Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 01: Oma Vettel

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»Ja, Hallo. J.J. Smith am Apparat. Mal wieder!«

Kapitel 3
Der Gedankenstein kehrt zurück

Sie hat große Mühe zu sprechen. Ihr Kiefer verkrampft sich derart vor Wut, dass sie die Zähne nicht auseinanderbekommt. Am anderen Ende des Apparats seufzt die Direktorin, ohne auf J.J.s Zynismus einzugehen.

»Hallo J.J. Entschuldige bitte, dass ich an deinem freien Abend anrufe. Aber hier ist soeben ein Paket für dich abgegeben worden. Ich dachte mir, dass du es vielleicht gleich abholen möchtest«, beginnt sie aufgeregt zu sprechen.

J.J. überlegt einen Moment und schüttelt fragend den Kopf.

»Ein Paket für mich? Von wem denn?«, fragt sie verwirrt.

Plötzlich ist sie ganz sicher, dass nun etwas sehr Ungewöhnliches passieren wird. Die Sekunden, bis die Direktorin antwortet, sind deshalb unerträglich. Vor Aufregung knabbert sie an ihren Fingernägeln, was sie seit Jahren nicht mehr getan hat. Als sie gerade den Mittelfinger zum Mund führt, erlöst Mrs. Rogan sie endlich.

»Das kann ich dir nicht sagen, Liebes. Es ist keine Absenderadresse angegeben. Am besten kommst du gleich hierher und holst es ab. Dann weißt du, von wem es ist.«

J.J. legt auf, ohne sich zu verabschieden, und geht verstört ins Zimmer zurück.

In der Tür bleibt sie stehen und überlegt.

»Zoé, da ist ein Paket für mich abgegeben worden. Ich soll es gleich bei Mrs. Rogan abholen. Würdest du mitkommen?«, fragt sie mit zittriger Stimme.

Zoé springt von ihrem Stuhl und jauchzt.

»Ein Paket? Jetzt? Wie aufregend! Na komm, wir holen es sofort ab.«

Ohne auf ihre Freundin zu warten, rennt Zoé in Richtung des Schulgebäudes. J.J. braucht einen Moment, um sich zu berappen, und hastet hinter Zoé her. Völlig aus der Puste erreichen sie schließlich das Büro der Direktorin. Zoé grinst verschmitzt und klopft zaghaft, an die nur angelehnte Tür, an.

Als sie den Vorraum von Mrs. Rogans Büro betreten, bleiben sie erstaunt stehen. In der Mitte des Raums steht ein großer Karton, der in braunes, grobes und teilweise eingerissenes Packpapier eingeschlagen ist. Zusätzlich wurde er noch mit einem Strick verschnürt, was ihn sehr altertümlich wirken lässt. J.J. geht langsam auf das seltsame Paket zu und versucht den Absender zu finden. Aber es steht tatsächlich nichts darauf.

»Es sieht aus, als wäre es schon vor Jahren von einer Postkutsche gefallen.«

»Wer hat das für mich abgegeben?«, fragt sie misstrauisch, da sie befürchtet, dass es sich um eine Verwechslung handele. Die Direktorin holt einen Brief von ihrem Schreibtisch und überreicht ihn ihr.

»Als ich vom Abendessen zurückkam, stand das vor meiner Tür und dieser Brief lag oben drauf.«

J.J. reißt den Brief an sich und dreht ihn um. Aber auch hier findet sie keinen Absender. Auf dem Umschlag steht lediglich:

Bitte diesen Brief und das Paket an Josie Jezabel Smith aushändigen. Persönlich!

»Das wird ja immer unheimlicher. Ich habe keine Ahnung, wer mir schreiben sollte. Alle Menschen, die ich kenne, befinden sich auf diesem Campus.«

Fragend sieht sie zur Direktorin.

»Ich finde das seltsam. Ich habe noch nie Post, geschweige denn ein Paket bekommen!«, sagt sie irritiert.

Zoé, die die gesamte Zeit in der Tür gewartet hat, dauert das alles viel zu lange. Sie geht schnurstracks zum Paket und versucht es anzuheben. Wie ein Gewichtheber zieht sie, bis sie vor Anstrengung einen puterroten Kopf hat.

»Vielleicht ist das ja ein Scherz. Das Ding wiegt bestimmt zwei Zentner!«, japst sie, bevor sie erneut daran zerrt, jedoch das Paket lediglich ein paar Zentimeter in die Höhe hieven kann. J.J. steckt den Brief in ihre Hosentasche und fasst mit beiden Händen unter den Paketboden. Als sie es mit einem kräftigen Ruck nach oben zieht, verliert sie das Gleichgewicht und stolpert rückwärts.

