Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 01: Oma Vettel

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»Hm, hier riecht es aber lecker! Der Duft ist bis hinauf in mein Schlafzimmer gedrungen. Was gibt es denn Gutes?«, fragt die seltsame Gestalt.

J.J. holt erleichtert Luft und macht dem wunderlichen Gesellschafter Platz.

»Hallo Lincoln. Ich muss mich erst wieder daran gewöhnen, dass ich ab sieben Uhr abends mit einem Hinterteil reden muss!«, sagt sie kichernd, was der kleine Halbtagshund leider nicht so amüsant findet. Er hopst auf die Eckbank und seufzt.

»Ich hoffe, es ist dir nicht zu unangenehm! Bevor du in das Internat gebracht wurdest, habe ich bei dir im Zimmer gewohnt. Manchmal durfte ich sogar mit im Himmelbett schlafen! Aber Oma Vettel meint, dass Mädchen in deinem Alter das nicht mehr so gerne mögen. Sie war sehr angespannt in den letzten Wochen. Ich mag sie jedoch lieber aufgeregt als so tieftraurig wie in der Zeit, nachdem du weg warst. Na ja, wir waren alle sehr traurig. Selbst das Haus! Furchtbar war das! Alles war düster, dunkel und kalt. Wenn man an deinem Zimmer vorbeikam, hat es immer unglaublich furchterregende Geräusche gemacht. So wie in diesen Gruselfilmen. Alles nur deshalb, damit bloß niemand hineingeht. Ich habe gehört, dass es dir jetzt ein besonders schönes Zimmer arrangiert hat?«

J.J. nimmt einen Schluck Limonade und schiebt sich an Lincoln vorbei. Sie geht zum Kühlschrank und öffnet die Tür.

»Zimmer ist leicht untertrieben. Es ist eher ein Luxus-Apartment, und wenn du möchtest, kannst du gern wieder bei mir einziehen. Hast du Lust auf Hühnchenburger oder Pommes?«, fragt sie, während sie bis zu den Knien in dem Kühlschrank verschwindet, um sich Nachschlag zu holen.

»Ich nehme nur einen Burger, wenn du einen übrig hast.«

J.J. kommt hervor und zeigt verlegen auf den üppigen Inhalt. Ein paar Sekunden herrscht Stille, dann quietscht der kleine Halfie erschrocken los:

»Ach herrje. Da hast du aber großen Appetit gehabt. Davon werden ja alle Bewohner von Havelock satt! Wie lange soll denn dieser Vorrat reichen?«

J.J. zuckt verlegen mit den Schultern und erklärt ihm, wie es zu der Misere kam.

Jetzt kichert der Halbtagshund.

»Ja, das ist noch ein älteres Modell. Du musst ihm genau sagen, was du haben möchtest. Vorallem auch die exakte Anzahl! Jetzt müssen wir lange Burger und Pommes essen. Das wird Oma Vettel gar nicht gefallen. Sie achtet nämlich streng darauf, dass wir uns ausgewogen ernähren. Soweit ich weiß, erwartet sie morgen Abend auch ein paar Gäste aus dem dunklen Phad. Da braucht sie den Kühlschrank.«

J.J. verdreht die Augen und lässt den Kopf nach vorne fallen.

»Super! Und jetzt?«, fragt sie genervt und sieht gerade noch ein Stummelschwänzchen aus der Tür flitzen.

»Na dann, auf Wiedersehen«, blafft sie Lincoln hinterher und nimmt sich frustriert noch einen weiteren Burger, der mittlerweile nur noch lauwarm ist.

Ein paar Minuten später hört sie ein stetig anschwellendes Gemurmel und Getrappel aus dem Flur, das sich in ihre Richtung zu bewegen scheint! Sie lauscht einen Moment lang angespannt und steht auf, als plötzlich die Tür aufspringt. Diggler, Lincoln, Flick, Henry McMuffel, Bomber, Marley, Bog, Hubert, Geoffrey, Klank, Glubert, Morten aus dem Geisterzoo, Rosie, die Tentakelschlange, und Xinthalius, die Hauskatze, kommen in die Küche gestürmt und stellen sich vor den Kühlschrank. Klank, der Affe, klettert auf Digglers Rücken und öffnet die Kühlschranktür. Daraufhin geht alles sehr schnell.

Der Affe schmeißt der Meute Burger und Pommes frites zu, die sich gierig draufstürzt und sie genussvoll verschlingt. Nach einer halben Stunde ist nichts mehr übrig außer der Orangenlimonade. J.J. sieht mit aufgerissenen Augen zu, wie die Halfies und der Geisterzoo auf oder neben der Eckbank sitzen und die letzten Reste der Burgerparade verspeisen.

