.

Das Magische ist nicht immer in weiter, unerreichbarer Ferne. Für irgendjemanden ist in diesem Augenblick das Ende der Welt genau dort, wo du gerade bist. Dieses Reich voller Zauber und Magie liegt direkt vor dir. Du musst dich nur daran erinnern! Dann öffnen sich die Tore und du kannst es wieder betreten.

Einer dieser wundervollen Orte in unserer Welt ist Havelock, ein kleines Hafendorf im Norden der Südinsel Neuseelands, die am Ende des Pelorus Sounds liegt. Die Magie dieses Ortes ist so offensichtlich, dass es keine großen Worte braucht, um sie zu beschreiben. Sie ist dort allgegenwärtig.

Man kann sie fühlen, schmecken und riechen.

Havelock liegt am versunkenen Tal in den Marlborough Sounds, das Neuseeland in zwei große Inseln teilt. Die Einwohner dieses kleinen Hafendorfes sind schnell gezählt, da Havelock vom Festland aus nur mühsam zu erreichen ist. Das Leben dieser Menschen ist einfach und setzt eine geruhsame Gesinnung voraus, mit der sich die Wenigsten in unserer schnelllebigen Welt arrangieren möchten. Große Industriegebiete sucht man hier vergeblich. Die Einwohner leben von der Forstwirtschaft und ihren ausgedehnten Muschelfarmen, die in dem tiefblauen Wasser des Meeres liegen.

 

Es ist ein zauberhafter, unberührter Ort und das macht ihn so außerordentlich kostbar.

Alles ist rein, pur und ätherisch. Der Sand unter deinen Füßen trägt dich sanft über endlose Strände, die von gewaltigen Felsen beschützt werden. In den Wäldern erklingen Chöre von seltener, uralter Schönheit. Der Gesang dieser Natur leitet dich sicher durch die großen Reiche der uralten Kauribäume, von denen man sagt, dass sie seit Anbeginn unserer Zeitrechnung dort stehen. Deshalb sind sie für die Bewohner Neuseelands auch heilig.

Der große Ozean, der Neuseeland umschließt, breitet seine Arme weit aus und fließt in mächtigen Strömen durch die Landschaft, um sie zu nähren. Es scheint, als hätte die Natur diesen Ort erwählt, um sich auszuruhen. Alles lebt in einer perfekten Symbiose.

Havelock ist voller unentdeckter Geheimnisse und wer dessen Boden betritt, kann sicher sein, das Tor in eine andere Welt gefunden zu haben.

In diesem Dorf lebt etwas außerhalb der Siedlungen eine alte Dame, die von den knapp fünfhundert Einwohnern nur Oma Vettel genannt wird. Sie lebt hier schon eine sehr lange Zeit und gehört an diesen Ort wie das Wasser ins Meer. An ihre seltsame Art haben sich die Menschen längst gewöhnt. Das Anwesen, auf dem die alte Dame seit knapp vierzig Jahren lebt, liegt etwas abgeschieden, am Fuße des Nydia-Walkways, eingebettet im Schoße riesiger Kauribäume. Bis heute hat noch kein anderer Einwohner ihr Haus betreten, weshalb sich auch viele kuriose Geschichten darum ranken. So wollen einige Kinder als Mutprobe versucht haben, das geheimnisumwitterte Haus zu erreichen, sind aber angeblich immer schon an der geheimnisvollen Einfahrt gescheitert. Sie erzählen, dass hinter dem großen Tor eine endlose Allee läge, die von unbekannten, wunderlichen Blumen und uralten Kauribäumen gesäumt sein soll. Die Kronen dieser mächtigen Bäume bilden, so ihre Geschichte, ein filigranes Dach, das die Sonnenstrahlen nur in eigenwilligen Formationen durchlässt. So als würde man durch einen sonnendurchfluteten Tunnel in eine andere Welt reisen.

