Mudlake - Willkommen in der Hölle

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»35 Pine Street, Yonkers. New York also … feiert Sam Carr mal wieder ’ne Party, hm?« Grunzend steckte er das Papier in die Hosentasche. »Na meinetwegen … sollen die in der Stadt ihren Spaß haben, während wir hier schuften und schwitzen wie die Schweine.« Chuck nickte Vivian zu und schwang sich hinters Steuer. »Grüße an Bob und deine Mum, seh’n uns nächste Woche …«

Vivian sah dem Postwagen sehnsüchtig hinterher, bis er nach Süden auf den Interstate bog und dort eine Staubwolke hinter sich herziehend verschwand. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als im Fond des Lieferwagens zu sitzen und der ländlichen Einöde sofort zu entfliehen, andererseits hielt sie hier ein nahezu unzertrennliches Band, das weit über das der Familie hinausging. Der Spruch Keiner geht für immer von hier weg kam nicht von ungefähr.

Nur für ’ne Weile wär toll, ein oder zwei Jahre …

»Die Jugend ist ’n verdammter Fluch, Vivian«, krächzte es hinter ihr.

Vivian erschrak, obgleich sie wegen der Stimme wusste, wer da stand. Sie drehte sich um und rang sich ein schräges Lächeln ab. Es war die alte Ruth Dickson, die sich einmal mehr an sie herangeschlichen hatte. Ihr wächsernes Gesicht glich einer faltigen Kraterlandschaft, ihr Hals, der aus dem abgetragenen schwarzen Kleid herausragte, dem einer Schildkröte. Sie stützte sich gebückt auf einen Stock, den sie im Wald gefunden haben musste.

Was will diese gottverdammte Hexe von mir?

»Ruth, verdammt, hab dir schon tausend Mal gesagt, du sollst dich nicht an mich ranschleichen!«

»Ich weiß, was in dir vorgeht«, sprach Ruth unbeeindruckt weiter. »Hör auf meine Worte, behalt’s für dich, und wenn dir das Glück hold ist, zieh’s durch.« Vivian schluckte. Ihr war die Frau unbehaglich. In ihren Erinnerungen war sie schon immer alt gewesen. Selbst Dad wusste nicht, wie alt sie wirklich war. Dazu der penetrante Gestank nach Mottenkugeln und etwas Süßlichem, eben so, wie alte Leute manchmal rochen. Fröstelnd rieb sie sich die Arme. »Keine Ahnung, was du mir damit sagen willst, Ruth …«

Die Alte kam ihr nah, unterschritt deutlich Vivians Wohlfühldistanz, was ihr unangenehm vorkam. Ihr Ärmchen kam nach oben, ihr dürrer Finger tippte gegen Vivians Brust. »Die Hitze der Jugend, Kindchen, die Hitze der Jugend …« Sie räusperte sich, fing an zu würgen und schluckte einen Brocken hinunter. Um was es sich handelte, wollte sich Vivian auf keinen Fall vorstellen. Ihr Finger drückte weiterhin in Vivians Oberkörper. Sie war erstaunt darüber, wie hart und lang ihre Fingernägel waren. Und spitz genug, um sie an Krallen zu erinnern. »Ich war ein blutjunges und naives Ding wie du, als sie nach dem Krieg zu uns kamen …« Ruth lachte krächzend. »Hab meine Unschuld an die Dämonen des Südens verloren …«

Vivian dachte an ihren Vater und Vietnam. Diesen Krieg konnte sie unmöglich meinen, denn nach Vietnam waren kaum Leute hierher gekommen. Ruth sprach oft von den Dämonen des Südens, die Purgatory heimgesucht und alles ins Schlechte verkehrt hatten. Sie behauptete sogar, dass der Boden nur deswegen schwarz sei, weil er vom Bösen verdorben sei. Was sollte man sagen, Ruth war eben verrückt.

»Sie haben ihre Verderbtheit in uns eingepflanzt wie missgestaltete Föten … und wir sind dumm genug gewesen, sie auszutragen.« Die alte Ruth berührte Vivians Wange. »Du bist anders, Kindchen, erinnerst mich an deine Mutter … Lass dich nicht von ihnen benutzen, wie sie es mit uns taten …« Ruth ließ von ihr ab und schlurfte weiter ihres Weges, drehte sich aber nach einigen Schritte noch einmal zu ihr um. »Wenn du reden willst, sprich nur mit mir und niemandem sonst … nur mit mir, hörst du, Kindchen?«

Damit ließ die alte Frau Vivian stehen, die ihr entgeistert nachstarrte. Sie war froh, dass Ruth weiterging. Dennoch hätte sie gerne gewusst, was diese Anspielung zu bedeuten hatte. Ruth Dickson war eine Außenseiterin, die am Stadtrand in einem Wäldchen eine heruntergekommene Hütte bewohnte. Sie hatte niemanden, der sich um sie kümmerte, und kam nur selten in die Stadt.