»Sehr witzig, Zoé! Das Paket ist total leicht. Na ja, danke, Mrs. Rogan, dass Sie mich angerufen haben.«

Die Direktorin lächelt und hält ihnen die Tür auf.

»Vielleicht lässt du mich ja wissen, was sich darin verborgen hat. Natürlich nur, wenn es kein Geheimnis ist!«, ruft sie J.J. hinterher, die nur schnell zurücknickt.

Sie ist viel zu gespannt, was sich darin befinden könnte, als das sie auch nur noch eine weitere Minute mit Small Talk verschwenden will. Zoé läuft aufgeregt neben ihr her und spekuliert ohne Pause, welchen Schatz sie gleich entdecken werden. Als sie in ihrem Zimmer ankommen, stellt es J.J. mitten in den Raum und geht ein Stück zurück. Immer wieder umkreist sie das seltsame Paket, während Zoé wie Rumpelstilzchen von einem Bein auf das andere springt und sie ununterbrochen anspornt, es endlich zu öffnen. Aber J.J. ist zu angespannt. Sie steht nur stocksteif da und starrt auf das mysteriöse Objekt.

Zoé rauft sich die Haare.

»Bist du denn gar nicht neugierig? Also ich platze gleich! Komm schon, mach es endlich auf!«, fordert sie ungeduldig.

J.J. lässt das Jammern ihrer Freundin kalt.

»Es ist und bleibt merkwürdig! Ich habe noch nie einen Brief bekommen und gerade jetzt, wo mir ständig diese Dinge passieren, bekomme ich auch noch ein sonderbares Paket. Es ist sehr altertümlich und schäbig verpackt. Und zusätzlich mit einem Strick verschnürt, was heutzutage niemand mehr tut! Ich bin gespannt, was darin ist! Gleichzeitig habe ich aber auch Angst! Vielleicht ist es doch nur ein Scherz von Britany. Ein stinkender Hundehaufen oder Ähnliches. Aber das hätte sie doch niemals vor die Tür der Direktorin gestellt!«, kombiniert sie in Gedanken.

Nun reißt Zoé endgültig der Geduldsfaden.

»Hallo! Erde an J.J. Biiiiiiiiittttte, mach dieses Paket jetzt auf!«, bettelt sie, während sie wie eine Besessene im Kreis herumhopst und vor Anspannung Gift und Galle spuckt.

J.J. begutachtet es aber nur weiterhin kritisch und schüttelt stur den Kopf.

»Findest du es nicht seltsam? Was ist, wenn sich etwas Ekliges oder Gruseliges darin befindet? Immerhin kenne ich niemanden, der mir etwas schicken könnte«, erwidert sie leise.

Zoé stoppt mit dem fröhlichen Herumgehopse, da sie bemerkt, dass J.J. wirklich sehr angespannt ist. Sie presst die Lippen zusammen und stellt sich still neben J.J., die sich nun vor das Paket setzt. Dabei knistert der Brief in ihrer Hosentasche. Sie mustert ihn sorgfältig und stellt fest, dass die Schrift ebenso altertümlich wirkt. Nach kurzer Bedenkzeit nimmt sie allen Mut zusammen und reißt den Umschlag mit einem Ruck auf. Mit zittrigen Händen liest sie.

Meine liebe Jezabel!

Ich weiß, dass du dich nicht mehr an mich erinnern kannst. Aber ich bin deine Großmutter Ophelia. Du hast mich jedoch immer nur Großmutter oder Oma Vettel genannt.

Vor acht Jahren haben wir dieses Paket schon einmal gemeinsam geöffnet.

Das war an deinem sechsten Geburtstag.

Bevor du jetzt zweifelst und den Brief zur Seite legst, möchte ich dich bitten, ihn zu Ende zu lesen. Das ist sehr wichtig!

Ich weiß, dass du dich weder an diesen Geburtstag noch an irgendetwas vor dem Internat erinnerst. Aber ich kann dir das alles noch nicht erklären. Ich habe dich damals weggeschickt, um dich zu schützen. Nun bist du erneut in Gefahr!

Ich möchte deshalb, dass du diese Weihnachtsferien zu Hause bei mir in Havelock verbringst, damit ich dir alles in Ruhe erklären kann.

Bitte vertrau mir!

Ich hole dich am Freitag nach der Abschlussfeier ab.

Ich umarme Dich, kleine Jezabel.

Deine Oma Vettel

PS: Öffne das Paket und erinnere dich!

