Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 01: Oma Vettel

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Zoé befolgt die Aufforderung und versucht sich zusammenzureißen, aber es tut höllisch weh.

»Gebrochen ist nichts! Aber die drei Zehen sind verstaucht. Der Nagel vom Kleinen wird sich verabschieden! Ich tupfe dir jetzt das Wunderheilmittel meiner Großmutter darauf und verbinde ihn. Schuhe sind den Rest der Woche verboten! Ab morgen sind Clogs modern! Nach der Schule gehst du aber bitte zur Schulschwester.«

Zoé unterdrückt einen Aufschrei, als Pippa ihr die verletzten Zehen verbindet. J.J. nutzt diese Gelegenheit und geht zum Herd. Sie wirft das kleingeschnittene Gemüse ins Chili und rührt beschäftigt die Zutaten in dem großen Topf um. Sie hat keine Lust mehr auf Erklärungen, da sie selbst nicht weiß, was hier vorgeht.

Als das Mahl vertilgt und das Geschirr weggeräumt ist, nehmen sich alle eine Schüssel Chips und setzen sich ins Wohnzimmer, wo es eine riesige gemütliche Couchlandschaft gibt, auf der sich manchmal über fünfzehn Schüler versammeln. Heute sind sie nur zu fünft. Fred hat inzwischen die Beleuchtung sortiert und bringt sie nach draußen, um sie aufzuhängen. Die Mädchen und Pippa legen sich auf die Couch und schauen zum einhundertsten Mal »Titanic«.

Ab und an wird J.J. wehmütig, wenn sie realisiert, dass sie das in den Ferien missen muss. An diesem Abend geht sie zufrieden ins Bett und hat auch keinen Albtraum.

Am nächsten Morgen hakt sie Zoé unter und geht mit ihr zum letzten Unterrichtstag. Morgen, am Freitag, ist die Abschlussfeier für die Abgänger und da gibt es nur Dankesreden, Catering und jede Menge Tränen. Unterwegs sammeln sie wie immer William und Felder ein. Letzterer löst J.J. ab und trägt Zoé huckepack. Heute albern eigentlich alle Schüler und Lehrer nur noch herum. Es herrscht eine ausgelassene und fröhliche Stimmung in der gesamten Schule. Alle haben Spaß und freuen sich auf den Urlaub bei ihren Familien.

Am Abend sitzen alle Campusbewohner noch einmal im Park zusammen und machen ein großes BBQ. Sie singen völlig alberne Lieder oder vertreiben sich die Zeit mit Scharade. Es ist schon spät, als die Letzten zu Bett gehen.

Zoé und J.J. sind schon ziemlich früh auf ihr Zimmer gegangen, weil sie noch ihre Koffer packen mussten.

»J.J., willst du nicht auch deine Sachen einpacken? Morgen wird es bestimmt stressig«, fragt Zoé, während sie sehr kreativ die letzten T-Shirts in ihren Koffer schmeißt.

J.J. sitzt auf der Fensterbank und lässt verträumt die Beine baumeln. Teilnahmslos starrt sie aus dem Fenster und denkt nach.

»Pippa will mir später helfen. Ich habe noch nie eine Tasche gepackt, um von hier wegzufahren. Auf jeden Fall nicht so lange. Ich warte erst mal ab. Vielleicht kommt ja gar keiner«, antwortet sie leise.

Zoé geht zu ihrem Schrank und holt ein T-Shirt heraus, um das sie eine große, pinkfarbene Schleife gebunden hat.

»Hier, das hat dir doch an mir immer so gut gefallen. Ich habe meine Mutter gebeten, mir noch eins davon zu schicken. Bitte nimm es mit und denk an mich, wenn du es trägst!«, sagt sie fast wehmütig.

J.J. springt überrascht von der Fensterbank und sieht gerührt auf das Geschenk.

»Das ist total genial! Ich werde es jeden Tag anziehen! Oh danke, Zoé. Ich werde dich so vermissen. Aber ich habe gar nichts für dich. Oder warte. Hier, nimm mein Armband. Dann hast du auch etwas, das dich an mich erinnert.«

Die Freundinnen umarmen sich und zurren gemeinsam Zoé’s überquellenden Koffer zusammen. Als Pippa dazustößt, um J.J.s Sachen zu ordnen, sträubt sie sich demonstrativ, die ganzen Ferien wegzufahren. Wenn das Hausmädchen also fünf Pullover herauslegt, legt J.J. zwei in den Schrank zurück. Am Ende hat sie gegen Pippas Argumente jedoch keine Chance. Wehrlos ergibt sie sich dem Schicksal und packt ihre gesamte Sommerkleidung in die Taschen. Als sie anschließend ihr Zimmer aufgeräumt haben, ziehen sich die Mädchen um und legen sich schlaflos ins Bett.