Ist sie wegen mir gekommen? Um mir das zu sagen?

Vivian dachte mit Schaudern an den letzten Sonntag zurück. Der Prediger hatte die alte Frau während der Messe vor der versammelten Gemeinde gedemütigt. »Ungläubige Hexe« hatte er sie genannt und dafür eine Menge Zustimmung geerntet. Es war wirklich besser, sich von ihr fernzuhalten, um nicht in ihr schlechtes Licht gerückt zu werden.

Trotz der Sommerhitze war ihr plötzlich kalt. »Verrückte Alte«, murmelte sie und ging in den Laden zurück, um ihrer Arbeit nachzugehen.


52 Knoten

30. Oktober – Irgendwo in Iowa

Ein eisiger Wind heulte über die endlosen Weiten der Plains, trocknete den flockigen Schweiß auf den Flanken der gehetzten Pferde. Über den Himmel zogen düstere, regenschwere Wolken. Ein Unwetter kündigte sich an. Al Swearengen lief der Schweiß in den Nacken, brannte auf seiner wunden, aufgeschürften Haut. Gehetzt zügelte der Mann mit dem eisigen Blick sein Pferd und blickte sich um, suchte den Horizont hinter ihnen nach Staubwolken oder Bewegungen ab, die ihre Verfolger verraten würden. Er konnte nichts dergleichen entdecken, er wusste lediglich, dass sie da waren. Dass die Jäger nun die Gejagten waren.

Das Blatt hatte sich gewendet, nachdem sich Cole Younger und die James-Brüder an der Stompers Lodge von ihnen getrennt hatten, um in Kansas ihr eigenes Ding zu drehen. Die Bushwhackers gerieten in Ray County, Missouri in einen Hinterhalt. Eine hastig zusammengestellte Miliz unter Oberst Samuel P. Cox hatte ihnen in einem Talkessel zwischen Büschen kauernd und auf Bäumen sitzend aufgelauert und ohne Warnung das Feuer eröffnet. Endlich konnten sich die Bürger an den Schlächtern von Lawrence und Centralia rächen. Und sie hatten nicht vor, Gefangene machen. Sie wollten töten.

Die Dämonen des Massakers wurden selbst massakriert …

Es ging alles furchtbar schnell. Die Bushwhackers kämpften mit den Zügeln zwischen den Zähnen, einen Revolver in jeder Hand, und schossen wild um sich. Waren die Waffen leer, warfen sie diese weg und zogen neue. Dennoch hatten sie nicht den Hauch einer Chance. Sie fielen reihenweise den Kugeln des wütenden Mobs zum Opfer. In einem Inferno aus panisch schreienden Pferden, aufgewirbeltem Staub und Pulverdampf lagen bald dreihundert Reiter blutend und sich vor Schmerzen windend im kackbraunen Missouri-Dreck. Swearengen hatte sie von den Hügeln steigen sehen, um den Verletzten mit Knüppeln und Steinen die Schädel einzuschlagen, meist auch alle anderen Knochen im Leib. Der Hass steigerte sich zu einem Rausch, der menschlichen Matsch gebar. Endlich konnten sie den Bushwhackers das heimzahlen, was die ihren Familien angetan hatten.

Viel später, sie hatten das vom Pulverdampf geschwängerte Schlachtfeld längst hinter sich gelassen, dachte Swearengen oft darüber nach, was letztendlich den Unterschied zwischen den Grausamkeiten der Bürger und denen der Bushwhackers ausmachte. Er fand darauf keine Antwort, weil es keinen Unterschied gab. Die Kriegsmaschine hatte ihre Menschlichkeit zu feinem Staub zermahlen, den der Wind in alle Himmelsrichtungen verwehte.

Im Getümmel des Gefechts hatte er gesehen, wie Bloody Bill Anderson getroffen wurde und stürzte. Kurz entschlossen sprang er vom Pferd und nutzte den staubigen Nebel, der Freund mit Feind verschmelzen ließ, um ihn auf ein anderes Pferd zu ziehen. Im Dunst verwandelten sie sich in geisterhafte Schemen. Nur eine Handvoll Männer entkamen dem Zorn Gottes, der in apokalyptischer Form auf sie niedergegangen war.