J.J. liest sich den Brief wieder und wieder durch. In ihrem Kopf ist alles vollkommen durcheinander. Sie versucht krampfhaft, sich an die Zeit vor dem Internat zu erinnern, aber es gelingt ihr nicht. Ein paar Eindrücke, Gefühle, Wörter und Gerüche holen sie kurz ein, zerplatzen jedoch wie zarte Seifenblasen, sobald sie sich darauf konzentriert. Entsetzt dreht sie sich zu Zoé.

»Ich habe eine Großmutter!«, ist das Einzige, was sie sagt.

Dann holt sie eine Schere und versucht den Strick, der das Paket zusammenzurrt, durchzuschneiden. Es dauert eine Weile, bis er endlich nachgibt und sich lösen lässt. Zoé sitzt daneben und hält vor lauter Spannung den Atem an. Als J.J. das braune Papier abgerissen und den Karton geöffnet hat, starren beide auf eine alte Holzkiste.

Diese sieht wertvoll aus und ist mit einem schweren Riegel verschlossen. So als würde sie einen kostbaren Schatz bewahren. Einen Augenblick ist J.J. sicher, dass sie den Inhalt kennt, bis der flüchtige Gedanke wie eine Seifenblase zerplatzt. Ein kalter Schauer zieht ihr über den Nacken. Sie schiebt den Riegel zur Seite und öffnet erwartungsvoll den Kistendeckel. Vorsichtig lugt sie hinein und klappt den Deckel mit einem Ruck zurück. Sichtlich enttäuscht steht sie auf.

Zoé, die gespannt danebensitzt, sieht sie verwirrt an. Nun gibt es für sie kein Halten mehr und sie starrt eine Weile fassungslos in die Kiste.

»Ein Stein? Wer schickt dir denn einen Stein? Kein Wunder, dass das Paket so schwer war!«

J.J. stellt sich neben sie und zuckt ahnungslos mit den Schultern. Zoé hievt den Stein heraus, was ihr einiges an Mühe abverlangt, da er trotz seiner unscheinbaren Größe recht schwer ist. Übermütig wirft sie ihn zu J.J., deren Hände reflexartig nach vorn schnellen und ihn mühelos auffangen. Da passiert das Unfassbare.

In dem Moment, als sie den Stein berührt, befindet sie sich nicht mehr in ihrem Zimmer, sondern in dem seltsamen Garten aus ihrem Traum. Geschockt sieht sie sich um.

»Was? Was ist hier los? Wo bin ich? Zoé?«, flüstert sie ängstlich und versucht wegzulaufen. Aber ihre Beine bewegen sich nicht und auch der Rest des Körpers scheint sich nicht aus der Angststarre lösen zu wollen. Nur ihre Knie sinken leicht nach vorn, sodass sie Mühe hat, die Balance zu halten. Entsetzt starrt sie auf den Stein und schmeißt ihn panisch zu Boden. Sie startet einen erneuten Versuch und rennt los. Doch da steht sie bereits wieder in ihrem Zimmer! Fassungslos versucht sie zu begreifen, was hier vor sich geht. In ihrem Kopf beginnt sich alles zu drehen und sie hat plötzlich Schwierigkeiten zu atmen. Da hört sie ein leises Schluchzen. Erschrocken sieht sie zu Zoé, die am Boden kauert und vor Schmerzen wimmert.

 

»Zoé!? Was ist denn passiert?«, fragt sie verstört und versucht ihrer Freundin aufzuhelfen. Aber die drückt sie grob zur Seite und blitzt sie mit verweinten Augen an.

»Du hast mir gerade den Stein auf die Füße geworfen. Ich glaube, ich habe mir den kleinen Zeh gebrochen«, antwortet sie mit tränenerstickter Stimme, während sie ihre Hand fest auf den Fuß presst.

J.J. wir übel. Sie versteht überhaupt nichts.

»Was passiert hier? Hatte ich etwa einen Blackout? Träume ich schon wieder?«

»Oh Zoé, das habe ich nicht gewollt! Der Stein ist mir aus Versehen heruntergefallen. Na ja, nicht ganz aus Versehen. Aber ich war wieder in diesem Garten und habe dich gerufen. Der Stein wurde plötzlich heiß und ich bekam Angst. Da habe ich ihn einfach auf den Boden geschmissen. Ich hatte doch keine Ahnung! Komm Zoé, wir müssen zu Dr. Sheldon gehen.«, stammelt sie bestürzt los.

Zoé starrt sie entsetzt an und rückt ein gutes Stück von ihr weg.