»J.J., wie willst du das mit dem Stein eigentlich machen?«, fragt Zoé plötzlich.

J.J. starrt in die Dunkelheit und denkt konzentriert nach. Sie knipst ihr Licht an und schlägt die Bettdecke zurück. Dann schleicht sie zur Kiste, die sie heute Nachmittag mit Zoés Cello getarnt haben, und umkreist sie. Sie geht rechts herum und links herum, dann zurück und wieder nach vorne. Sie stemmt die Hände in die Hüften, kratzt sich am Kopf, sieht ratlos zu Zoé, geht zum Fenster und öffnet es. Sie setzt sich auf das Bett, legt sich hin, steht wieder auf und geht wieder zur Kiste. Zoé macht das ganz wuschig. Sie steht auf und stellt sich neben J.J.

»Okay. Ich weiß nicht, was das ist. Aber angeblich kannst du mit diesem Stein irgendwohin reisen. Ich werde dieses Ding bestimmt nicht noch einmal anfassen! Aber hier kann er auch nicht liegen bleiben! Wenn du ihn berührst, transportiert er dich sofort in ein Paralleluniversum. Vielleicht geht es ja mit Handschuhen? Oder mit einer Schaufel? Wir müssen diesen Stein doch irgendwie wieder in diese Kiste bekommen.«

J.J. kneift die Lippen zusammen und überlegt.

»Die letzten Wochen waren echt bizarr. Menschen fliegen in meiner Gegenwart durch die Luft. Papiere beginnen, wie von Geisterhand zu schweben. Wasserhähne zerplatzen ohne ersichtlichen Grund und mein Tablett wollte Britany enthaupten. Dann bekomme ich einen seltsamen Brief von einer noch seltsameren Großmutter und dieses Ding. Ich habe im Durchschnitt Bestnoten, also bin ich nicht minderstrukturiert oder verrückt. Lass uns nachdenken, Zoé! Vielleicht hängt wirklich alles irgendwie zusammen. Gib mir noch mal den Brief von meiner Großmutter!«

Zoé holt den Brief aus der Kommode und gibt ihn J.J. Diese liest ihn sich mehrmals durch und schmeißt ihn genervt auf den Schreibtisch. Zoé gibt nicht so schnell auf und liest ihn noch einmal hochkonzentriert. Plötzlich kreischt sie laut auf und rennt zu J.J.

»Was hast du gesagt? Du hast den Garten im Traum gesehen? Bitte halte mich jetzt nicht für verrückt. Aber ich denke, dass du nicht in deinem Traum landest, sondern in deiner Erinnerung! Also in deiner Vergangenheit. Wahrscheinlich träumst du auch nicht irgendetwas, sondern verarbeitest Erlebnisse aus deiner Kindheit. J.J., vielleicht erinnerst du dich langsam wieder!«, stottert sie aufgeregt los.

J.J. stutzt und springt auf.

»Zoé. Ich träume von einem Garten mit sprechenden Blumen, die auf meine Berührungen reagieren. Die Schaukel besteht aus echten Blüten, die dennoch nicht zerreißen, wenn ich mich hineinlege. Vom Himmel kommen riesige Spinnen mit Flügeln herabgeflogen, die fürchterlich Kreischen und mich jagen. Du meinst also wirklich, dass dies meine Vergangenheit ist?«

Zoé überhört den Sarkasmus in J.J.s Stimme und hält ihr den Brief unter die Nase.

»Vielleicht träumst du ja symbolisch. Also, nur stark übertrieben. Damit du dich endlich wieder erinnerst! Lies doch mal richtig. Hier steht: Öffne das Paket und erinnere Dich! Probier es doch noch einmal aus!«

J.J. kann nicht bestreiten, dass sie Zoés These glaubwürdig findet, und fühlt sich irgendwie erleichtert.

»Okay. Wenn ich ihn anfasse, transportiert er mich in diesen Garten. Zumindest meinen Geist, denn mein Körper ist ja noch hier und dreht sich wild im Kreis. Sobald ich den Stein ablege, bin ich wieder hier. Zoé. Setz dich auf dein Bett, und wenn es zu unheimlich wird, renn hinaus!«

Sie nickt und setzt sich stocksteif auf ihr Bett.

»Äh J.J., du hast noch deinen Pyjama an. Ist das egal?«, fragt sie kichernd.