Was aus dem Staub ersteht, zerfällt zu Staub …

Jetzt ritt er zusammen mit Jack McCall und dem schwer verletzten Bloody Bill Anderson nach Norden, tief hinein ins verhasste Land der Yankees. Ein anderer Ausweg hatte sich ihnen nie geboten.

Eins war jedenfalls sicher: Bloody Bill würde sterben. Das Blei steckte wie ein abgebrochener Stachel in seinem harten Schädel. Es grenzte an ein Wunder, dass die Kugel den Knochen nicht gänzlich durchschlagen hatte. Anderson spuckte Blut und redete eine Menge wirres Zeug. Dennoch hielt er sich im Sattel. Für den harten Mann war die Wunde kaum mehr als ein lästiger Kratzer.

Die Cox-Miliz folgte ihnen dicht auf den Fersen. Swearengen schlug vor, nach Norden zu reiten. Dort gab es weite, gesetzlose Landstriche, in denen man nicht nach ihnen suchen würde. In den Black Hills hatte man Gold gefunden. Swearengen fand, dass es keinen besseren Platz gab, um unterzutauchen und nebenbei eine Menge Geld zu machen. Das brauchten sie dringend, um ihren Standard zu halten, wie er meinte. Nicht wie die im Dreck wühlenden Goldsucher, die tagein, tagaus bis zu den Hüften im Schlamm standen. Al Swearengen hatte vor, das erbeutete Geld aus dem Centralia-Zug in einen Saloon zu investieren. Alkohol, Nutten und Spiele liefen immer, ganz gleich, wie dreckig es den Menschen ging. Was er vorhatte, sollte größer werden. Er wollte seinen Traum von einem Varieté Theater verwirklichen.

Bloody Bill hob die Hand und stoppte sein Pferd. Er schwankte im Sattel, drohte zu stürzen, fing sich aber, bevor er gänzlich das Gleichgewicht verlor. Anderson spuckte einen Klumpen geronnenes Blut in den Staub und sah sich zu seinen beiden Begleitern um. »Ab hier trennen sich unsere Wege.«

Swearengens Pferd schnaubte, schüttelte sich unter dem kalten Wind. Er strich sich über seinen buschigen Schnauzbart, warf McCall einen fragenden Blick zu und sah zu Bloody Bill. »Dachte, wir reiten zusammen in die Black Hills, bauen uns was auf …«

 

McCall nickte. »Ja, Mann. Oder wir jagen Indianer. Die verdammten Skalps an unseren Sätteln sind trocken. Zudem zahlen ’ne Menge Leute harte Dollars für Rothautschöpfe.« Was er meinte, waren die Skalps der Unionssoldaten, die sie getötet hatten. Jetzt hingen die vertrockneten Hautlappen wie Trophäen an ihren Sätteln, dienten Maden und Käfern zum Fraß und stanken zum Himmel.

Bloody Bill schüttelte nachdenklich den Kopf. Er trieb sein Pferd an und ritt an Swearengen heran, legte seinem Weggefährten die Hand auf die Schulter, um ihn an sich heranzuziehen. »Wir folgen den Pfaden der Hölle, mein Freund. Dort, hinter den Hügeln, ist der Scheideweg … dort kreuzen sich die Pfade, durchziehen wie kranke Adern das Land, krampfend, verderbend.« Während er sprach, sah er an Swearengen vorbei ins Nichts. »Letztendlich folgt alles einem uns schleierhaften Plan. Joshua Carr, du und selbst McCall sind Rädchen eines ineinandergreifenden Uhrwerks, das unaufhaltsam tickt …«

Swearengen schluckte. Ihm war anzusehen, dass ihm in seiner Haut unwohl war, mit Bloody Bills Lippen an seinem Ohr. Dennoch sprach er ihm zu. »Was immer du willst, Bloody Bill.«

Der packte seinen Kumpan im Genick und sprang mit ihm zusammen aus dem Sattel. Blut spritzte aus Bloody Bills Loch im Kopf, bildete im kalten Staub schwarz schillernde Kügelchen, die der Wind verwehte. Schwer prallten seine Stiefel neben Swearengens Kopf in den Dreck, wirbelten Staub auf, während er sich hinkniete. Er packte ihn mit beiden Händen, riss ihn nach oben und öffnete dessen Mund.