Mark Findus, ein mittlerweile dreißigjähriger Mann behauptet, dass er zwei Stunden mit dem Fahrrad diese Einfahrt hinaufgefahren sei, und immer, wenn er sich an deren Ende wähnte und endlich an eine Abbiegung kam, diese Allee sich einfach wiederholt habe. Angeblich stand er plötzlich wieder vor dem Eingangstor und dieselbe Strecke, mit denselben Pflanzen tat sich erneut vor ihm auf. Da er nicht aufgeben wollte, probierte er es immer und immer wieder. Irgendwann war er jedoch so erschöpft, dass er umdrehte und nach Hause fuhr, da er befürchtete, sich sonst in der Dunkelheit zu verirren. Das Haus der alten Dame hat er niemals zu Gesicht bekommen. Doch noch heute erzählt er, wie frei und glücklich er sich auf dem wunderlichen Anwesen fühlte und das er es deshalb ein paar Wochen später erneut versuchte. Aber da ging das Eingangstor erst gar nicht mehr auf.

Die Erwachsenen warnen ihre Kinder vor dem kuriosen Landsitz und begründen dies meist mit den merkwürdigsten Geschichten über dessen Bewohner. Allerdings weiß niemand wirklich, was auf Oma Vettels Anwesen vor sich geht.

Trotzdem ist die alte Dame bei den Einwohnern, besonders bei den Kindern, sehr beliebt. Warum das so ist, kann ebenfalls niemand so recht erklären. Manche sagen, es läge an ihrer kauzigen, aber stets fröhlichen Art. Andere wiederum behaupten, es läge an den aufregenden Geschichten, die sie den Kindern gern erzählt. Diese handeln stets von Zauberwesen und Einhörnern, die sich nur den guten Seelen zeigen.

Auf den ersten Blick ist Oma Vettel eine völlig normale, knapp sechzigjährige Dame mit leicht untersetzter Figur und einer Vorliebe für große verrückte Hüte. Ihre außergewöhnliche Art sich zu kleiden, setzt allerdings sehr viel Toleranz voraus, denn es ist selten, dass sie etwas trägt, das auch nur annähernd zusammenpasst. Oma Vettel hat eben eine Vorliebe für schräge und extravagante Hosenanzüge in knallbunten Farben. Am meisten liebt sie die mit den riesigen Punkten darauf. Ihre ausgeflippten Hüte mit den breiten Krempen runden das absurde Modespektakel perfekt ab.

Sarah Freud und ihre Freundinnen behaupten felsenfest, dass sie diese Hüte nur zur Ablenkung trage. Sie erzählen, sie hätten sie einmal ohne Kopfbedeckung im Auto gesehen und da hätten ihre weißen, schulterlangen Haare geblinkt und dabei die Farbe gewechselt! So wie diese bunten Discoleuchten. Da es jedoch unzählige dieser spektakulären Geschichten über Oma Vettel gibt, nehmen die Einwohner solche Berichte mittlerweile hin, ohne nach Beweisen zu suchen. So ranken sich mindestens einhundert verrückte und kuriose Märchen um Ophelia Vettel Penelopé Utherina Gräfin von Winterhardt, wie Oma Vettel mit richtigem Namen heißt. Die meisten Geschichten sind jedoch reine Fantasie, da die Wahrheit niemand kennt.

Oma Vettel wohnt tatsächlich an einem verwunschenen Ort, denn sie ist eine mächtige Hexe. Dass sie damals diesen Ort als ihr Zuhause wählte, ist alles andere als Zufall, denn in Havelock befindet sich das Tor nach Xestha, dem dunklen Phad der mächtigen Schatten. Das ist der Teil des Zauberreiches, in dem die bösen Hexen leben und der für uns Menschen nicht sichtbar ist.

Ja, ihr habt richtig gelesen!

Diese nette alte Dame ist eine böse Hexe und ihr Name im Zauberreich ist Vettel. Keine andere Hexe heißt so, da jedes Wesen eines Zauberphads bei seiner Geburt einen eigenen, magischen Namen bekommt. In dem Moment, wenn ein Zauberwesen das Licht der Welt erblickt, erscheint sein Name im Spiegel der Tore und wird im Register des jeweiligen Phads eingetragen. Der weltliche Name, also der, den die Eltern für ihr Kind aussuchen, wird im Zauberreich nicht benutzt. Natürlich haben die Familien der beiden Phade auch Nachnamen, im Zauberreich sprechen sich jedoch alle nur mit dem Namen an, den der magische Spiegel ihnen zugeteilt hat.