»Lass mich sofort los! Ich schaffe das schon alleine. Geh weg! Du machst mir langsam Angst! Was ist nur mit dir los? Ist das ein Trick? Ein Schauspiel? Dein Gesicht hat sich seltsam verändert, als du den Stein aufgefangen hast. Und dann hast du dich gedreht. Ich dachte erst, dass es ein Spaß sein soll. Aber du wurdest immer schneller. Es war einfach nur beängstigend. Es sah aus wie in einem Horrorfilm. Und zur Krönung wirfst du mir diesen Felsbrocken auf die Füße. Schöne Freundin!«, schimpft sie mit tränenerstickter Stimme los.

J.J. steht wie angewurzelt da und sieht ihre Freundin betroffen an. Das, was Zoé da erzählt, ergibt für sie keinen Sinn. Sie schließt kurz die Augen und versucht sich zu beruhigen.

»Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt für eine Ohnmacht! Ich komme nämlich gerade überhaupt nicht klar! Dachte ich in den letzten Wochen, dass die Dinge nicht schlimmer werden könnten, habe ich nun den endgültigen Beweis, dass sehr wohl Steigerungen möglich sind!«

J.J. tritt einen Schritt zurück und versucht ihre Gedanken zu ordnen. Da fällt ihr der Brief ihrer Großmutter wieder ein. Sie überreicht ihn Zoé, die ihn ihr trotzig aus der Hand reißt. Nachdem diese ihn gelesen hat, gibt sie ihn zurück und humpelt zu ihrem Bett.

»Das ist ja schlimmer als in einem Krimi! Erst die verrückten Sachen, die dir ständig passieren. Die Albträume und jetzt noch ein komisches Paket mit diesem dummen Stein von deiner unbekannten Großmutter. Was kommt als Nächstes? Eine Kürbiskutsche?

Ich wusste gar nicht, dass du so einen wunderschönen Namen hast. Du hast mir erzählt, dass du Josie heißt. Aber Jezabel? Warum hast du ihn nie erwähnt?«, fragt sie vorwurfsvoll.

J.J. setzt sich und senkt ratlos den Kopf.

»Erstens hast du nie danach gefragt und zweitens hasse ich diesen Namen! Ich meine, kennst du irgendjemanden auf dieser Welt, der Jezabel heißt? Ich habe mich immer gefragt, woher dieser Name stammt, konnte aber nichts herausfinden.«

Zoé bemerkt, dass J.J. dieses Thema wirklich belastet, und schämt sich fast ein bisschen für ihre forsche Art. Die Freundinnen sitzen einige Minuten stumm da und starren auf die Holzkiste. J.J. löst sich aus ihren Gedanken und nimmt ihre Freundin in den Arm.

»Komm, Zoé. Ich bringe dich zum Arzt. Er soll sich deinen Fuß ansehen. Ich hoffe, dass wirklich alles in Ordnung ist.«

Zoé winkt gelassen ab und humpelt zum Kühlschrank.

»Keine Zeit! Ich packe jetzt einen großen Eisbeutel drauf, dann geht das schon wieder. Also, mal abgesehen von der Tatsache, dass du überhaupt nichts über diese Dame weißt. Warum schickt sie dir einen Stein? Und warum kannst du dich überhaupt nicht mehr an sie erinnern? Vielleicht ist sie eine Verrückte oder so was!«

J.J. sieht zu, wie sich Zoé einen Eisbeutel auf den Fuß packt und ihn mit einer dicken Socke fixiert.

»Ich habe keine Ahnung. Als ich den Stein gefangen habe, da war ... Also, ich war nicht mehr ... Also, was ich sagen will. Ich war an einem anderen Ort!«, platzt es aus ihr heraus.

Zoé hält inne und starrt sie stutzig an.

»Was heißt das?«

J.J. zuckt mit den Schultern und überlegt, wie sie ihrer Freundin am besten erklärt, was passiert ist.

»Als ich den Stein gefangen habe, war ich plötzlich in einem seltsamen Garten. Ich habe nach dir gerufen. Aber außer mir war niemand dort. Ich bekam große Angst und habe ihn weggeworfen. Was soll ich sagen? Schwups, bin ich wieder hier und dieses blöde Ding liegt auf deinem Fuß!«

Zoé betrachtet zufrieden ihren selbst kreierten Eisfuß und humpelt zum Stein. Zuerst berührt sie ihn nur vorsichtig mit dem Zeigefinger. Als sich nichts Besonderes tut, packt sie ihn mit beiden Händen und betrachtet ihn. Die Tatsache, dass J.J. ihn so mühelos auffangen konnte, macht sie stutzig. Der Stein wiegt schon einiges. Jedenfalls für Zoé. Verwundert schüttelt die den Kopf und zieht die Augenbrauen streng nach oben. So wie immer, wenn sie nachdenkt.