»Empfange die Saat und verzweifle!«, schrie er den vollkommen überraschten Swearengen in Stimmen an. Er öffnete seinen Mund und ergoss einen Schwall aus stinkendem schwarzen Teer in Swearengens zwanghaft aufgerissenen Schlund. Die klebrige, nach Kloake stinkende Masse füllte ihn dampfend und zischend aus, lief über seine Lippen, verbrannte Haut und Kleidung. Selbst den Sand um ihn herum versengte es zu schwarzen Klümpchen.

Gurgelnd nahm Swearengen den Höllenteer in sich auf. Er strampelte und schlug verzweifelt um sich, doch Bloody Bills Griff blieb eisern. Die schwarze Masse füllte seinen Bauch, am anderen Ende entleerte sich durch den Druck die Blase. Der Aftermuskel versagte ihm den Dienst und öffnete sich unter Zuckungen. Fäkalgestank vermischte sich mit kochendem Höllensud, dampfend, zischend, ätzend und insbesondere erniedrigend.

Swearengens Widerstand brach in sich zusammen. In einem letzten, verzweifelten Akt schlug er Anderson auf die hervorstehende Kugel und trieb diese durch den verbliebenen Rest der Schädeldecke.

Anderson jaulte wie ein getretener Hund und ließ von ihm ab, doch da war es längst zu spät. Er hatte bereits zu viel Höllenteer in sich aufgenommen, um es rückgängig machen zu können. Swearengen kam auf die Beine und taumelte auf den entsetzt dreinblickenden McCall zu, doch das zersetzende Werk des schwarzen Todes war nicht mehr aufzuhalten. Ätzend und schmorend fraß es sich glühenden Messern gleich in seine Gedärme, schmolz und brannte. Swearengen öffnete den Mund, rang verzweifelt nach Luft, doch letztendlich hustete er nur den blutigen Dampf seines verbrannten Ichs.

McCall riss sein Pferd herum, trieb ihm die Sporen in die Flanken und galoppierte, ohne sich umzusehen, über die weite Ebene davon.

Swearengen streckte die Hand Hilfe suchend nach seinem flüchtenden Gefährten aus, brach in die Knie, kippte vornüber und fiel mit dem Gesicht in den Staub. Zäher, schwarzer Schleim ergoss sich aus dem Mund und kroch wie ein vielfüßiges Gliedertier in die Öffnungen seines Herrn zurück, der höhnisch grinsend auf ihn herabsah.

Die Seidenschnur mit den zweiundfünfzig Knoten glitt einer Gebetsschnur gleich durch Bloody Bills Finger. »Zweiundfünfzig Seelen, geopfert den Mächten der Hölle …« Bloody Bill lachte und pulte sich mit den schmutzigen Fingern die Kugel aus dem Loch in seinem Schädel, sah sie sich lange an, leckte sie sauber und steckte sie sich in die Hemdtasche.

»Das Netz des Bösen senkt sich über das Land, erstickend und schwer …«


Kinder des Mais

»Der ist voll süß«, kicherte Cherryl albern.

Hope konnte durch die Maisstauden hindurchsehen, wie sie sich durch ihre haselnussbraunen Locken strich und ihr megakurzes Kleidchen glatt nach unten zog, damit wenigstens ihr runder Hintern bedeckt war. Cherryl stand auf. »Mädels, wie seh ich aus?«, wollte sie wissen.

Hope machte Cherryls Verhalten traurig, weil sie sich selbst nur über Äußerlichkeiten definierte. Zu alldem gehörte eine Geschichte, die man kennen musste, um sie zu verstehen. Die Cops hatten sie bei einer Razzia in einem Stripladen aufgegriffen, da war sie fünfzehn gewesen. Kein Wunder also, dass sie den Kontakt zu Männern mit Sex gleichsetzte. Was sie Hope darüber erzählt hatte, glich einer abstoßenden Sammlung von im Waisenhaus verbotenen Worten und geistig erwachsenden Bildern, die ihr die Tränen in die Augen trieben. Und es lag auf der Hand, dass Cherryl diese Worte nicht nur in der Theorie beherrschte. Sie war ohne Zweifel durch eine harte Schule gegangen, aber letztendlich waren sie das auf ihre jeweils eigene Art alle. Hope mochte sie total gerne, doch sobald Jungs in der Nähe waren, wurde Cherryl zu einer sexbesessenen Bestie, die keine Hemmungen mehr kannte.