»Danke, dass ihr mir aus der Patsche geholfen habt«, sagt sie erleichtert und zwinkert Lincoln dankbar zu.

Dann steht sie auf und beginnt den Müll wegzuräumen.

»Das Papier kannst du Afrim geben«, sagt das Werschwein, als es bemerkt, wie J.J. verzweifelt einen Mülleimer sucht.

»Okay und wer ist Afrim?«

Diggler kommt auf sie zu und nimmt ihr ein Stück Papier ab. Er schleppt es zu der offenen Feuerstelle in der Felswand und legt es in die Öffnung. Danach geht er zurück und holt das Nächste. J.J. sieht zum Feuerloch und traut ihren Augen nicht. Eine kleine, bläuliche Flamme, vielleicht so groß wie eine Streichholzschachtel, kommt angetanzt und stürzt sich auf das Papier. Während sie frisst, wird sie größer und ändert ihre Farbe. Zuerst ist die Flamme blau, schließlich wächst sie und wird gelb. Mittlerweile ist es ein stattliches Feuer, das orangerot glüht. Die Flamme schmatzt und beginnt am Rande des Feuerloches umherzutanzen.

»Das ist Afrim. Er ist ein Feuerdämon. Ich glaube, er wartet auf das Dessert! Gib ihm schnell das restliche Papier, sonst wird er wieder launisch«, meint Diggler und zeigt mit dem Kopf auf die Feuerstelle.

J.J. nimmt zögerlich den Rest Müll und geht hinüber. Sicherheitshalber bleibt sie in einem Meter Entfernung stehen und wirft ihn hastig hinein.

»Bitte schön, Afrim«, sagt sie höflich und stolpert erschrocken zurück, da die Flamme sich plötzlich keuchend vor ihr aufbäumt und zu einer großen, fast menschlichen Gestalt formt! Afrim glüht blutrot und gibt eine schier unerträgliche Hitze frei. Sie weicht zurück und kann sich gerade noch an der Kochinsel abfangen, bevor sie stürzt.

Waren alle Bewohner und Geschöpfe dieses Hauses bis jetzt kauzig, niedlich oder freundlich, so macht ihr dieser Dämon große Angst. Es ist nicht sein Äußeres oder die Gier, mit der er sich auf das Papier gestürzt hat. Es sind die Geräusche, die er dabei von sich gibt. Irgendetwas Unheimliches blitzt in ihr auf. So etwas wie eine unangenehme Erinnerung, die sie abgespalten hat und die nun mit aller Macht versucht, wieder sichtbar zu werden. Aber wirklich einordnen kann sie diese Empfindung nicht. Zudem ist da noch dieser furchtbare Gestank. Er ist schwer und dringt nicht durch die Nase, sondern direkt durch den Mund in ihren Körper, sodass sie ihn als Erstes schmecken muss. Schwefel, Aas, Fäulnis, es ist ein stechend böser Geruch und ein noch ekelhafterer Geschmack! Zum ersten Mal bekommt sie zu spüren, dass sie sich im Haus einer bösen Hexe befindet. Voller Abscheu starrt sie auf den Dämon, der unter der Asche gierig nach Resten sucht und dabei unablässig stöhnt.

»Ekelerregend«, denkt sie und wendet sich ab.

»Ich werde jetzt zu Bett gehen, da ich morgen früh pünktlich beim Frühstück sein will. Danke für deinen Notruf, Lincoln! Du hast mir echt den Abend gerettet. Morgen packst du deine Klamotten und ziehst bei mir ein!«

Sie zwinkert in Richtung der beiden Hinterläufe und geht hinauf in ihr Zimmer. Eilig verschließt sie die Tür und rennt ins Badezimmer. Sie schrubbt sich intensiv die Zähne, weil sie hofft, so diesen widerlichen Geschmack loszuwerden und gurgelt anschließend mehrmals ausgiebig. Nach einer sorgfältigen Nasenspülung, legt sie sich erschöpft ins Bett und dieses Mal lässt sie das Nachtlicht an.

Kapitel 6
Plötzlich Prinzessin!

Ein monotones, quietschendes Schleifgeräusch weckt J.J. unsanft auf. Sie schreckt hoch und sieht sich verwirrt um.