»Es ist schon erstaunlich, dass du ihn so spielend auffangen kannst. Das Ding ist doch total schwer! Vielleicht ein besonders dichtes Material? Aber heiß ist er nicht, und wie du siehst, bin ich auch noch hier«, stellt sie verunsichert fest.

J.J. kommt dazu und betrachtet misstrauisch den Stein, der friedlich in Zoés Hand ruht.

»Nein! Ich habe mir das nicht eingebildet! Ich war dort! Von diesen komischen Drehungen habe ich allerdings nichts mitbekommen. Ich war sofort in diesem Garten. Aber wie soll ich das Zoé beweisen? Dieser Stein zeigt keinerlei sonderliche Wirkung bei ihr.«

Plötzlich kommt ihr eine Idee. Es gefällt ihr nicht, dass ihre beste Freundin sie für verrückt hält, also möchte sie etwas ausprobieren.

»Setz dich auf dein Bett. Egal, was passiert, du rührst dich nicht von der Stelle! Du bleibst dort sitzen! Verstanden?«

Zoé sieht ihre Freundin verwirrt an und bleibt trotzig stehen.

»Was soll das? J.J., es ist ein Steeeiiiin«, brüllt sie halb verzweifelt, halb genervt.

Aber J.J. lässt sich nicht beirren. Sie packt ihre Freundin an der Hand und zieht sie zu ihrem Bett.

»Bleib hier sitzen!«, sagt sie in einem deutlichen Befehlston und drückt Zoé aufs Bett. Sie schleicht zurück und hebt nach kurzer Überlegung den Stein mit einem Ruck hoch. Ein triumphierendes Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus, was Zoé leider nicht sehen kann. Denn wie beim ersten Mal findet sie sich augenblicklich in diesem myteriösen Garten wieder. Sie hält den Stein fest in der Hand und holt Luft. Erleichtert stellt sie fest, dass ihre Beine dieses Mal gehorchen, und geht ein Stück weiter. Neugierig sieht sie sich um, während der betörende Duft aus ihren Träumen sie umgarnt. J.J. schließt die Augen und atmet ihn tief ein.

»Vielleicht ist das so etwas wie ein Traumfänger.«

Unsicher geht sie zu dem Baum mit den köstlichen Früchten und jubelt erleichtert.

»Ja! Ich bin definitiv nicht verrückt! Dort müsste jetzt die Blütenschaukel hängen«, erinnert sie sich und geht entschlossen weiter. Ungläubig schüttelt sie den Kopf.

»Das halt ich nicht aus! Was geht denn hier ab?«, flüstert sie fassungslos und schaut sich um.

»Es ist alles da. Die Bäume, die riesigen Blumen, der Duft und …«

Sie stockt und sieht panisch nach oben.

»Puh! Der hässliche Vogel hat heute Gott sei Dank frei«, stellt sie erleichtert fest.

Behutsam setzt sie sich auf die Schaukel und legt den Stein vor ihren Füßen ab. In diesem Moment ist sie auch schon wieder in ihrem Zimmer. Da die Schaukel dort jedoch nicht existiert, fällt sie unsanft nach hinten und schreit auf. Genervt sieht sie auf den Stein, der vor ihr liegt und dann zu Zoé, die immer noch auf dem Bett sitzt und mit offenem Mund zu ihr starrt.

»Was ist passiert?«, fragt J.J. gespannt.

Zoé schüttelt sich, als wolle sie einen schlechten Gedanken loswerden, und presst sich ängstlich an die Wand.

»Ich habe keine Ahnung! Du hast dich wieder gedreht. Erst langsam, dann schneller und zum Schluss bist du in einem schwarzen Wirbel verschwunden. Plötzlich warst du wieder hier und bist nach hinten umgefallen. Ist das so etwas wie schwarze Magie?«, fragt sie J.J., die darüber herzhaft lachen muss.

»Wir sind doch nicht im Kino!«, antwortet sie leicht abfällig und bemerkt, dass Zoé trotzdem noch ein weiteres Stück von ihr wegrutscht.

»Aber das war nicht normal! Wirklich nicht! Was hast du denn gesehen?«, stammelt sie, ohne ihre Lippen zu bewegen, mit angsterfüllter Miene.

J.J. steht auf und betrachtet den Stein aus sicherer Entfernung.