Und keine Grenzen …

»Bist ’ne notgeile Bitch«, brummte Lissy zwei Reihen weiter und brachte es damit auf den Punkt. Sie klang genervt. Ihr Feuerzeug klickte, kurz darauf roch Hope den Rauch einer Zigarette. »Lässt dich mit jedem ein. Ich sag dir, das geht eines Tages schief!« Lissy war in ihrer Art verletzend direkt, aber auch gemein. In diesen Momenten brach es unbeherrscht und derbe aus ihr heraus. Sie kicherte leise. »Hörst wohl kein Radio, hm? In der Nacht vom 29. Juli, da hat so’n Irrer ein Mädchen in den Bronx abgeknallt … die Kleine, nun, im Radio haben sie gesagt, sie hieß Donna, war auf der Stelle tot … Bämm … Kopf geplatzt … alles Matsche … Scheiben vollgespritzt mit roter Soße. Ihre Freundin Jody kam mit ’ner Fleischwunde davon!«

»Ach, leck mich doch, Lissy!«, schnauzte Cherryl gespielt aufgebracht. Ihr war anzuhören, dass sie auf Lissys Ausführungen einen Dreck gab.

»Keine gute Idee, im Mais zu rauchen«, gab Hope zu bedenken, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, und bereute es sogleich. Sie hatte etwas anderes sagen wollen. Dass dieser Killer ein Monster war, wenn er wehrlose Mädchen nach einem Discobesuch auflauerte und sie ohne speziellen Grund erschoss. Dass man damit keine Scherze machte. Jetzt war es anders gekommen. Was sollte es? Sollten die Mädchen sie doch ruhig für eine Spießerin halten.

Hope wusste von Lissy, dass sie ihre Eltern bei einem Wohnungsbrand verloren hatte. Danach hatte sie eine Zeit lang bei ihrem Onkel gewohnt, bekam Drogenprobleme, weil der Dreckskerl fixte und sie mit reinzog. Das führt dazu, dass sie aus einem Grund, den sie beharrlich verschwieg, die Wohnung abfackelte und damit auch ihren Onkel verlor. Hope gab einen Dreck auf das hartnäckige Gerücht, dass es Lissy gewesen war, die das Feuer bei ihren Eltern und später bei ihrem Onkel gelegt hatte. Wenn Lissy das tatsächlich getan hatte, gab es einen triftigen Grund. Sie vermutete, es ging mit ihrem Hang zu impulsiver Gewalt einher, die durch ein falsches Wort wie aus dem Nichts ausgelöst werden konnte.

Hope versuchte, auf andere Gedanken zu kommen und sich zu entspannen, damit sie pinkeln konnte, doch es wollte einfach nicht klappen.

»Mir doch egal«, schnippte Lissy schlecht gelaunt zurück. »Hab keinen Bock auf die nächsten Wochen …« Es plätscherte und sie stöhnte erleichtert auf. »Andererseits«, Hope hörte, wie Lissy aufstand und sich die Schlagjeans nach oben zog, »könnten wir mit ausreichend Alkohol und den Jungs ’ne Menge Spaß haben.« Es raschelte, als sie sich ihren Weg durchs Maisfeld bahnte, um Cherryl zu folgen.

»Willst du dir die Jungs etwa schönsaufen oder was?«, feixte Cherryl kichernd.

Hope konnte durch den Mais hindurch die besagten Jungs neben dem Motorrad stehen sehen und wie sie rauchten. Dieser Dummkopf Brady prahlte mit seinem albernen Rekorder, der aussah wie ein Tricorder aus der Serie Raumschiff Enterprise, und den Musikkassetten, die er so oft abgespielt hatte, dass sie leierten. Hope musste innerlich lachen, weil sie sich an den Bandsalat von gestern erinnerte und wie er verzweifelt versucht hatte, das Band mit einem Bleistift im Rädchen aufzuspulen. Wenn er alleine war, konnte er ein richtig süßer Typ sein, der ein verschmitztes Lächeln hatte, das Herzen höher schlagen ließ. Sie saß tief im Feld und genoss das Gefühl, als der Druck in ihrer Blase endlich nachließ. Angewidert beobachtete sie das Rinnsal, das sich im anthrazitfarbenen Staub seinen Weg um ihre Cowboystiefel bahnte.