J.J. stockt einen Moment, läuft ins Bad und holt ihre Turnschuhe. Dann sieht sie ihrer Freundin tief in die Augen, hebt die Kiste hoch und betrachtet eine Weile den Stein. Nach einem tiefen Atemzug spannt sie alle Muskeln an und hebt den Stein mit einem Ruck hoch.

Die augenblickliche Veränderung bemerkt sie zuerst nur am Geruch, der ihr einen freudigen Schauer über den Rücken laufen lässt. Als sie die Augen öffnet, ist sie trotz ihrer Erwartung verblüfft. Der Anblick des Gartens ist faszinierend und angsteinflößend zugleich. Die Schönheit dieses Ortes zieht sie sofort in seinen Bann.

»Das ist ja irre. Ich kann teleportieren! Positiv: Ich kann bestimmen, wann ich hierhergehe, und der Garten ist wirklich wunderschön. Negativ: Es ist immer derselbe Ort und ich weiß nicht, wo er sich befindet oder was ich hier überhaupt soll. Neutral: Es weiß niemand davon. Na ja, außer Zoé.«

Sie hält den Stein fest in den Händen und beschließt, sich etwas umzusehen. Sicherheitshalber geht sie erst einmal den bekannten Weg zu der exotischen Blütenschaukel.

»Das ist der absolute Wahnsinn!«, jauchzt sie übermütig und schmeißt sich drauf.

Die großen Blüten umschmeicheln sie sanft und positionieren ihren Körper perfekt, sodass sie sich fühlt, als würde sie schweben. Eine lang gesuchte Ruhe überkommt sie und hält sie für einen Moment gefangen.

»Wenn ich nur wüsste, was ich hier soll«, denkt sie, während sie den Stein fest an sich presst.

Da entdeckt sie neben sich auf einer gelben Riesenblüte einen aprikotfarbenen Schmetterling. Er ist ungefähr so groß wie ihr Handrücken und schwingt leicht hin und her. Dabei scheint ihm ihre Anwesenheit überhaupt nicht zu stören. J.J. beugt sich langsam nach vorn, um ihn besser betrachten zu können. Normalerweise würde sie wahrscheinlich ausflippen, wenn sie so einen mächtigen Schmetterling entdecken täte, aber hier an diesem bizarren Ort ist das anders. Je länger sie in dem Garten verweilt, um so vertrauter kommt er ihr vor.

»Du kannst mir auch nicht sagen, was ich hier soll, oder?«, fragt sie leise, da sie das Tier nicht erschrecken möchte. Der Schmetterling öffnet langsam seine Flügel und dreht sich gemächlich in ihre Richtung. J.J. hat das Gefühl, er starrt sie an, als er sich plötzlich sanft in die Luft erhebt und davon fliegt.

 

J.J. ärgert sich darüber, dass sie das Geschöpf vertrieben hat, und lacht schließlich leise über sich selbst.

»Vor ein paar Stunden habe ich mich über ein fliegendes Tablett aufgeregt und nun sitze ich in einem magischen Garten und bin traurig, weil ein riesiger Schmetterling nicht mit ihr sprechen möchte.«

Sie wird jäh aus ihren Gedanken gerissen, als plötzlich jemand zu ihr spricht.

»Er kann es nicht! Aber ich kann dir helfen«, sagt die Stimme leise.

J.J. dreht sich verwirrt um, kann jedoch niemanden entdecken. Sie hüpft von der Schaukel und schaut noch ein Mal nach oben.

»Vielleicht hat es sich der Schmetterling ja anders überlegt.«

Aber auch über ihr kann sie kein anderes Lebewesen entdecken. Den Stein fest in der Hand, ruft sie:

»Hallo! Wer spricht denn da?«

Es erfolgt aber keine Antwort.

Sie beschließt, dass diese Reise lang genug war, und will gerade den Stein ablegen, als sie neben sich ein leichtes Rascheln vernimmt. Zu ihrem Erstaunen öffnet sich die Blüte der gelben Blume, auf der eben noch der Schmetterling saß.

J.J. tritt sicherheitshalber einen Schritt zurück. Das wundersame Gewächs ist circa einen Meter hoch und hat große Trichterblüten, die ungefähr so lang wie ihre Arme sind. Mit aufgerissenen Augen beobachtet sie das unheimliche Spektakel, da die Trichter an die Fangarme einer fleischfressenden Venusfliegenfalle erinnern, die sich nun langsam im Kreis drehen. So wie die Windräder, die Kinder im Sommer in ihren Gärten aufstellen. Die Kelche ziehen sich langsam nach oben und geben ein sanftes Gesicht, mit zwei kleinen, kugelrunden, schwarzen Augen und einem zierlichen knallroten Mund frei.