»Es ist doch nur ein schwarzer, runder Stein, der unten abgeflacht ist, damit er nicht wegrollt, wenn ich ihn hinlege. Er schimmert seltsam, sobald ich ihn berühre, und wird warm, je länger ich ihn halte. Aber schwer ist er nicht. Vielleicht ist es ja gar kein Stein?«

»Also, was hast du gesehen, J.J.?«, fragt Zoé nun deutlicher.

J.J. setzt sich zu ihr und lässt den Stein nicht aus den Augen.

»Ich war wieder in dem Garten. Ich kenne ihn, denn ich habe schon oft von diesem Ort geträumt. Ich kann dort alles berühren und es duftet betörend, wie Sommer und Frühling zusammen. Ich kann es nicht anders erklären, aber ich fühle mich dort irgendwie zu Hause. Vielleicht ist das so etwas wie ein Traumfänger? Was denkst du?«

Zoé dreht sich entsetzt zu ihr um.

»Was ich denke? Ich denke, dass ich nicht mehr mitkomme! Ich habe nichts Außergewöhnliches bemerkt, als ich ihn angefasst habe! Ich hatte Mühe, ihn von meinem Fuß zu ziehen. Ich kann ihn ja nicht einmal richtig anheben. Das ist ganz schön unheimlich, meine liebe Jezabel!«

J.J. sieht ihre Freundin brüskiert an und schluckt. Doch dann müssen beide gleichzeitig laut loslachen.

»Und was machen wir jetzt mit ihm?«, fragt Zoé.

J.J. zuckt ratlos mit den Schultern.

»Ich habe keine Ahnung! Versprich mir aber, dass du erst mal mit niemandem darüber redest!«

Zoé macht ein Schwurzeichen, indem sie den Zeigefinger und Mittelfinger ihrer rechten Hand küsst und auf ihr Herz drückt. J.J. geht zu dem Stein und stülpt die Holzkiste verkehrt herum darüber.

»Ich mache mir Sorgen wegen dieser Großmutter, Zoé. Ich kann mich nicht an sie erinnern oder wie sie aussieht. Was ist, wenn ich sie nicht mag oder wenn sie mich nicht mag? Ich kann doch nicht fünf Wochen zu jemandem in die Ferien fahren, den ich überhaupt nicht kenne. Welchen Grund gibt es, dass sie gerade jetzt auftaucht? Weißt du was? Ich werde sie mir ansehen und genau ein Wochenende aus reiner Höflichkeit bleiben! Aber die Feiertage verbringe ich hier, bei Menschen, die ich kenne!«

Zoé humpelt zu ihrer Freundin und nimmt sie in den Arm.

»Gib ihr eine Chance! Vielleicht ist sie ja ganz nett. Dann hast du wenigstens ein bisschen Familie. Nur sie kann dir erzählen, was mit deinen Eltern passiert ist. Nimm es als einmalige Gelegenheit! Ich hole dich von überall ab. Auch von Havelock!«

Plötzlich muss J.J. weinen. Zu viele unangenehme Gefühle bedrängen sie. Trauer, Wut, Heimweh, Freude und Verzweiflung.

»Denk daran, was Pippa immer sagt: Die Welt ist ein magischer Ort und wir sind ihre Feen! Vielleicht findest du etwas sehr Wertvolles wieder. Ich will dann natürlich alles wissen! Wehe, du schreibst mir nicht jeden Tag! Komm, wir gehen hinunter zu Pippa. Sie hat bestimmt einen guten Film und ein paar Chips für uns übrig. Du musst ihr sowieso erzählen, dass du in den Ferien nicht bei ihr bist.«

J.J. patscht sich an die Stirn.

»Richtig, Pippa! Die habe ich ja ganz vergessen. Sie wird sich die alte Dame bestimmt sehr genau ansehen wollen. Wenn ihr auch nur ein Haar nicht passt, lässt sie mich sowieso nicht mitfahren. Du hast recht! Gehen wir hinunter. Sie muss sich deinen Fuß mal ansehen.«

Zoé steht auf und dreht sich auf der Ferse im Kreis.

»Alles gut! Ich kann ja auf der Hacke laufen und außerdem tut er fast nicht mehr weh!«

 

Die Freundinnen nehmen ihre Lieblingsdecken und machen sich auf den Weg in die untere Etage. Dort lebt Pippa mit ihrer Familie in der Hausmeisterwohnung, die über fünf große Zimmer, eine Küche und zwei Bäder verfügt. Die Schüler treffen sich dort oft zu gemütlichen Fernsehabenden oder zum Karten spielen. J.J. drückt auf den Klingelknopf und wartet. Als Pippa ihr die Tür öffnet, will sie ihr wie immer in die Arme springen, aber sie hält inne, als sie bemerkt, dass das Hausmädchen dicke, rot verweinte Augen hat.