Der Boden ist hier unheimlich schwarz …

Sie hatte gedacht, dass er in Iowa rot sei. Warum, wusste sie nicht mehr. Womöglich, weil hier Indianer lebten. Stattdessen war er schwarz und erinnerte sie an Lavagestein.

Toter Boden, unter dem Böses gärt …

Ein Wirbel aus schwarzen Vögeln über einer Stadt, in der das Böse regiert …

Ein Prediger des falschen Gottes, der das Obere nach unten kehrt …

Ein See voll mit schwarzem Schlamm, der den Boden unter dem Mais gebiert …

Schweinedung und Leichenasche …

Hope schrak aus einer Art Trance auf, schüttelte den Kopf, um ihre wirren Gedanken zu vertreiben. Es kam oft vor, dass Mist wie dieser in ihrem Kopf herumspukte.

Reflexionen meiner verkorksten Kindheit …

Hope wurde von Visionen heimgesucht, seit sie denken konnte. Ihre früheste Erinnerung reichte in ein Kinderheim in den Sümpfen Louisianas zurück, wo sie die ersten Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Ihre Fragen nach ihren Eltern blieben unbeantwortet, nach dem Warum natürlich auch. Angeblich hatte man eines Morgens vor der Tür einen Korb und einen Koffer gefunden. Im Korb lag sie, der Koffer war abgesehen von einem handbeschriebenen Zettel leer. Sie kannte die eilig hingekritzelten Worte auswendig.

Hope Cannary Burke … geboren an einem verregneten Freitag in Butte La Rose, Louisiana …

Abgestellt wie Müll, den man loswerden wollte, weil er störte. Im Kinderheim machte man ihr nachdrücklich klar, dass sie, anstatt unnütze Fragen zu stellen, zu arbeiten hatte, um ihren Beitrag zu leisten. Also hielt sie ihren Mund und fraß beim Bodenschrubben oder Bettenbeziehen alles in sich hinein, bis sich eine imaginäre Halde aufgetürmt hatte, die schwarz und hoch war. Während die anderen Kinder wenigstens Erinnerungen mitbrachten, hatte sie nichts. Sie schuf sich ihre eigene Welt. Eine Welt der Träume, in die sie sich nach Belieben zurückzog. Doch ihre Welt machte sich selbstständig. Was sie anfangs kontrollierte, entglitt nach und nach ihrer Kontrolle. Die Träume wandelten sich in pures Chaos, das Bilder schuf, die sie nicht deuten konnte. Mit zwölf lief sie aus Louisiana weg und ging nach New York, weil die Visionen in ihrem Kopf es ihr befohlen hatten. Hope ließ sich von den Bildern leiten, gab sich ihnen hin, weil es das Einzige war, was sie hatte.

Ich sehe hier nicht einen verdammten schwarzen Vogel … hab am Ende noch ’n Hitzschlag, wenn ich an solchen Mist denke …

Als nichts mehr kam, zog sie ihr Höschen hoch und den Jeansmini runter, damit er ihren Hintern bedeckte. Sie wollte bereits wieder zu den anderen gehen, doch sie hörte ein seltsames Geräusch in ihrem Rücken: ein Knacken im Mais, gefolgt von einem flüchtigen Rascheln. Hopes Magen krampfte, weil ihr die Kurzgeschichte von Stephen King in den Sinn kam, die sie letzte Nacht gelesen hatte.

Kinder des Mais …

Kinder mit beschissenen weißen Augen, die einfach nur dastehen und dich anstarren …

Dieser Blödmann Brady hatte ihr die Readers-Digest-Ausgabe vom Juni gegeben und behauptet, die Geschichte wäre eine coole Einstimmung für den Trip nach South Dakota. Dass es sich dabei um Horror handelte, hatte er ihr verschwiegen. Dennoch hatte sie die Geschichte bis zum Ende gelesen, einfach weil sie wissen musste, wie sie ausging. Und nun saß sie in einem Maisfeld und rechnete damit, eins dieser Psychokinder zu Gesicht zu bekommen.

 

Dieser kleine Scheißer …

Womöglich saß einer der Jungs aus dem Bus im Mais und biss sich in die Handballen, um nicht laut aufzulachen. Es raschelte wieder. Gleichmäßig und leise. Etwas pirschte sich an sie heran. Ebendiese Gleichmäßigkeit ließ sie den Wind von vornherein ausschließen.