J.J. ist verblüfft, aber fürchten tut sie sich nicht. Die Blume räuspert sich und lächelt sie freundlich an. Dann verneigt sie sich tief, was J.J. etwas verunsichert. Sie überlegt, wie sie diesem Wesen gegenübertreten soll und beschließt, das zu tun, was sie am besten kann: Quasseln.

»Oh, hi! Mein Name ist J.J. Smith und ich freue mich, Sie kennenzulernen Frau, äh, Frau Blume? Ich habe diesen Stein geschickt bekommen, der mich immer wieder an diesen Ort bringt. Jetzt frage ich mich oder besser gesagt Sie, wo ich hier eigentlich bin?«

J.J. redet so hastig, dass man die letzten Worte kaum verstehen kann. Zum Abschluss ihrer Rede setzt sie noch ein entschuldigendes Lächeln auf, während sie den Stein wie ein Beweismittel in die Luft hält.

Die Blume verzieht leicht verzückt den Mund.

»Ich finde deinen richtigen Namen viel hübscher. Was soll das mit den Abkürzungen? Ich meine, bei deinem Namen mag das noch gehen. Aber ich stelle mir vor, du würdest Iris Ifelda heißen. Würdest du dich dann jetzt als I.I. vorstellen? Gar nicht auszudenken, wenn du Alberta Astha heißen würdest …Wenn du erlaubst, nenne ich dich Jezabel. So habe ich es immer getan. Meinen Namen kennst du übrigens auch. Du hast ihn nur vergessen! Aber weil ich dich so mag, werde ich heute auf Ratespielchen verzichten.«

Die Blume verbeugt sich erneut und stellt sich der verdutzten J.J. vor:

»Mein Name ist Florence.«

J.J. räuspert sich.

»Florence! Oh, freut mich dich kennenzulernen oder wieder kennenzulernen. Also, wo wir jetzt das Wichtigste geklärt haben. Kannst du mir vielleicht sagen, wo ich hier bin? Und was heißt eigentlich: So habe ich es immer getan?«, stammelt sie verwirrt.

Florence, das Sonnentrichterorakel, schließt bekennend die Augen und beginnt, feierlich zu erzählen.

»Jezabel, du bist zu Hause! Besser gesagt, in deinem Hort. Das ist der privateste Ort eines jeden Zauberwesens. Hier werden die Dinge aufbewahrt, die niemand außer dir wissen darf. Es ist quasie deine heilige Stätte. Weißt du, für jeden Besitzer eines Hortes gibt es ein bestimmtes Fleckchen Erde, an dem er sich am sichersten fühlt. Nach diesem Vorbild gestalten die Zauberreichbewohner ihren Hort. Deinen hast du an deinem 6. Geburtstag errichtet. Es ist der Garten deiner Großmutter. Das kannst du jedoch jederzeit ändern! Dieser wunderschöne Garten ist ein rein geistiger Ort und kann von niemandem außer dir betreten werden. Es sei denn, jemand würde einen Zwangszauber benutzen. Das wäre allerdings gegen das Gesetz und würde mit der Eliminierung bestraft. Hier werden alle deine Erinnerungen, Gefühle und Erlebnisse aufbewahrt. Der Stein, den du da so krampfhaft in deinen Händen hältst, ist der Wächter dieses Hortes und ohne ihn kommst du nicht hierher.

Vor etwa acht Jahren hat er dich erwählt, aber du hast ihn abgelehnt. Niemand außer dir kann ihn benutzen, da er deine Vergangenheit bewahrt und damit deine Persönlichkeit. Ohne ihn bist du nichts, außer ein gewöhnliches Wesen. Deshalb nennt man ihn auch das zweite Herz der Zauberwesen. Schau, dahinten, neben der Himbeerhecke, da steht eine Marmorsäule, auf der sich ein Granitsteinring befindet. Dort kannst du ihn ablegen. So kannst du hierbleiben, ohne ihn ständig tragen zu müssen. Na los! Leg ihn auf den Kreis. Ich denke, er hat dir viel zu erzählen!«

J.J. schüttelt ungläubig den Kopf.

»Zauberwesen? Ich bin ein Zauberwesen? Na klar! Willst du mich auf den Arm nehmen? Eine bessere Geschichte ist dir wohl nicht eingefallen? Wo gibt's denn so was? Was kommt als Nächstes? Wahrscheinlich besitze ich auch noch übernatürliche Kräfte?«

Sie legt den Kopf in den Nacken und kichert albern los. Das Sonnentrichterorakel sieht beschämt zur Seite.