»Das Apartment ist noch da! Ich habe immer noch Halsschmerzen und Kopfweh und meine Großmutter ist wirklich eine dunkle Hexe. Aber das weiß niemand von meinen Freunden!«

Sie schlägt die Decke beiseite und entdeckt dabei am Fußende ihres Bettes eine rote Satindecke, die gestern Abend noch nicht da lag. Vorsichtig schleicht sie um ihr Bett, vor dem nun ein königliches, blaues Hundekörbchen steht, das von zahlreichen Beschäftigungsartikeln für Vierbeiner umzingelt wird. Als der lästige Quietschton ihr erneut die Haare zu Berge stehenlässt, starrt sie auf die Zimmertür, die sich jetzt nach innen aufschiebt. Lincoln kommt rückwärts hineingekrochen und zerrt einen riesigen Knochen hinter sich.

»Guten Morgen, Lincoln. Wie ich sehe, verschwendest du keine Zeit. Ein wunderschönes Körbchen hast du da. Wo hast du eigentlich die letzten Jahre gewohnt?«

Sie setzt sich im Schneidersitz neben das Hundekörbchen und wartet auf eine Antwort. Der Halbtagshund schleckt sich vor Aufregung die Nase.

»Ich habe mir mit Diggler ein Zimmer geteilt. Weißt du, er ist mein bester Freund. Aber mit seinem Mondgeheul und Transformationsgeschichten macht er mich einfach wahnsinnig! Als du damals plötzlich weg warst und das Haus dein Zimmer versperrte, war Diggler jedoch der Einzige, der mich aufgenommen und ohne zu zögern die Hälfte seines Zimmers angeboten hat. Ich war ja plötzlich obdachlos! Hör mal J.J., Broaf hat das Frühstück fertig. Wollen wir hinuntergehen? Ich habe großen Hunger.«

J.J. krault den kleinen Mops noch einen Moment und dann gehen beide vergnügt hinab in die Küche. Die Eckbank, die sie heute Nacht noch für sich alleine hatte, ist nun vollständig besetzt. Sie gibt ihrer Großmutter ein Küsschen auf die Wange und haucht Broaf einen Luftkuss zu. Anschließend setzt sie sich neben die Schneefrau Yeta an den üppig gedeckten Tisch.

»Ich werde hier mindestens zwanzig Pfund zunehmen«, denkt sie laut und schnappt sich im selben Augenblick einen köstlichen Pfannkuchen.

»Oh, übrigens wusste ich nicht, ob es für das Frühstück einen Dresscode gibt. Ich meine, wenn es jemanden stören sollte, dass ich im Pyjama herumlaufe, gehe ich natürlich sofort nach oben und ziehe mich an. Ich wusste nur nicht, ob ich mich vielleicht noch einmal hinlege. Ich habe nämlich furchtbare Halsschmerzen!«

Oma Vettel läuft beunruhigt zu ihrer Enkelin und fordert sie auf, den Mund zu öffnen. J.J. streckt die Zunge heraus und krächzt ein lautes »Aaaah«.

 

»Oh je, das sieht gar nicht gut aus! Deine Mandeln sind ganz rot. Wahrscheinlich von dem Flug. Du warst früher schon so empfindlich. Wie konnte ich das nur vergessen? Nach dem Frühstück bleibst du gleich hier, damit ich dir einen Kräutertee aufbrühen kann!«, sagt sie besorgt und fasst ihr an die Stirn.

»Fieber hast du nicht. Das ist schon mal gut. Du frühstückst jetzt und anschließend verarzten wir dich richtig!«

J.J. zieht eine Schnute und verdreht die Augen.

»Kräutertee? Kannst du die Schmerzen nicht einfach weghexen?«, fragt sie beleidigt und sieht ihre Großmutter mit großen Augen an.

Vettel, die gerade einen Schluck Tee trinkt, hält inne und sieht sie brüskiert an.

»Meine liebe Jezabel. Es gibt wahrscheinlich für alles einen Zauber. Höchstwahrscheinlich sogar einen, der dir die Fingernägel sauber macht! Allerdings wäre das Leben auch für uns Hexen sehr langweilig, wenn wir alles nur mit Magie erledigen würden! Außerdem möchte ich dich daran erinnern, dass du die Hexerei eigentlich ablehnst! Ich denke also, dass dir nichts anderes übrig bleiben wird, als meinen berühmt berüchtigten Kräutertee zu trinken!«

Die übrigen Bewohner am Tisch nicken Oma Vettel zustimmend zu, während J.J. mit einem leicht verbitterten Gesichtsausdruck in ihren Pfannkuchen beißt. Am Tisch sitzen viele ihrer nächtlichen Retter und noch ein paar andere Wesen, die sie noch nicht kennt. Alle reden durcheinander und besprechen den Plan für den heutigen Tag. So wie J.J. es versteht, hat jeder eine feste Aufgabe und die Außergewöhnlichen teilen sie beim Frühstück untereinander auf. Lincoln hatte recht. Heute Abend gibt Oma Vettel ein großes Dinner, zu dem auch Gäste von außerhalb geladen sind. Deshalb möchte sie, dass alles perfekt ist, und hat sich für ein karibisches Flair entschieden.