Könnte ein Hase sein … oder ein Einheimischer, der uns beobachtet hat und sich jetzt Gott weiß, was tut … scheiß Spanner …

Egal, was es sein würde, es war ihr äußerst unangenehm. Hope glaubte, Blicke zu spüren, die sie fixierten. Da war es wieder: ein Rascheln; Stauden, die sich bewegten. Es schien sie zu umkreisen wie ein Tier, das den besten Platz zum Angriff suchte. Hope schluckte.

Wenn es zwischen mich und die Straße gelangt, schneidet es mich von den anderen ab … treibt mich weiter ins Maisfeld hinein …

Sie sprang auf. Ihr Stiefel platschte in die entstandene Pfütze, doch das war ihr gleich. »Lissy, Cherryl, wartet auf mich!« Hope spurtete los. Sie rannte, weil sie dachte, die durchgeknallten Kinder wären hinter ihr her. Sie machte dabei eine Menge Lärm, brach Stauden ab und fiel sogar hin, doch sie rannte weiter. Die Reihen öffneten sich und sie fand sich auf der Straße wieder. Hope blieb stehen und drehte sich mit klopfendem Herzen um. Tiefer im Feld wankten Stauden. Es entfernte sich – oder war es nur der Wind, der den Mais bewegte?

Nie wieder lese ich solchen Kram … nie wieder! Zur Hölle mit dir, Brady Potts!

»Alles in Ordnung, Baby?« Lissy kam zu ihr, berührte sie an der Schulter. Sie blies in der für sie typisch nervösen Art den Zigarettenrauch aus.

»Da war was im Mais«, keuchte Hope aufgeregt. »Gibst du mir ’ne Kippe?«

Lissy hielt ihr ihre hin. »Sicher nur ’n bescheuertes Reh, das dir beim Pinkeln zugesehen hat …«

»Toll«, stellte Hope fröstelnd fest. »Find’s nicht gerade angenehm, dabei von ’nem Tier beobachtet zu werden.«

Kurz darauf standen Hope und ihre Freundinnen am Straßenrand und sahen Mister Kindermann dabei zu, wie er neben dem Motorrad kniete und daran herumfummelte. In Wirklichkeit hatte er keine Ahnung. Hope hatte sich wieder beruhigt. Sie stöhnte und verdrehte die Augen. »Zur Hölle, ich kann seine behaarte Arschfalte sehen.« Dankbar nahm sie die bereits angezündete Zigarette aus Lissys Hand entgegen, steckte sie sich zwischen die Lippen und inhalierte den Rauch. Eine weiße Wolke blieb zurück und sie schielte zu dem jungen Mann, der neben der O’Hara mit gerunzelter Stirn dastand und ebenfalls auf Kindermanns Arschfalte sah. Cherryl hatte recht. Der Typ war süß, obgleich ihm eine Dusche guttun würde, staubig und verschwitzt, wie er war. Er hatte ein verschmitztes Lächeln und strich sich mit einer schüchternen Geste die halblangen dunkelblonden Haare aus dem Gesicht.

Der ist absolut heiß …

Bevor ihr Kopfkino zu sehr auf Touren kam, holte ein harter Stoß gegen die Schulter sie in die Wirklichkeit zurück. Cherryl!

»Hab’s doch gewusst … unsere kleine Hope hat ein Auge auf den Biker geworfen«, feixte sie augenzwinkernd.

»Blöde Kuh!« Hope blies ihr den Rauch der Zigarette ins Gesicht und ging zu der Ordensschwester, weil sie sich ertappt fühlte. »Hab über was anderes nachgedacht«, log sie.

»Schwester O’Hara?«

Die Lehrerin drehte sich zu ihr um und sah sie mit ihren kalten blauen Augen an. Die Frau war eine Schönheit, auch wenn Fältchen ihre Augen umspielten und sie einen harten Zug um den Mund hatte, der an Verbissenheit grenzte. »Hope, alles in Ordnung? Bist ein bisschen blass um die Nase.«

»Ja, alles gut«, druckste Hope herum. Es war ihr plötzlich peinlich, sie angesprochen zu haben. »Wollt nur wissen, wann’s endlich weitergeht. Wir schwitzen alle und, na ja, Hunger haben wir auch.«

»Tut mir schrecklich leid, Schätzchen. Mister Kindermann tut, was er kann.«

Und das ist nicht besonders viel, dachte Hope.