Da die Hexe nun in der realen Welt lebt und ihr Familienname nebst Titel viel zu lang ist, stellt sie sich bei ihren Freunden, wie sie gern alle Menschen bezeichnet, einfach als Oma Vettel vor. Warum das so ist und woher dieser eigensinnige Name stammt, bleibt ein Geheimnis. Über ihre Herkunft weiß niemand wirklich etwas, aber das ist den Einwohnern auch nicht mehr so wichtig. Als sie vor vielen, vielen Jahren dieses alte Haus kaufte, war sie gerade um die zwanzig Jahre alt und hatte nichts außer einem alten Reisigbesen und Timothey, ihren kleinen Sohn dabei. Begleitet wurden sie von Broaf, ihrem Diener. Die Einwohner erfuhren nur, dass sie eine Gräfin sei, deren Ehemann tödlich verunglückte und die nach dieser Tragödie in der Abgeschiedenheit von Havelock zur Ruhe kommen möchte. Das Anwesen, das sie kaufte, gehörte vorher einem reichen Unternehmer, der sich den Dorfbewohnern nie zeigte und es nur als Feriendomizil nutzte.

Die junge Frau lebte sich schnell in die Gemeinde ein, blieb privat jedoch gern für sich. Ihr Sohn Timothey wuchs ganz normal mit den anderen Kindern von Havelock auf und verbrachte hier eine vollkommen unbeschwerte Kindheit. Er sprach mit niemandem darüber, dass seine Mutter anders ist. Timothey selbst hatte keine magischen Fähigkeiten und lehnte die Zauberei stets ab. Als er und seine Frau Cassy, die von der anderen Seite Neuseelands stammte, vor knapp fünf Jahren bei einem Autounfall tödlich verunglückten, trauerte die gesamte Ortschaft mit Oma Vettel mit. Doch die Zeit ließ die Wunden verheilen und der Alltag hat die Gemeinde längst wieder eingeholt.

Kapitel 1
Ein ganz normaler, ungewöhnlicher Geburtstag!

Die Weihnachtsfeiertage mit ihren fröhlichen Paraden sind gerade vorüber und das Jahr 2004 wurde bereits außerordentlich freudig begrüßt. Die Sommerferien neigen sich dem Ende zu und allmählich kehrt die gewohnte Routine in die kleine Ortschaft ein. Die Sonne zeigt sich schon seit zwei Wochen von ihrer besten Seite und alle Bewohner von Havelock freuen sich auf die allabendlichen Grillpartys, die abwechselnd in den wunderschönen Gärten der Einwohner oder am Strand stattfinden.

In Neuseeland ist jetzt Hochsommer. Es ist die Jahreszeit, in der man Oma Vettel im Ort selten zu Gesicht bekommt. Sie hat den Einwohnern erzählt, dass sie das warme Wetter in ihrem Alter nicht mehr so gut vertrage und sich deshalb lieber auf ihrer schattigen Veranda aufhalte. So bekommen die Einwohner in den Sommermonaten meistens nur ihren Diener Broaf zu sehen, wenn dieser mit dem Oldtimer der alten Dame, einem weinroten BMW, Baujahr 1939, die nötigsten Einkäufe erledigt. Broaf ist, ebenso wie Oma Vettel, als eigentümlicher Mensch bekannt, der selten redet. Er trägt immer einen schwarzen, akkurat gebügelten Frack und schwarze Lackschuhe, die so blank poliert sind, dass man sich darin spiegeln kann. Sein lichtes, graues Haar hat er stets sorgfältig zu einem Mittelscheitel gekämmt. Sicherlich wirkt er im ersten Moment wie der Hauptdarsteller aus einem alten Stummfilm, aber seine respektvolle Art verbietet den Einwohnern, sich darüber lustig zu machen. Wenn man Broaf grüßt, verbeugt er sich immer ganz leicht und erst daraufhin grüßt er zurück. So kennt man ihn hier seit vierzig Jahren.

Heute hat es der Diener sehr eilig. Er parkt direkt vor dem Eingang des kleinen Lebensmittelladens und läuft eilig die zwei Stufen herauf. Er soll die Waren abholen, die Oma Vettel gestern Abend telefonisch bei Mr. Rippel bestellt hat.

Broaf ist voller Vorfreude, denn heute ist ein ganz besonderer Tag!