Pippa strengt sich an, ein natürlich wirkendes Lächeln aufzusetzen, was ihr jedoch nicht gelingt. Sie geht zu J.J. und drückt sie fest an sich. Und weil es ihre Art ist, alle Kinder gleich zu halten, nimmt sie Zoé mit dazu.

»Schön euch zu sehen. Aber kommt doch erstmal herein.«

Zoé, von der gerade noch die Augen über Pippas Oberarme ragen, nuschelt:

»Wenn du uns loslässt, wäre das unser Plan gewesen!«

Pippa lacht auf und entschuldigt sich.

»Tut mir leid. Ich habe heute einen schwachen Tag. Nun kommt doch endlich herein!«

Pippas Reich ist das gemütlichste Heim, das J.J. kennt. Zuerst betreten sie die helle Diele, an deren Ende sich die große Küche befindet. Dort sitzen Cassidy und Frida, Pippas Töchter, am Tisch und schnippeln schlecht gelaunt frisches Gemüse. Als sie die beiden entdecken, nicken sie müde und zeigen mit den Köpfen auf die Stühle neben sich.

Die beiden sind zweieiige Zwillinge und gehen in die 7. Klasse. Außer ihren Eltern haben sie eigentlich nicht viele Gemeinsamkeiten. Cassidy ist groß, blond, schlank und kommt ganz nach ihrem Vater. Sie ist immer freundlich, aber sehr ruhig und hilft lieber im Garten als in der Küche. Frida dagegen ist klein, hat kräftige dunkle Haare und ist wie ihre Mutter etwas fülliger. Sie strahlt den ganzen Tag mit der Sonne um die Wette und hilft sehr gern bei den Hausarbeiten. Pippa betont immer, wie sehr Gott sie doch lieben muss. Sie brauchte nur einmal schwanger zu sein und hat gleich zwei wunderbare Kinder zur Welt gebracht, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Dann drückt sie ihren Töchtern immer einen dicken Schmatzer auf die Stirn.

Außer ihnen lebt hier noch Backboard, der kleine Dackel. Er ist mittlerweile schon ein Senior und halbblind. Aber er ist der Campushund und alle Schüler lieben ihn. Schließlich gibt es da noch Fred, Pippas Ehemann, der gleichzeitig Hausmeister und Gärtner des Campus ist. Er ist das ganze Gegenteil von Pippa. Groß, schlank, blond und raucht für sein Leben gerne Zigarren. Mrs. Rogan schimpft immer wie ein Rohrspatz, wenn sie ihn dabei erwischt. Aber Fred ist ein fröhlicher Mensch und läuft stets pfeifend oder summend über den Hof. Jetzt sitzt er im Wohnzimmer und versucht einen großen Berg Weihnachtslichterketten zu entknoten. Zoé und J.J. winken ihm zu und gehen zurück in die Küche, wo Pippa gerade Limonade einschenkt.

»Kommt schon her. Wir kochen ein Gemüsechili und danach gibt es selbstgemachte Chips. Wenn ihr Lust habt, könnt ihr den beiden Mädchen helfen!«

Sie setzen sich und helfen Frida und Cassidy beim Gemüseschneiden. Frida fixiert J.J. eine Weile, bis es plötzlich aus ihr herausplatzt:

»Du verbringst die Ferien also nicht bei uns? Das ist wirklich schade. Wir haben uns schon so darauf gefreut!«

J.J. hält inne und sieht verwirrt in die Runde.

»Woher wisst ihr das? Ich habe den Brief doch erst vor einer Stunde bekommen!«

Sie legt ihr Messer beiseite und sieht zu Pippa, die mit ihren Augen gerade giftige Pfeile in Fridas Richtung sendet.

»Du bist ein altes Plappermaul, Frida! Ich habe euch gebeten, dass ihr mich das alleine machen lasst! Ihr seid echt unmöglich!«

»Ja, das stimmt! Wir sind eben ganz unsere Eltern«, antworten beide Töchter im Chor und lachen los.

J.J. ist nicht zum Lachen zumute. Sie steht auf und geht zu Pippa.

»Also, woher weißt du es?«, fragt sie trotzig.

Pippa eilt zum Küchenschrank und holt einen Brief aus der obersten Schublade. J.J. ist erstaunt, da er genauso aussieht wie der, den sie bekommen hat, nur dass dieser an ihre Ziehmutter gerichtet ist.

Sehr geehrte Frau Pippa.