»Wie wäre es mit einem Picknick auf Sandbänken?«, fragt Henry McMuffel konzentriert.

Der Geisterfrosch sitzt vor seinem Block und macht sich unentwegt Notizen.

»Nein, Henry. Das hatten wir schon einmal. Ich musste die ganze Zeit auf Sandkörnern herumkauen und hatte danach keinen Belag mehr auf der Zunge. Ich möchte mein Essen genießen und bequem sitzen können. Ich bin leider keine dreißig Jahre mehr!«

J.J. verfolgt aufmerksam das Geschehen und möchte sich gern mit einbringen.

»Darf ich bei der Dekoration helfen? Ich bin wirklich gut, denke ich. Außerdem will ich nicht nur herumsitzen und nichts tun.«

Mit einem Schlag herrscht Stille, während die Anwesenden sie merkwürdig anstarren.

Oma Vettel ist die Erste, die reagiert.

»Natürlich nicht! Es ist ein Abendessen zu Ehren deiner Heimkehr. Da kommen auch etliche Bewohner aus dem Zauberreich, die dich unbedingt kennenlernen möchten. Du solltest auch erst einmal gesund werden. Außerdem wollten wir uns noch das Haus ansehen und ein wenig über das Vergangene sprechen. Henry macht das hervorragend und ich bin mir sicher, dass er das alleine schaffen wird!«

Die alte Dame stupst den halbdurchsichtigen Frosch auf die Nase, der vor Verlegenheit ganz durchsichtig wird.

J.J. beobachtet das Treiben und legt ihren Löffel enttäuscht beiseite. Sie versucht sich zu beruhigen, aber es nicht ihre Art, Ärger einfach hinunterzuschlucken. Deshalb räuspert sie sich laut und sieht forsch durch die Runde.

»Ich habe bis vor drei Tagen nicht einmal gewusst, dass ich noch eine Großmutter habe, die in Havelock auf einem verwunschenen Anwesen lebt und dazu noch eine dunkle, böse Hexe ist. Auch wenn ihr euch alle an mich erinnert, ist es für mich noch sehr seltsam. Ich wollte mich nur ein wenig nützlich machen! Ich freue mich darüber, dass so viele Menschen und Wesen des Zauberreiches und weiß ich was noch alles, sich darüber freuen, dass ich wieder da bin. Aber für mich ist das alles noch suspekt! Vielleicht wäre ich gern gefragt worden, ob ich ein solches Dinner, wo übrigens auch wieder nur Hexen und Zauberwesen eingeladen sind, überhaupt haben möchte! Ich meine, Entschuldigung, aber vor acht Jahren hast du einen riesigen »Vergiss-uns-für-immer-Zauber« bei mir angewendet. Das übrigens auch wieder, ohne mich zu fragen. Und jetzt, nach acht Jahren, bin ich wieder hier und sitze mit einer Meerjungfrau in einer riesigen Blase, einer Schneefrau aus Eis, einem halben Hund und einem Geisterfrosch in der Küche und esse Pfannkuchen und Cornflakes. Ich soll also so tun, als ob es das Normalste auf der Welt sei? Ich möchte erst einmal ein paar wichtige Fragen beantwortet haben oder ich reise sofort wieder ab!«

J.J. schmeißt wütend ihre Serviette auf den Tisch und rennt beleidigt aus der Küche. In ihrem Zimmer schmeißt sie die Tür hinter sich zu, damit auch jeder mitbekommt, dass sie wirklich stinksauer ist. Mit einem Mal, beginnt sich in ihrem Kopf alles zu drehen. Erinnerungsfetzen ohne erkennbaren Zusammenhang blitzen auf und machen J.J. völlig konfus.

»Es geht alles viel zu schnell!«

Sie singt zu Boden und schlägt sich die Hände vor die Augen, in der Hoffnung den Brechreiz unterdrücken zu können. Nach wenigen Minuten ist es wieder vorbei. Als sie aufsteht, entdeckt sie ihre Koffer und die Kiste mit dem Gedankenstein. Sie geht hinüber und wirft das Gepäck aufs Bett.