Jezabel, Oma Vettels kleine Enkelin, feiert heute ihren sechsten Geburtstag. Seit dem tragischen Autounfall ihrer Eltern lebt sie auf dem Anwesen ihrer Großmutter und wird von ihr behütet wie ihr Augapfel. Im Dorf sieht man das kleine Mädchen eher selten. Sie gilt bei den Einwohnern aber als äußerst intelligent und sehr kreativ. So hat sie bis jetzt jeden Malwettbewerb gewonnen und überrascht bei ihren seltenen Besuchen am Strand mit den außergewöhnlichsten Sandburgen und Muschelskulpturen.

Das kleine Mädchen mit den langen, goldblonden Haaren hüpft schon den ganzen Morgen aufgeregt durch das üppig geschmückte Haus ihrer Großmutter. Wie viele Zimmer dieses eigentümliche Gebäude hat, weiß niemand so genau, da es sich ständig verändert. Im Moment, so schätzt man, gibt es so um die sechs Etagen plus Dachboden. Wobei das niemand nachgezählt hat. Wichtig ist nur, dass jeder Bewohner genügend Raum zum Leben und Wohnen hat. Darüber braucht man sich jedoch keine Gedanken zu machen, da das Haus für alle Bewohner gleich gut sorgt. Einen Keller gibt es natürlich auch. Dies ist allerdings der einzige Raum, der immer an derselben Stelle bleibt.

Oma Vettel behauptet steif und fest, dass ihr Haus in der Pubertät sei, da es sich seit zwei Jahren fast monatlich verändert. Das kann für die Bewohner mitunter sehr anstrengend sein. So ist es schon passiert, dass Oma Vettel eines Nachts zwei Stunden im Haus umherirrte und die Toilette, die sich eigentlich in steter Tradition neben ihrem Schlafzimmer befindet, erst im Keller wiederfand. Daraufhin hat sie dem Haus eine solche Standpauke gehalten, dass es daraufhin vor lauter Scham wochenlang nur noch rote Tapeten getragen hat.

Momentan findet man im Erdgeschoss einen riesigen Esssalon, eine gute Stube, eine überdimensionale Küche, ein Spielzimmer für Jezabel, ein Musikzimmer, drei Schlafzimmer und zwei Bäder im altenglischen Stil. Hier soll heute das große Geburtstagsfest stattfinden.

Überall hängen riesige, blinkende Luftballontrauben, die ausgelassen über die ellenlangen Girlanden hüpfen. Ab und an passiert es, dass solch ein Ballon zerplatzt und dann Hunderte Bonbons verschiedenster Geschmacksrichtungen herabregnen. Jezabel versucht sie natürlich alle aufzufangen, obwohl ihre Taschen bereits randvoll gestopft sind. Sahnetoffee mag sie am allerliebsten. Das kleine Mädchen hüpft an den Wanderhortensien vorbei, die ihrem Namen heute alle Ehre machen. Schon seit einigen Stunden wandern diese Gewächse von einem Zimmer zum nächsten, um den geeigneten Platz für ihren großen Ballettauftritt zu finden. Im Esssalon stehen sie nun neben den schweren, dunkelgrünen Vorhängen und streiten wie die Kesselflicker, welche Farbe sie heute tragen sollen. Kirk, die Blume mit den größten Blüten, ist schon so sauer, dass sie ihr tiefes Dunkelrot nicht mehr verändern kann.

Afrolino, der ewig schlafende Alligator, schwebt derweil gelassen durchs Haus und bläst glitzernde Sterne aus seinen Nasenlöchern. Diese schweben erst langsam, wie Konfetti durch den Raum, bis sie am Boden wie Knallerbsen zerplatzen, um sich schließlich in buntem Nebel aufzulösen. Sein lautes, ununterbrochenes Schnarchen, welches sonst schon früh am Morgen die anderen Bewohner gehörig nervt, geht heute in dem ganzen Trubel unter.

 

Für die musikalische Untermalung sorgt ein Blumenorchester, das sich heute ausnahmsweise nicht im Garten, sondern in der Küche unter der Leitung von Florence, dem Sonnentrichterorakel, versammelt hat. Sie üben dort seit vielen Stunden und man kann behaupten, dass es sich gelohnt hat.

Aus der obersten Etage, also dem Dachgeschoss, hört man seit den frühen Morgenstunden das aufgeregte Brabbeln von Sir Henry McMuffel, dem Geisterfrosch. Mehr als fünf Wochen übt dieser nun mit dem Geisterzoo ein selbst geschriebenes Geburtstagsständchen. Aber nach wie vor ist er mit der musikalischen Umsetzung seiner selbst ernannten Untertanen überhaupt nicht zufrieden.