Ich möchte Ihnen von ganzem Herzen danken, dass Sie sich in den letzten Jahren so aufopferungsvoll um meine Enkelin gekümmert haben! Mrs. Rogan hat mir berichtet, dass Sie ihr stets eine gute Freundin waren und sie behütet haben, als wäre sie Ihr eigenes Kind.

Ich möchte Ihnen versichern, dass ich das bis zum Ende meines Daseins nicht vergessen werde.

Ich kann nicht verlangen, dass Sie verstehen, warum ich mich erst jetzt melde.

Aber ich möchte Sie trotzdem um die Erlaubnis bitten, meine Enkelin diese Ferien zu mir holen zu dürfen. Wie mir Mrs. Rogan berichtete, hat Jezabel die Ferien sonst immer mit Ihrer Familie verbracht und auch die kommenden Feiertage haben Sie wohl mit ihrer Anwesenheit gerechnet.

Deshalb möchte ich mich für diese kurzfristige Entscheidung entschuldigen und hoffe, dass Sie mich eines Tages verstehen können.

Ich werde Jezabel am Freitag gegen Nachmittag abholen, und sofern sich meine Hoffnung erfüllt, wird sie die gesamten Ferien auf meinem Anwesen in Havelock verbringen.

Es grüßt Sie herzlichst

Ophelia V. P. U. Gräfin von Winterhardt

PS: Vielleicht könnten Sie mir einen Tipp geben, was meine Enkelin am liebsten mag.

J.J. faltet den Brief zusammen und drückt ihn Pippa genervt in die Hand. Die streicht ihn sorgfältig glatt und legt ihn zurück in die Schublade.

»Jezabel. So ein wunderschöner Name. Warum hast du ihn mir nie verraten?«, flüstert sie traurig, sodass J.J.sich plötzlich richtig mies fühlt. Bockig stellt sie sich in die Küche.

»Was soll das alles? Ich habe es schon Zoé erklärt. Ich hasse diesen Namen! Ich verstehe nicht, warum sie sich all die Jahre nicht bei mir gemeldet hat und jetzt verlangt, dass ich springe. Es sind Weihnachtsferien! Ich bleibe nur ein Wochenende und komme dann wieder zu euch zurück! Ich kenne sie doch gar nicht!«

Pippa stemmt empört die Hände in die Hüfte.

»J.J. Smith, das ist deine Großmutter! Ich denke, dass du dir erst einmal anhören solltest, was sie dir zu sagen hat! Danach kannst du sie immer noch verurteilen!«, erwidert sie entrüstet.

»Ich bin von Gott mit so viel Glück beschenkt worden. Ich wohne an diesem wundervollen Ort, habe diese wunderschöne Familie und lebe mit den begabtesten Kindern der Welt zusammen. All die Jahre habe ich gebetet, dass du auch ein wenig davon abbekommst. Ich liebe dich wie mein eigenes Kind, J.J. Aber ich kann dir die Antworten, die du brauchst, nicht geben! Die findest du nur dort draußen! Egal, ob morgen oder heute, wichtig ist nur, dass deine Großmutter dich wiedergefunden hat und du sie kennenlernen darfst. Ich bin nur traurig, weil es für mich das erste Mal ist, dass ich in den Ferien einen Teller weniger auf den Tisch stelle. Ich werde dich vermissen. Sehr sogar! Aber ich bin auch sehr glücklich, dass du ein Stück Normalität zurückbekommst!«, fährt sie besonnen fort.

Bei dem Wort »Normalität« muss J.J. schlucken.

»Wenn du wüsstest! In meinem Zimmer liegt ein Stein, mit dem ich in andere Welten reisen kann«, verunsichert sieht sie zu Zoé.

Die rettet die Situation, indem sie ihr Gesicht schmerzlich verzieht.

»Pippa, mir ist vorhin eine Vase auf den Fuß gefallen. Könntest du mal nachsehen, ob er noch zu retten ist?«, wirft sie laut in den Raum und streckt den Fuß mit dem großen Eisbeutel nach oben. Dabei verzieht sie das Gesicht ganz theatralisch. Das ist Pippas Stichwort! Seufzend eilt die Hausdame nach vorn und befiehlt Frida, sofort aufzustehen, damit Zoé den Fuß darauf legen kann. Sacht löst sie den selbst gebastelten Verband und begutachtet die Verletzung. Daraufhin holt sie eine grüne Flasche und saubere Tücher aus dem Medizinschrank.

»Wenn man nicht ständig auf euch aufpasst! Was war das denn für eine Vase, die dir den halben Fuß zertrümmert hat? Beweg doch mal bitte deine Zehen!«, ordnet sie an.