»Es gibt keinen Grund, beleidigend zu werden. Es sind natürliche Kräfte, die du besitzt, da sie dir angeboren wurden. Weshalb sollte ich mir etwas Derartiges ausdenken? Und wieso ist der Gedanke, dass du ein Zauberwesen bist, so abwegig? Immerhin sprichst du gerade mit einer Blume!«

J.J. starrt betroffen auf den Stein, in ihren Händen und schluckt.

»Es tut mir leid, Florence. Ich wollte dir nicht zu Nahe treten. Aber versteh doch bitte, dass das was du da sagst, ziemlich kurios für mich klingt.«

»Aber die Dinge, die mir in den letzten Wochen passiert sind, waren auch kurios und angsteinflößend.«

Sie geht zur Marmorsäule und hebt ihren Stein über den Granitkreis.

»Aber wie kann er meine Erinnerungen aufbewahren, wenn ich ihn mit sechs Jahren abgelehnt habe?«, fragt sie plötzlich und zieht ihn ruckartig zurück.

Florence seufzt und überlegt einen Augenblick. Die Aufgabe des Sonnentrichterorakels ist, J.J. diesen Ort zu erklären. In die ungeklärten Familienangelegenheiten darf es sich jedoch nicht einmischen.

»Du hast den Stein berührt, als deine Großmutter ihn dir überreicht hat. In dem Moment wurden all deine Erinnerungen gespeichert. Mittlerweile sind es die der letzten dreizehn Jahre und elf Monate. Nur Mut! Er kann dir alle wichtigen Fragen beantworten. Es sind nur deine Erinnerungen!«

J.J. atmet tief durch und setzt den Stein mit einem Ruck auf die Marmorsäule. Als er auf dem Ring sitzt, schießt ein zartes Licht empor, aus dem kleine, funkelnde Sterne tanzen. Daraufhin ertönt ein tiefer, vibrierender Summton, so als würde man leicht an einer Gitarrensaite zupfen. Der Ton breitet sich in großen Wellen aus und dringt tief in J.J. ein. Sie geht einen Schritt zurück und dreht sich verunsichert zu Florence.

»Wenn du bereit bist, kannst du dir jetzt deine Erinnerung zurückholen«, spricht das Sonnentrichterorakel ruhig.

J.J. wartet einen Moment, aber es passiert nichts.

»Und was jetzt?«, fragt sie schnippisch.

Florence seufzt.

»Ach ja, richtig. Vergessenszauber heißt, alles zu vergessen! Auch wie das Lythargium funktioniert. Du musst dir vorstellen, was du sehen möchtest. Zum Beispiel deinen ersten Geburtstag. Dann entscheidest du, wie du diesen Rückblick wahrnehmen willst. Möchtest du sie nur sehen, stell dir eine Kinoleinwand vor oder einen dieser modernen Fernsehapparate. Du kannst deine Erlebnisse so zurückrufen, wie du es möchtest. Du kannst dich auch direkt in eine Erinnerung schleusen und dich mitten in dem Szenario bewegen. Aber davon würde ich dir im Moment noch abraten! Deine Erinnerungen sind noch nicht vollständig und du könntest dich in solch einer Szene verirren. Das ist dir leider schon einmal vor acht Jahren passiert. Fang lieber langsam an. Na los! Probiere es aus!«

J.J. schließt die Augen und seufzt.

»Das hört sich alles ganz schön gruselig an. Okay, ich muss jetzt einfach nur die Nerven behalten! Vielleicht ist es ja doch nur ein Traum.«

Sie atmet tief durch und sagt dann ganz schnell:

»Zeig mir meinen ersten Geburtstag auf einer riesigen Kinoleinwand!«

Etwas Besseres fällt ihr in diesem Moment nicht ein.

Da erscheint dort, wo gerade noch die Himbeerhecken standen, eine gigantische Kinoleinwand, die von zwei schweren, roten Samtvorhängen eingesäumt wird. So wie die in den richtigen Kinos. Vor Schreck tritt sie einen Schritt zurück und sieht sich ängstlich um. Florence und die Bäume sind noch da, aber die Blütenschaukel hat sich in einen mondänen Kinosessel verwandelt. Sie zögert einen Moment und setzt sich vorsichtig in den Sitz, der erstaunlich bequem ist, sodass sie sofort entspannt. Erwartungsvoll wartet sie, was nun passiert.