Schwester O’Hara drehte sich zu Kindermann um und tippte ihm auf die Schulter. Sie schwitzte stark und schien ebenfalls wenig begeistert von dem Aufenthalt auf der brütend heißen Straße zu sein. »Kann ich Sie mal kurz sprechen, ja?«

Kindermann erhob sich grunzend. Seine Hose blieb jedoch auf halber Höhe der behaarten Arschbacken hängen, was ihn allerdings nicht zu stören schien. »Klar, Ma’am …«

Die beiden gingen zum Heck des Busses. Hope stand jetzt neben dem Fremden, die Jungs auf der anderen Seite des Motorrads. Es entstand ein kurzes Schweigen, bei dem alle mit wissenden Blicken auf die Maschine starrten.

Das Motorrad mit dem Ledersattel und einem einzigen Zylinder machte keinen besonders gepflegten Eindruck. Die Felgen waren rostig und der Lack zeigte sich stumpf. Hinten hatte er zwei Packtaschen und einen Schlafsack festgeschnallt. Musste ein ausländisches Fabrikat sein.

»Hey, Hope«, feixte Brady, »warum hast’n geschrien dort hinten im Feld?«

»Hab an deine dämliche Visage gedacht und Angst bekommen«, schnauzte Hope zurück. Langsam entwickelte sie einen Hass auf den Typen. Nicht, weil er diesen Unsinn verzapfte, sondern weil er das pure Gegenteil eines hormongesteuerten Idioten sein konnte, wenn er nur wollte. »Mit dir hab ich eh ’n Hühnchen zu rupfen, Homeboy!«

Brady öffnete den Mund, um ihren Angriff zu erwidern, doch Jamie stieß ihm mit dem Ellbogen in die Rippen. »Lass jetzt einfach gut sein, Brady.« Er sah leicht verlegen zu Hope. »Denke, wir alle wollen nur so schnell wie möglich weiter, hab ich recht?«

Hope lächelte, weil sie seine Geste nett fand. »Danke, Jamie …« Hope musterte Jamie und fand, dass er sich ziemlich gut gemacht hatte in den letzten Wochen. Die Cops hatten ihn völlig verwahrlost ins Waisenhaus gebracht. Zuvor hatte er wie ein Hobo gelebt, sich aus dem Süden bis zu ihnen nach New York durchgeschlagen. Und das konnte man durchaus wörtlich nehmen. Jamie hatte nie darüber gesprochen, was mit seinen Eltern war, nur dass es sie für ihn nicht mehr geben würde. Manchmal sprach er von einem Onkel Joe, zu dem er sich geflüchtet hatte, wenn sich seine Eltern stritten. Er hatte Hope nie erzählt, was für ein Typ Onkel Joe war und ob es sich bei ihm um einen echten Onkel handelte. Oder, was nicht ausgeschlossen war, dass er nur in Jamies Kopf existierte.

Hope wollte nicht mehr über solche Geschichten nachdenken, weil ihr sonst ihre eigene in den Sinn kam. Sie warf dem Motorradfahrer einen scheuen Seitenblick zu. Er scharrte mit den Boots nervös auf dem Boden herum, sah auf seine Stiefelspitzen. Ihm schien das alles unangenehm zu sein. Hope räusperte sich. »Cooles Motorrad.«

Wie dämlich …

Als hätte sie ihn aus einem Traum geschreckt, sah er zu ihr auf, blinzelte. Er antwortete jedoch nicht sofort, sondern schien sich die Worte zurechtzulegen. »Ist ’ne Enfield … Bullet 500.« Seine Stimme hatte diesen angenehmen weichen Klang der Südstaaten, wo man die Worte mehr sang als sprach. Der Kerl sah in seinen schmutzigen Wranglers und der abgewetzten Canvasjacke, die er trotz der Hitze trug, nicht besser aus als das Motorrad, das er fuhr. Er roch nach Benzin und frischem Schweiß, was ihn aber nicht weniger attraktiv machte.

»Und was verschlägt Mister Schweigsam in diese gottverlassene Einöde von Iowa?« Sie grinste ihn frech an. »Will er etwa Maisbauer werden?«

Er ignorierte ihre Spitze und hob seine breiten Schultern, denn ihm fiel nichts dazu ein. »Hm … Kein Maisbauer, nein … Ist eher so’n Auf-den-Spuren-der-Vergangenheit-Ding.« Er sah zu ihr auf und lächelte. »Ich bin Jason.« Er zwinkerte leicht mit dem rechten Auge, was wie ein Tick rüberkam. Jason wischte sich die öligen Finger an der alten Canvasjacke ab und streckte ihr die Hand entgegen.