Klank, der Affe, ist mittlerweile so genervt, dass er sich die Ohren zuhält. Das würde Lincoln, der Halbtagshund, auch sehr gern tun. Allerdings muss er hinter seinem besten Freund herjagen, da er ihn beim Naschen an der Geburtstagstorte erwischt hat. Diggler, das Werschwein, rennt wie der Teufel und versucht seinem Freund zu entkommen.

»Diiigleeer! Na warte, wenn ich dich erwische!«

Lincoln spurtet zwischen dem Festkomitee hindurch und flitzt mit einem Affenzahn hinter dem Tunichtgut her. Das Werschwein rennt, als ob es um sein Leben ginge, und versucht sich in letzter Minute in den Garten zu retten. Bei dem Versuch, die Abkürzung durch die Hundeklappe zu nehmen, bleibt er letztendlich in der viel zu kleinen Öffnung stecken. Diggler zappelt und zerrt, aber es ist zwecklos. Sein Hinterteil steckt in der Hundeklappe fest! In seiner Not beginnt er jämmerlich zu wimmern, um den Halbtagshund zu besänftigen.

»Ich bin völlig unschuldig! Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, drei Mal in diese zuckersüße Torte gebissen zu haben«, stammelt das Werschwein verlegen und nimmt noch einmal alle Kraft zusammen.

Mit einem letzten, kräftigen Ruck versucht er, seinen Körper durch die Luke zu ziehen. Da tut es einen lauten Knall und das Unvermeidliche passiert. Das Werschwein liegt mitsamt der Hundeklappe im Garten. Lincoln läuft entsetzt zu seinem Freund und sieht nach, ob er sich verletzt hat. Aber Diggler geht es gut, wenn man die Tatsache untergräbt, dass er die Hundeklappe nun um die Hüften trägt. Der Halbtagshund starrt ihn mit aufgerissenen Augen an und lacht laut los. Das vergeht ihm allerdings schnell, als er Rosinante, Oma Vettels alten Reisigbesen, hinauskommen sieht. Als Rosinante die Bescherung sieht, neigt sie sich wie ein Schwert nach vorn und jagt hinter den beiden Halfies her, um ihnen gehörig den Hintern zu versohlen.

Jezabel vertreibt sich derweil die Zeit, indem sie auf Flick, ihrem hüpfenden Teppich, durch die festlichen Räume hüpft. Auf ihrem Kopf sitzt Rosie, die Octopusschlange, und fängt mit ihren elf Tentakeln bunte Zuckerwattewölkchen ein. Es herrscht also wie immer ein fröhliches, lautes Durcheinander. Bis Oma Vettel endlich mit der dreistöckigen Sahnecremetorte aus der Küche getanzt kommt, die sie geschickt durch den Türrahmen des Esssalons balanciert.

»Jezabel, bitte sei ein liebes Mädchen und wasch dir die Hände. Wir wollen jetzt deine Geburtstagstorte anschneiden!«

Die alte Dame zeigt verzückt auf das Konditormeisterwerk und sieht ihre Enkelin erwartungsvoll an, die vor Begeisterung in die Hände klatscht. Mit großen Augen stellt sich Jezabel davor und streckt ihren Kopf weit nach oben. Auf jeder Etage ihrer Geburtstagstorte tanzen winzige Zuckerelfen um wunderschöne exotische Blumen aus süßer, köstlicher Sahne, die wiederum von prachtvollen Schmetterlingen umschwärmt werden. Die Krönung bildet ein gewaltiges Feuerwerk, das in allen Farben des Regenbogens aus der Spitze sprüht.

»So, meine Lieben. Seid ihr alle fertig? Dann kann es ja losgehen!«

Oma Vettel nickt den Anwesenden zu, bevor sie das Geburtstagsständchen dirigiert.

»Happy Birthday to you. Happy Birthday to you. Happy Birthday, liebe Jezabel! Happy Birthday to you!«

Der tosende Applaus, gemischt mit ohrenbetäubenden Pfiffen und »Yeah«-Rufen, macht das Geburtstagskind ganz verlegen. Nervös zupft sie an ihrem wunderschönen Tüllrock und nimmt Oma Vettel an die Hand.