Als der Garten sich verdunkelt, atmet sie tief durch und starrt gespannt auf die Projektionsfläche. Eine leise Klaviermusik ertönt und sie kann den Geruch von frischem Popcorn wahrnehmen. Da erhellt sich endlich die Leinwand. Vor Aufregung rutscht J.J. tiefer in den Sitz. Sie überlegt, ob sie nicht doch lieber weglaufen soll, da sie vor dem, was sie jetzt sehen wird, auch Angst hat.

Da erscheinen die ersten Bilder und ziehen sie augenblicklich in ihren Bann. Am Anfang bilden tanzende Buchstaben den Satz »Josie Jezabel Smiths erster Geburtstag!«

Als sie verblassen, geht der Film los:

Ein kleines, fröhliches, blond gelocktes Mädchen mit einer glitzernden Krone auf dem Kopf steht vor einer mehrstöckigen Geburtstagstorte. Es ist aufgeregt und klatscht unentwegt in seine Händchen. Es winkt in die Kamera und zeigt wie in einem Werbespot auf die gigantische Geburtstagstorte, auf der winzige Ballerinas um Schlösser aus bunter Sahnecreme tanzen. Fanfarenbläser stehen auf der Spitze und feuern in regelmäßigen Abständen knallbunte Bonbons aus Kanonen ab. Das Mädchen springt aufgeregt herum und versucht sie alle aufzufangen.

J.J. kann sich nicht wirklich daran erinnern. Aber diese Aufregung kommt ihr sehr vertraut vor.

Plötzlich dreht sich das kleine Mädchen um und starrt J.J. direkt in die Augen, so als könne sie sie sehen. Eine Stimme, die J.J. vertraut scheint, lenkt das Mädchen im Film ab.

»So, kleine Prinzessin. Schau mal hierher!«

Das kleine Mädchen macht einen Luftsprung und jauchzt. Die Kamera schwenkt mit und zeigt eine Reihe erwachsener Personen. J.J. lehnt sich nach vorn, da sie ihren Augen nicht traut. Zwischen den Menschen tummeln sich sehr seltsame Wesen. Und da kommt eine junge, blonde Frau ins Bild und nimmt das Geburtstagskind auf den Arm. Sie stellt sich vor die Runde und herzt das Geburtstagskind, das gerade einem gruseligen Wesen einen Luftkuss zuwirft.

»Das ist meine Mama«, flüstert J.J. traurig.

Ein großer, schlanker, dunkelhaariger Mann geht lächelnd auf die beiden zu und stellt sich neben sie. Dann singen Alle ein fröhliches Geburtstagsständchen.

J.J. sieht sich die Runde an und bemerkt, dass sie plötzlich die meisten Menschen und Wesen wiedererkennt. Ihre Erinnerungen erwachen und kehren behutsam zurück, so wie aus einem langen, tiefen Schlaf. Trotzdem hat J.J. Mühe, die Gefühle, die diese Erinnerungen mit sich bringen, zu kontrollieren.

»Da sind Papa und Großmutter Vettel! Und da ist Flick«, ruft sie aufgewühlt und setzt sich noch ein Stück weiter nach vorn, um die Gäste besser erkennen zu können. Alles in ihrem Körper vibriert.

Vor Aufregung bläht sich ihr Magen weit auf, während ihr Puls wie wild rast. Nun beginnen Erinnerungsfetzen, wie Fotografien, vor ihrem geistigen Auge aufzublitzen. Zusammenhanglose Stimmfetzen, Gerüche, Bilder und ein Wirrwarr tiefer, unbekannter Gefühle durchdringen sie und verursachen ein innerliches Chaos. Das ist zu viel für J.J. und um sie herum beginnt sich plötzlich alles zu drehen.

Sie hält sich die Augen zu, da ihr furchtbar zumute ist.

»Aufhören!«

Sie versucht den Brechreiz zu unterdrücken.

In diesem Moment ist der Film vorbei.

J.J. sitzt vornübergebeugt auf der Schaukel und vergräbt ihr Gesicht in den Händen.

»Mir ist furchtbar schlecht«, flüstert sie.

 

Das Sonnentrichterorakel räuspert sich verlegen.

»Ich sagte ja, dass es besser ist, langsam anzufangen. Brauchst du ein Glas Wasser?«

Sie schüttelt den Kopf und steht vorsichtig auf, da sie Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten.

»Florence, ich kann mich wirklich an manche Dinge erinnern!«

Sie hält inne und beginnt zu schluchzen. Der Baum, hinter der Schaukel, neigt schützend einen Zweig über sie und streicht ihr sanft über den Rücken.