»Vielleicht sollte ich abreisen! Oh Gott, ich würde so gern mit Pippa telefonieren. Aber ich habe keinen Empfang hier. Das ist doch alles Wahnsinn! Das Haustelefon benutze ich lieber nicht. Vielleicht hört jemand mit. Hier muss man mit allem rechnen!«

Sie holt ein paar Kleidungsstücke heraus und zieht ihre alte Lieblingsjeans und ein selbst geschneidertes braunes T-Shirt an. Dann setzt sie sich an den Schreibtisch und verharrt ein paar Minuten in wütenden Gedanken. Schließlich steht sie wieder auf und öffnet die Kiste mit ihrem Gedankenstein.

»Florence hat gesagt, ich kann mir jeden Ort der Welt als meinen Hort aussuchen. Von dem ganzen Zauber hier habe ich im Moment die Nase voll. Ich muss aber herausfinden, was passiert ist!«

Sie schließt die Augen und stellt sich Pippas Wohnzimmer vor. Als sie jedes Detail in ihren Gedanken wahrnehmen kann, nimmt sie den Gedankenstein in die Hand.

Wie zuvor, ist sie im nächsten Augenblick in ihrem Hort. Nur dass sich dieser nun in Pippas Wohnzimmer befindet. Sie schaut sich kurz um und atmet erleichtert aus. Alles ist so, wie sie es kennt, nur dass weder Pippa noch andere Bekannte aus Marton da sind. J.J. sucht nach der Marmorsäule und entdeckt sie neben dem großen alten Sekretär. Vorsichtig legt sie den Gedankenstein ab und wartet auf das sanfte Licht. Sie setzt sich auf die Couch und holt tief Luft, während sie sich wehmütig im Zimmer umsieht. Schließlich konzentriert sie sich auf ihre Fragen.

»Zeig mir den letzten Tag im Haus meiner Großmutter. Den Tag, als ich ins Internat kam. Ich nehme dafür den Fernsehapparat.«

Sie hat es noch nicht ausgesprochen, da schaltet sich das Fernsehgerät an. Nach einer kurzen Einleitung, die ihr bestätigt, dass sie nun die Erinnerungen an ihren sechsten Geburtstag abruft, beginnt ein Film. Da sie nichts hören kann, sucht sie kopfschüttelnd die Fernbedienung und stellt den Ton an.

»Manchmal ist Zauberei albern.«

In Gedanken sieht sie sich selbst als sechsjähriges Mädchen, wie sie auf Flick durch das üppig geschmückte Haus ihrer Großmutter hüpft.

Als J.J. diese Bilder betrachtet, durchströmt sie ein Gefühl höchster Freude. Das steigert sich noch, als sie sieht, wie sie mit Xinthalius ihre Geburtstagstorte anschneidet und in fröhlicher Runde mit den Bewohnern des Hauses beisammensitzt.

Abrupt wird das Bild düsterer. Die Kamera schwenkt ab und sie sieht sich nun mit Oma Vettel und Broaf im Esssalon. Sie starrt auf die Holzkiste, während ihre Großmutter das Lythargium erklärt. Als Nächstes sieht sie mit Entsetzen, wie sie sich mit dem Stein dreht, bis sie in einem schwarzen Wirbel verschwindet. Ihre Großmutter beginnt plötzlich wild zu gestikulieren, während Broaf versucht, sie zu beruhigen. Dann fällt der Stein zu Boden und sie, also ihre sechsjährige Vergangenheit, schreit Vettel an. Sie hört sich sagen, dass sie niemals eine Hexe werden wolle, worauf sie wütend in den Garten rennt.

J.J. setzt sich auf und sieht sich die letzten Minuten, bevor ihre Großmutter den Vergessenszauber ausspricht, genau an. Mit weit geöffneten Augen beobachtet sie nun als knapp vierzehnjähriges Mädchen, wie ihre Großmutter sich in eine mächtige, dunkle Hexe verwandelt und mit unheimlichen Kreaturen aus der Unterwelt spricht. Sie sieht, wie sich das kleine Mädchen die Ohren zuhält, und kann plötzlich wieder diese tiefe Verzweiflung fühlen. Danach beobachtet sie, wie ihre Großmutter auf sie zurennt und ein Schutzschild errichtet. Der Garten, den sie so liebt, ist plötzlich nicht mehr wunderschön, sondern düster und karg. Die Bäume sind kohlrabenschwarz und die Blätter fallen welk zu Boden. Sie liegt auf der Schaukel und scheint zu schlafen. Broaf kommt mit einem Zettel hinausgestürmt, worauf Vettel aus dem Bild eilt. Der Diener kniet sich nun vor die Schaukel und fängt fürchterlich an zu weinen. Dann nimmt er ihre rechte Hand und dreht ihre Handfläche nach außen. Nachdem er sich verstohlen umgesehen hat, malt er mit seinem Finger ein Zeichen auf ihre Handfläche. Dabei murmelt er einen Vers, der gespenstisch klingt. Als er bemerkt, dass Oma Vettel zurückkommt, schreckt er hoch und wischt sich verlegen die Tränen aus dem Gesicht.