»Danke, Großmutter. Das ist die beste, schönste, größte und wunderlichste Torte, die du mir je gezaubert hast! Ich liebe sie so sehr wie die anderen auch. Ich habe dich furchtbar lieb!«

Jezabel umarmt ihre Großmutter und hüpft anschließend zu Broaf, dem Diener, und haucht ihm ein leichtes Küsschen auf die Wange.

»Kannst du mich bitte hochheben? Ich will meine Geburtstagstorte anschneiden.«

Broaf verbeugt sich, so wie er es immer tut, und hievt das kleine Mädchen auf seine Schultern.

Vorsichtig reicht er ihr die Hauskatze, die, wie die meisten Dinge in diesem Haus, kein gewöhnliches Tier ist. Xinthalius ist eine pechschwarze, uralte, ägyptische Mau-Katze, der aus der Stirn eine etwa zwanzig Zentimeter lange schneeweiße Klinge ragt. Diese ist rasiermesserscharf, weshalb sie üblicherweise mit einer festen, diamantbesetzten Lederkappe bedeckt wird. Xinthalius ist ein Halfie, ein Geschöpf, das Opfer eines misslungenen Zaubers oder magischen Experimentes geworden ist. Diese Wesen werden normalerweise auf die Deponie gebracht. Das ist ein schrecklicher Ort im dunklen Zauberreich, auf dem der »Magische Müll« landet und von dem es kein Entkommen gibt. Die Deponie ist das Werk des Hexenrates und wird von dessen abscheulichen Wärtern streng bewacht. Nur wenigen Halfies gelingt die Flucht durch den verwunschenen Ausgang, durch den sie direkt in Oma Vettels Keller gespült werden. Einige Bewohner des dunklen Phads wissen, dass Vettel heimlich eine Pension für Halfies betreibt, aber niemand im Zauberreich sieht eine wirkliche Bedrohung darin. Der Eingang zu dieser geheimen Halfiepension ist eine WC-Schüssel, die Oma Vettel vor ein paar Jahren unter sehr schwierigen Bedingungen auf die Deponie schmuggeln konnte. Da es jedoch zu gefährlich war, sie an einem bekannten Ort zu installieren, hat Oma Vettel sie so verzaubert, dass sie regelmäßig ihren Standort ändert. Das hat natürlich den entscheidenden Nachteil, dass niemand weiß, wo sich der Ausgang gerade befindet, und deshalb gelingt es auch nur Wenigen, die verwunschene WC-Schüssel zu finden.

Wenn ein glücklicher Halfie sie dennoch entdeckt, muss er außerordentlich zügig handeln. Er muss unversehens in die WC-Schüssel steigen und auf den Spülknopf drücken. Nachdem er von einem kräftigen Wasserstrudel hinabgezogen wurde, landet er daraufhin nach etlichen Umdrehungen in dem Fluss, der sich durch Oma Vettels Keller schlängelt. Dies hat dem Haus schon einige, sehr seltsame Bewohner beschert, die allesamt hoffen, dass die Hexe sie eines Tages wieder zurückverwandeln kann. Aber diese Gegenzauber zu finden, ist selbst für eine mächtige Hexe wie Oma Vettel fast unmöglich.

Auf jeden Fall kam Xinthalius auf diesem Wege in dieses Haus.

»Schön vorsichtig, meine Liebe. Ich möchte nicht, dass du dich schneidest.«

Jezabel nimmt die Katze fest zwischen ihre Hände und hievt sie hoch an die Tortenspitze. Die Katze neigt den Kopf und lässt die Klinge in die Torte sinken. Nun führt Jezabel sie behutsam durch die sahnigen Etagen. Derweil holt Oma Vettel die Kuchenteller, damit Jezabel jedem Gast ein großes Stück Geburtstagstorte reichen kann. Das Erste bekommt wie immer Broaf, der einzige Mann im Haus.

»Ich danke dir von ganzem Herzen, junge Dame. Ich hoffe, dass es so vorzüglich schmeckt, wie es aussieht. Möge jeder Bissen deine glücklichen Tage besiegeln!«, singt er mehr, als dass er es sagt, und zwinkert ihr zu. Dann zieht er sich mit einer leichten Verbeugung zurück, damit sich auch die anderen Bewohner in einer langen Reihe aufstellen können.