»Ich kann mich wieder erinnern! Meine Mama und mein Papa. Da war dieser Unfall kurz nach diesem Geburtstag. Meine Eltern haben mir gesagt, dass ich mich unter dem Sitz verstecken solle. Sie sagten, es sei ein Spiel. Es gab einen lauten Knall und meine Mama hat furchtbar geschrien. Ich habe mir die Ohren zugehalten und dann wurde es dunkel. Als ich die Augen wieder öffnete, war ich bei Großmutter. Sie sind dabei gestorben, stimmts? Es war kein Spiel. Sie sind geflohen! Sie wollten mich wegbringen. Ich kann mich vage erinnern, dass Papa und Großmutter gestritten haben. Aber es sind nur Fetzen. Ich war noch so klein. Doch ich erinnere mich, dass er gesagt hat, er werde nicht zulassen, dass die mich bekommen. Ich weiß nicht, wer »Die« sind, aber es hat etwas mit dem dunklen Ding zu tun, das ich in meinen Träumen gesehen habe. Es ging um Hexen, nicht wahr?«, schreit sie dem Sonnentrichterorakel entgegen.

Sie muss innehalten, da ihr wieder schwarz vor Augen wird. Vorsichtig setzt sie sich zurück auf die Schaukel.

»Ich muss das alles jetzt erst einmal irgendwie einordnen. Das ist alles ein bisschen viel. Florence, vielleicht klingt es verrückt, aber ich glaube, meine Großmutter ist eine …«

J.J. schüttelt den Kopf und beendet schließlich flüsternd den Satz.

»Ich glaube, sie ist eine Hexe! Wenn mich meine Erinnerungen nicht täuschen, ist sie sogar eine von den Bösen.«

Sie springt auf und lacht hysterisch.

»Aber das gibt es doch alles gar nicht! Hexen und Zauberwesen. Bin ich etwa verrückt? Was ist das für ein Spiel?«

Entrüstet dreht sie sich zu Florence und sieht ihm zornig in die Augen. Das Blumenorakel räuspert sich verlegen. Es wusste, dass es ein schwieriger Moment werden würde, wenn ihre Erinnerungen zurückkommen, aber nun fühlt es sich mehr als unwohl.

»Wieso sollte ich denken, dass du verrückt bist? Weil du dich daran erinnerst, dass deine Großmutter eine Hexe ist? Sieh dich um, Jezabel. Du stehst in einem Zaubergarten und siehst dir einen Kinofilm an. Du redest mit einer Blume! Also, wieso sollte ich denken, dass du verrückt bist? Es ist kein Ratespiel, J.J. Es ist deine Vergangenheit!«

Sie legt den Kopf in den Nacken und prustet los.

»Ich dachte, so etwas gibt es nur in Filmen. Das ist ein Hammer! Meine Biografie ist wirklich einzigartig! Britany Hoilding hat wahrscheinlich recht und ich gehöre in ein Irrenhaus! Zum Glück weiß niemand etwas davon. Noch nicht!«

Sie setzt sich im Schneidersitz auf die Schaukel und schaut dem Sonnentrichterorakel eindringlich in die Augen.

»Meine Großmutter ist also eine böse Hexe und ich gehe davon aus, dass ich auch eine werden soll. Ich erinnere mich an einen anderen Geburtstag. Verbessere mich, falls ich mich irre. Es war in Großmutters Haus und ich war so glücklich. Alle meine Freunde waren da und Broaf, mein geliebter Broaf. Der Geruch seines Aftershaves war der betörende Duft, den ich in meinen Träumen wahrgenommen habe. Auf jeden Fall hat Großmutter mir dieses Päckchen überreicht und da war dieser Stein drin. Ich war stinksauer und dann weiß ich nicht mehr weiter. Aus irgendeinem Grund war ich sehr böse auf sie. Ich bin in den Garten gerannt und … Oh Florence, wie konnte ich das die ganzen Jahre nur vergessen? Ich meine, wie kann man vergessen, dass man eine böse Hexe als Großmutter hat?«

J.J. ist völlig durcheinander. Sie streicht über den Blütensitz und betrachtet den Garten nun mit anderen Augen.

»Was ist damals passiert, Florence? Warum hat Großmutter mich weggeschickt?«, fragt sie leise.

Das Sonnentrichterorakel versucht eine Träne zu unterdrücken, die ihm trotzig über das Gesicht rinnt, und räuspert sich erneut.