In diesen Moment ist der Film zu Ende.

J.J. bleibt einen Augenblick sitzen und denkt über das Gesehene nach.

»Sie hat mich weggeschickt, damit ich ein normales Leben führen kann. Aber warum bin ich so wichtig, dass dieser schwarze Phad mich unbedingt haben will? Und warum lässt sie mich plötzlich wieder in ihr Haus? Diese Skulks müssen mich doch längst geortet haben. Was hat Broaf mir in die Hand geschrieben? Ich dachte, er wäre ein normaler Mensch! Ich habe keine Ahnung, was hier läuft, aber ich muss es wissen! Diese Dinge, die mir in den letzten Monaten passiert sind, kommen aus meinem Inneren. Ich muss wissen, was mich so wertvoll macht!«

Als sie diesen Gedanken laut ausspricht, springt der Fernsehapparat überraschend wieder an. Es folgt eine kurze Einleitung, die sie nicht versteht, und daraufhin beginnt ein Film, der alles verändern wird.

Der Titel lautet:

Die Geburt der schwarzen Prinzessin!

J.J. schluckt und reißt ihre Augen weit auf.

Sie sieht ihre Eltern. Ihre Mutter ist hochschwanger und verzieht alle paar Sekunden schmerzerfüllt das Gesicht. Ihr Vater Timothey stützt sie und bringt sie zu einem Auto. Danach schwenkt die Kamera und zeigt ein Krankenhaus. Ihre Mutter liegt auf einem Bett und scheint starke Schmerzen zu haben. Während sie von einer Krankenschwester versorgt wird, wird J.J.s Vater immer nur kurz eingeblendet. Er sitzt im Flur und hat sein Gesicht in den Händen vergraben. Jetzt kommt eine lächelnde Krankenschwester zu ihm und sagt, dass Cassy eine wunderschöne Tochter geboren habe und es den beiden sehr gut gehe. Das Bild schwenkt in einen düsteren Raum. Lediglich auf ein paar Leuchtern brennen flackernde Kerzen. Am Ende steht ein mannshoher Spiegel, dessen Rahmen aus massivem Gold besteht. J.J. zuckt zusammen, als der Rahmen sich plötzlich zu bewegen beginnt und widerliche Fratzen mit schmerzverzerrten Mienen sich darin winden. Je näher die Kamera an den Spiegel fährt, desto mehr bläht sich das Glas nach außen. Kurz vor dem Spiegel stoppt der Film plötzlich. Auf dem Bildschirm des Fernsehgerätes bleibt ein Standbild, das ihr die Inschrift zeigt.

J.J. kann klar und deutlich ihren Namen lesen. Aber das ist nicht das Furchtbare.

Darüber steht:

Sie ist angekommen! Die schwarze Prinzessin wurde soeben geboren! Ihr Name ist Jezabel!

J.J. geht ganz nah an den Fernsehapparat und starrt entsetzt auf die Worte.

»Was hat das zu bedeuten? Was in aller Welt ist eine »schwarze Prinzessin«?«

Sie setzt sich zurück auf die Couch, weil ihr plötzlich speiübel ist. Sie klemmt ihre Hände unter den Po und versucht sich zu sammeln.

»Das ist mir alles zu viel! Meine Augen tun mir weh und mein Kopf brummt. Ich gehe jetzt zurück und lasse mir das sofort von Großmutter erklären. Ich glaube, es ist besser, wenn ich zurück nach Marton fahre, und zwar gleich morgen früh! Ein Einkaufszentrum als Ankleidezimmer ist ja lustig, aber dieser Voodoo-Mist ist einfach abartig. Da bin ich lieber eine Vollwaise und lasse mich weiter von Britany Hoilding nerven!«

Sie steht auf und geht entschlossen zur Marmorsäule. Bevor sie den Stein herunternimmt, dreht sie sich noch einmal um und betrachtet traurig den Raum.

 

»Ich vermisse dich, Pippa«, haucht sie wehmütig und schließt die Augen.

Für einen kurzen Moment kann sie das Parfüm ihrer Ziehmutter wahrnehmen. Sie saugt den vertrauten Geruch tief ein und nimmt schnell den Gedankenstein von der Säule. Als sie wieder in ihrem Zimmer ist, warten dort schon Oma Vettel, Broaf, Lincoln und Diggler auf sie. Sie legt den Gedankenstein in die Kiste und starrt die Gemeinschaft trotzig an.