Als jeder ein großes Stück Sahnetorte auf seinem Teller hat, setzen sie sich an den wunderschönen Esszimmertisch und trinken Kakao oder Milch. Jezabel, die immer noch auf dem hüpfenden Teppich sitzt, verputzt gleich drei Stückchen hintereinander. Man mag sich streiten, aber zumindest in diesem Moment ist sie das glücklichste Kind auf der Welt. Als sich die Kuchenrunde aufgelöst hat und Broaf die letzten Reste der Torte beiseite räumt, kommt Oma Vettel mit einem Geschenk in den Esssalon. Das Paket ist in festem, braunem Papier eingewickelt, dessen Oberseite eine gelbe Schleife ziert. Die alte Hexe stellt es mitten in den Raum und geht feierlich auf ihre Enkelin zu.

»Meine liebe Jezabel. Ich wünsche dir alles, alles Liebe und hoffe, dass du dich genauso sehr über das Geschenk freuen wirst wie ich. Es ist heute Morgen für dich angekommen. Komm schon, mach es auf!«

Die Augen des Mädchens beginnen aus Vorfreude zu funkeln. Sie rennt zu ihrem Geschenk und versucht es zu öffnen.

»Was da wohl drin ist? Vielleicht ein Puppenhaus für meine lebendigen Puppen oder das Luftfahrrad. Aber nein! Das darf ich ja erst mit acht Jahren fahren. Großmutter, hilf mir bitte! Ich bekomme die Schleife nicht auf.«

Oma Vettel schnippt mit den Fingern, worauf die Schleife sich wie von Geisterhand löst. Als Jezabel endlich das Papier abgerissen hat, kommt eine alte Holzkiste zum Vorschein, die mit einem großen Riegel verschlossen wurde. Mit aller Kraft schiebt sie ihn beiseite und drückt den Deckel neugierig nach oben. Um besser hineinsehen zu können, holt sie schnell einen kleinen Fußschemel.

»Was ist das? Ein Stein?«, fragt sie verwirrt und lässt ihre Großmutter das Geschenk herausnehmen. Mühsam hebt die alte Hexe den Stein aus der Kiste und hält ihn dem Mädchen verzückt entgegen.

»Das, meine Liebe, ist ein Lythargium. Dein eigener Gedankenstein. Er bewahrt sowohl die Gedanken deiner Vergangenheit wie die der Gegenwart. Er ist der Wächter deines Horts, dem Platz, den niemand außer dir betreten kann. Es sei denn, dass du dies ausdrücklich wünschst.

Dieses Lythargium wurde aus einem seltenen Stein gefertigt, der nur in den unerreichbaren Felsen hinter dem toten Wald vorkommt. Er wird von den Griefern aus den dortigen Minen geborgen und mit dem Wasser des schwarzen Flusses gewaschen, bevor jeder dieser Steine selbst seinen Besitzer ernennt.

Ich war voller Freude, als ich gestern darüber benachrichtigt wurde, dass dieser Stein dich erwählt hat. Das bedeutet, dass du nun die Zauberkunst des dunklen Phads erlernen darfst. Du bist jetzt alt genug, um unsere Familientradition fortzuführen!«

Oma Vettel schreitet langsam auf Jezabel zu. Broaf, der hinter der alten Dame steht, wischt sich vor Rührung eine Träne von der Wange.

»Sobald du diesen Stein in die Hände nimmst, bringt er dich in deinen Hort. Dies ist ein rein geistiger Ort, der nach deiner eigenen Vorstellung errichtet wird.

Beim ersten Mal ist es etwas erschreckend, da du deinen Hort noch nicht eingerichtet hast. Du wirst dich also in einem grauen Nebel wiederfinden. Aber du brauchst dich nicht zu fürchten. Halte den Stein gut fest und schließe deine Augen. Stell dir ganz genau vor, wie es dort aussehen soll. Wenn du das geschafft hast, kannst du deine Augen wieder öffnen und findest dich an einem wunderschönen und sicheren Ort wieder. Es ist allerdings sehr wichtig, dass du den Stein danach sofort wieder ablegst!

Verstehst du mich, Jezabel? Auch wenn die Versuchung noch so groß ist, darfst du beim ersten Mal noch kein Erlebnis aus deiner Vergangenheit aufrufen! Das würde dich überfordern. Also, mein Schatz. Bist du bereit?«