»Sie tat es, weil sie dich über alles liebt! Deine Familie ist seit Jahrhunderten dem dunklen Phad verpflichtet. Aber vergiss bitte die Märchen, die sich die Menschen über mächtige Hexen erzählen. Vettel ist keineswegs bösartig! Aber daran wirst du dich hoffentlich bald wieder erinnern. Der Hexenrat hat deine Großmutter einen Tag vor deinem sechsten Geburtstag darüber informiert, dass dein Gedankenstein in Xestha gehoben wurde. Das heißt, du hattest offiziell deine magische Reife erlangt und eigentlich in den dunklen Phad gehen müssen. Aber du warst als Kind schon äußerst konsequent und hast dich vehement dagegen gesträubt. Du wolltest einfach nicht als Hexe leben.

Da deine Großmutter dich über alle Maße liebt, hat sie daraufhin eine Entscheidung getroffen, um dich zu schützen. Deine Urgroßmutter hat einen großen Zauber entwickelt, den wir schlicht den »Vergessenszauber« nennen. Und der macht genau das, was er aussagt. Er raubt dir deine Erinnerungen, und unterdrückt gleichzeitig die Magie, die jedem Zauberwesen innewohnt. Dieser Zauber ist ein mächtiger, dunkler und böser Zauber, da er in den freien Willen eines Lebewesens eingreift.

Darania, die Oberhexe, ist seitdem besessen davon, ihn zu besitzen, da er nur deiner Familie gehört. Deine Großmutter ist nicht so, wie sie nach außen erscheint, meine Liebe. Sie hat mit diesem Zauber schon einigen Wesen das Leben gerettet. Ja, das hat sie! Daranias Späher, die Skulks, können dich aufgrund der Magie, die in dir liegt, überall im Universum orten. Wenn du allerdings alles vergisst und damit auch deine Magie, ist das nicht mehr möglich. Sie wollte dich damit schützen. Sie hatte bei Mrs. Rogan noch etwas gut, also hat sie dich am Abend deines sechsten Geburtstages in das Internat gebracht. Anschließend hat sie zwei Monate nur geweint.«

Das Sonnentrichterorakel seufzt ausgiebig und schüttelt eine weitere Träne aus seinem Gesicht.

J.J. sieht Florence nachdenklich an, während sich ihre Erinnerungen wie ein Puzzle zusammenfügen. Die intensiven, unerträglichen Gefühle und der Druck im Bauch lassen jedoch nach.

»Was ich nicht verstehe. Warum wollten meine Eltern schon fünf Jahre vorher mit mir fliehen, wenn ich erst mit sechs Jahren in den dunklen Phad sollte?«, fragt sie versonnen.

Das Sonnentrichterorakel weiß, dass sie schon viel zu lange in seinem Hort ist und versucht nun, es auf behutsame Weise, darauf aufmerksam zu machen.

»Das ist alles sehr kompliziert, Jezabel. Das muss dir deine Großmutter selbst erklären. Es ist wichtig, dass du ihr vertraust. Sie erwartet dich übrigens schon sehnsüchtig. So wie die restlichen Bewohner auch. Wir haben dich alle sehr vermisst! Am schlimmsten war es allerdings für Lincoln!«

Als J.J. diesen Namen hört, lächelt sie, da sie sich auch an Lincoln erinnern kann.

»Das ist der halbe Hund aus meinen Träumen!«

Florence nickt bekennend und fährt fort.

»Ja, das ist er. Aber wir nennen ihn Halbtagshund.«

Das Sonnentrichterorakel schielt verstohlen zu J.J., die mit weit geöffneten Augen auf der Schaukel sitzt und nachdenkt. Immer wieder blitzen neue Erinnerungen in ihr auf. Sie steht auf und geht zu Florence.

»Ich bin froh, dass ich hier bin. Ich verstehe zwar nicht, warum ich gerade jetzt wieder nach Hause darf. Aber im Moment ist mir das egal. Ich weiß nur nicht, wie ich das meiner Freundin erklären soll. Meinst du, ich sollte ihr sagen, was ich herausgefunden habe?«

Florence sieht J.J. fragend an und beginnt zu grinsen.

»Natürlich solltest du ihr das sagen. Sie wird dir jedoch nicht glauben! Es gibt so viele von deiner Art, die in der realen Welt leben, die es nicht einmal vertuschen, weil die Menschen ihnen sowieso nicht glauben. So ist das in der realen Welt. Seit Anbeginn der Zeit suchen die Menschen nach Wundern und Zauberwesen. Sobald sie jedoch vor ihnen stehen, zweifeln sie deren Wahrhaftigkeit an! Also, geh zurück in dein Internat und erzähle deiner Freundin, dass deine Großmutter eine böse Hexe ist. Sag ihr, dass du auch eine bist! Aber lass mich bitte wissen, wie sie reagiert hat.«