»Gehört Anklopfen in Havelock noch nicht zum guten Ton?«, fragt sie zickig und sieht die Anwesenden böse an.

Ihre Großmutter kommt unsicher auf sie zu.

»Wir haben angeklopft, aber du hast nicht reagiert! Wir haben uns Sorgen gemacht. Nur deshalb sind wir einfach hereingekommen. Wir wollten dich nicht stören, Jezabel, aber du lebst in einem Haus voller Magie und das ist nicht immer ungefährlich. Entschuldige bitte unsere übereilte Besorgnis. Hast du deine Antworten gefunden auf dieser Reise?«, fragt sie ihre Enkelin leicht verärgert.

Jezabel tritt ein Stück zurück und sieht sie fragend an.

Aber sie kann im Moment ihre Gefühle nicht richtig einordnen.

»Ist es Wut, weil ich mich vorgeführt fühle? Ist es Traurigkeit, weil sie mir so viele Jahre gestohlen haben? Oder ist es angst, weil ich nicht weiß, was sie eigentlich mit ihr vorhaben?« Mit bebender Stimme beginnt sie zu sprechen:

»Ich habe Antworten gefunden, während sich gleichzeitig Neue aufgetan haben. Ich weiß nicht, was hier läuft, deshalb denke ich, dass ich über ein paar grundsätzliche Dinge aufgeklärt werden sollte! Auch wenn ich nun weiß, dass du mich tatsächlich nur verhext hast, um mich zu schützen, frage ich mich doch, warum dir das genau JETZT nicht mehr so wichtig ist! Du hast mir diesen Stein ohne irgendeine Anleitung in die Schule geschickt. Auch wenn er im Grunde nicht viel anrichten kann, weiß ich inzwischen, dass ich mich in meinen Erinnerungen verirren kann. Meine beste Freundin musste zusehen, wie ich mich wie eine Verrückte im Kreis drehe, und ich konnte ihr bis heute nicht erklären, warum das so war. Alle Erinnerungen, die bis jetzt zurückkamen, sind relativ harmlos. ABER! Nun musste ich Dinge erfahren, die ich gern verstehen möchte. Sollte sich herausstellen, dass sie nur halb so abscheulich sind, wie ich vermute, werde ich sofort abreisen! Also bitte! Ich setze mich dorthin und ihr werdet mir erklären, wer ich bin, was ich bin und vor allem was ihr gerade JETZT von mir wollt!«

Aufgebracht stapft sie zu ihrem Schreibtisch und verschränkt provokativ die Arme. Broaf ist sehr nervös und zupft unentwegt am Frack herum, während Lincoln starr im Körbchen sitzt und unruhig hechelt. Diggler quetscht sich neben seinen Freund und grinst verlegen, da er hofft, dass er so die Stimmung harmonisieren könne.

Nur Oma Vettel schreitet langsam auf J.J. zu.

»Du wurdest am 9. Januar 1998 geboren. Deine Eltern waren Timothey und Cassy Smith, die fünfzehn Monate nach deiner Geburt bei einem schrecklichen Autounfall ums Leben kamen. Du hast diese Katastrophe nur überlebt, weil ich dich in letzter Minute retten konnte. Deine Eltern waren auf dem Weg zum Tor des weisen Phads, weil sie dich wegbringen wollten. Weg vom dunklen Phad und weg von mir! Dein Vater war kein Zauberer und hat alles Magische verabscheut. Um es mir richtig zu verdeutlichen, hat er bei seiner Hochzeit den Namen deiner Mutter angenommen. Smith! Somit hat er schon in diesem Moment mit unserer über sechshundert Jahre alten Familientradition gebrochen. Deshalb heißt du auch nicht von Winterhardt. Nach ihrem Tod wollte ich es dabei belassen, da es das Einzige ist, was sie dir hinterlassen haben. Niemand wusste, ob das Kind deiner Eltern schwarzes Blut haben wird. Als du geboren wurdest, erschien allerdings dein Name im Spiegel der Tore. Dein Name im Zauberreich ist Hexe Jezabel. Als dein Vater davon erfuhr, wurde er rasend vor Wut. Er sagte, dass er niemals zulassen würde, dass du eine Hexe wirst, und warf Darania und ihren Hexenrat beim traditionellen Neugeborenenempfang aus dem Haus. Ich wusste nicht, wie ich diesen Konflikt lösen sollte. Wir sind nun einmal eine Familie des dunklen Phads und noch nie zuvor hat ein Familienmitglied so offensichtlich gegen das Zauberreich rebelliert. Ich ließ nach der Tragödie etwas Zeit vergehen und freute mich einfach, dass es dich noch gibt. Du warst so wundervoll und sehr begabt. Aber das Schicksal geht seinen eigenen Weg. Eines Abends kam ein Halfie zu mir ins Haus und erbat sich Asyl.«

Oma Vettel schaut kurz zu Lincoln, der sich vor lauter Aufregung ununterbrochen seine kleine Nase leckt.

»Es war Lincoln. Er erzählte mir, das Darania plant, dich in den nächsten Wochen in ihr Reich zu entführen. Es war bei dir etwas komplizierter, denn dein Name erschien am Tage deiner Geburt zwar im Spiegel der Tore, aber weder Marla noch Darania gaben ihn bekannt, sondern der Spiegel selbst! Dein Name erschien in beiden Phaden gleichzeitig! Das heißt, du konntest schon vom Tage deiner Geburt an wählen, auf welcher Seite du deine Fähigkeiten nutzen möchtest. Darania wollte dir diese Entscheidung abnehmen und plante, dich also schon als Kleinkind in den dunklen Phad zu holen. Dein Vater hörte unser Gespräch mit und wurde mehr als zornig. Ich ging in den Keller zum Spiegel der Tore und erbat eine Audienz bei Marla, der Kindskönigin des weisen Phads. Ich erläuterte ihr mein Anliegen und bat sie um Rat. Sie bot deinen Eltern an, in ihr Reich zu kommen und mit Darania zu verhandeln. Den Rest kennst du ja.«

Oma Vettel entfährt ein tiefer Seufzer. Sie sieht ihre Enkelin bittend an, doch diese winkt nur verachtend ab.

»Das erklärt die eigentliche Situation aber nur oberflächlich! So hört sich das alles ja noch plausibel an. Aber ich habe auch in den Spiegel der Tore geblickt, und zwar im Moment meiner Geburt! Ich möchte endlich wissen, warum so ein Theater um mich gemacht wird. Und bitte keine Schönrederei mehr! Ich bin zwar erst knapp vierzehn Jahre alt, aber ich kann Gefahren relativ gut einschätzen. Ich habe Angst und ich weiß nicht, wovor. Aber ich weiß, dass ihr mir das erklären könnt!«

Oma Vettel tritt erschrocken einen Schritt zurück und wird kreidebleich. Ihre Haare beginnen wild zu blinken und ihre Hände zittern stark. Hilfe suchend sieht sie zu Broaf, aber der Diener sieht selbst aus, als habe er gerade einen Geist gesehen.

Ungläubig schüttelt die alte Dame den Kopf und sieht ihre Enkelin verstört an.

»Das ist unmöglich! Niemand kann außerhalb seiner eigenen Wahrnehmung schauen!«, stammelt sie ungläubig und sieht ratlos zum Diener, der verkrampft nach Worten der Erklärung sucht.

J.J. steht auf und geht zum Fenster.

»Der Garten da unten ist mein Werk! Ich habe ihn erschaffen, als ich noch ein kleines Mädchen war. Deshalb konnte ich meinen Hort so schnell errichten. Als ich fortmusste, ist er verdorrt und verkümmert. Diesen Teil des Geschehens hast du leider unterschlagen. Wie so viele Dinge. Meine Erinnerungen kommen nur langsam zurück. Es wäre also nur fair, wenn du mir die ganze Wahrheit sagen würdest. Ich musste erneut Dinge erfahren, die ungeheuerlich sind. Wenn ich eins und eins zusammenzähle, bin ich nicht nur irgendeine Hexe, sondern eine ganz besondere!«

Sie starrt in den Garten, der wieder in voller Blüte steht. Im Raum bleibt es für eine kurze Weile still. Dann stellt J.J. die allumfassende Frage.

»Was bedeutet: Sie ist angekommen! Die schwarze Prinzessin wurde geboren!?«

Sie dreht sich um, da sie nur einen leisen Hickser vernehmen kann, und sieht in die entsetzten Gesichter von Oma Vettel und Broaf. Die beiden starren sie mit offenen Mündern an und bekommen kein Wort heraus. Lincoln sitzt ebenfalls total geschockt in seinem Korb und sieht entsetzt zu Vettel. Nur Diggler hat Angst einen Fehler zu machen und bleibt deshalb einfach grinsend sitzen. Oma Vettel dreht sich zu den Halfies und bittet sie zu gehen. Als sich die Tür hinter ihnen schließt, geht sie auf J.J. zu.