Freiheit als Hingabe an Gott

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57 DELP, Das Volk als Ordnungswirklichkeit (in: Stimmen der Zeit, 1940): II,274. Schon 1936 schreibt Delp über die Christen: „Vielleicht [haben sie ihre] hellen Fahnen verwechselt mit den Bannern, die auf den Wällen der irdischen Burgen wehen“, siehe Christus, Herr der neuen Zeit (in: Chrysologus, 1936): I,188. Vgl. BLEISTEIN, Lebensbild Delps: 14. Hinsichtlich der Tätigkeit Delps für die Zeitschrift soll hier noch einmal auf die Maßnahmen hingewiesen werden, auf welche die Nationalsozialisten zurückgriffen, wenn es um die Kontrolle der Presse ging, vgl. BOBERACH, Propaganda – Überwachung – Unterdrückung: 45–69.

58 Vgl. DELP, Brief an J. Eichinger (8. Mai 1941): V,120.

59 Ders., Der Mensch und die Geschichte (1943): II,349–429.

60 Ders., Das Rätsel der Geschichte (Nachlass, o.J.): II,431–453 und Die Welt als Lebensraum des Menschen (Nachlass, o.J.): II,455–474, veröffentlicht BOLKOVAC, Zur Erde, 95–115 bzw. 31–69. Der Mensch vor sich selbst (Nachlass, o.J.): II,475–556, wahrscheinlich aus Delps Vortragsunterlagen bearbeitet, erschien im Druck 1955 in Colmar.

61 Vgl. BLEISTEIN, Geschichte eines Zeugen: 427.

62 Vgl. ebd.: 206f.

63 DELP, Männerapostolat: die Katholische Aktion des Mannes: I,69–109.

64 Im Oktober 1941 hielt Delp den Vortrag Vertrauen zur Kirche (I,263–283), im April 1942 Der moderne Begriff der Weltlichkeit in seiner theologischen und pastoralen Bedeutung (I,284–288), im Oktober 1942 Das gegenwärtige Weltverständnis und die christliche Haltung gegenüber der Welt (I,289–292) und Die Lehre von der Schöpfung und die recapitulatio als christliche Antwort an das Welterlebnis (I,293–296), im Februar 1943 hielt er ein Referat mit dem Titel Dritte Lösung, im August Dritte Idee. Ein Manuskript des Buches unter diesem Titel ging 1944 verloren.

65 Vgl. DELP, Geistige Lage (Vortragsskizze, 1943): V,263. Vgl. P. MÜLLER, Sozialethik: 144f.

66 Vgl. DELP, Dritter Sonntag im Advent (Predigt, 13. Dezember 1942): III,62.

67 Vgl. ders., Weihnachtsbrief (1943): V,266–269.

68 Ebd.: 268.

69 Vgl. BLEISTEIN, Geschichte eines Zeugen: 255–282,418f, siehe auch ders., Kreisauer Kreis, 596f. Mehr dazu etwa bei BRAKELMANN, Der Kreisauer Kreis.

70 V. ROON, Neuordnung im Widerstand: 354.

71 V. MOLTKE stellt fest: „Wir haben nur gedacht“, siehe Briefe an Freya: 616.

72 Ebd.

73 Ders., Letzte Briefe: 9.

74 Ders., Briefe an Freya: 616. Wegen des Mangels an Quellen ist es heute unmöglich, die Rolle Delps im Kreisauer Kreis im Detail zu bestimmen. Sowohl die Frau von Moltke, Freya, als auch Eugen Gerstenmaier, selber ein Mitglied des Kreises, bezeichnen Delp als eine „gedankenreiche“ Person, vgl. F. V. MOLTKE, Erinnerungen an Kreisau: 61f, bzw. GERSTENMAIER, Ein Lebensbericht: 159. Laut v. Roon sei Delp der „geistig führende Kopf“, siehe V. ROON, Neuordnung im Widerstand: 177. Ähnlich Bleistein, der die Rolle Delps im Kreis als „schöpferischen Impuls“ bezeichnet, siehe BLEISTEIN, Delp und der 20. Juli 1944: 77, vgl. auch ders., Geschichte eines Zeugen: 273. Vgl. auch POPE, Der Beitrag Delps für den Kreisauer Kreis, sowie MAIER, Delps Vermächtnis: 803–804. Dirks würdigt dagegen Delp als einen nüchternen Theologen, hinsichtlich seines Engagements im Kreisauer Kreis formuliert er aber den Eindruck, dass Delp „nichts von [einem] Soziologe[n], schon gar nichts von der katholischen Sozialtradition“ in sich habe, ein Urteil, dass er auf Delps Gefängnisschriften gründet, siehe DIRKS, Alfred Delp: 202. Einen Überblick über das Thema gibt SCHALLER, Anthropologie von Delp: 107–114, an.

75 Vgl. FEST, Das tragische Vermächtnis: 12.

76 Vgl. BLEISTEIN, Geschichte eines Zeugen: 293–301, siehe auch die detaillierte Darstellung in SCHALLER, Anthropologie von Delp: 160–165.

77 Vgl. DELP, Gefängnisbrief an F. v. Tattenbach (9. Dezember 1944): IV,41.

78 Vgl. BLEISTEIN, Geschichte eines Zeugen: 302–411.

79 Vgl. DELP, Die Erziehung des Menschen zu Gott (Gefängnisreflexion, 1944/45): IV,312.

80 Vgl. ders., Epiphanie (Gefängnismeditation, Januar 1945): IV,215f, Veni Sancte Spiritus (Gefängnismeditation, Januar 1945): IV,296.

81 Vgl. ders., Vierter Adventssonntag (Gefängnismeditation, Dezember 1944): IV,185.

82 Vgl. BLEISTEIN, Geschichte eines Zeugen: 335f.

83 DELP, Gefängnisbrief an L. Oestreicher (16. Dezember 1944): IV,50, vgl. ebenfalls Gefängnisbrief an Familie Kreuser (Mitte November 1944): IV,23, Adventsgestalten (Gefängnismeditation, Dezember 1944): IV,151.

84 Ders., Gefängnisbrief an M. Hapig/M. Pünder (22. Dezember): IV,65.

85 Ders., Gefängnisbrief an M. (28. Dezember 1944): IV,71.

86 Vgl. ders., Gefängnisbrief an L. Oestreicher (Ende Oktober 1944): IV,22, Gefängnisbrief an M. Hapig/M. Pünder (22. November 1944): IV, 29, Gefängnisbrief an F. v. Tattenbach (1. Dezember 1944): IV,34, Epiphanie (Gefängnismeditation, Januar 1945): IV,223, Veni Sancte Spiritus (Gefängnismeditation, Januar 1945): IV,264.

87 Vgl. ders., Vater unser (Gefängnismeditation, Januar 1945): IV,225.

88 Ders., Veni Sancte Spiritus (Gefängnismeditation, Januar 1945): IV,281.

89 V. MOLTKE, Briefe an Freya: 622.

90 DELP, Gefängnisbrief an F. v. Tattenbach (10. Januar 1945): IV,98. Pater Augustin Rösch SJ, stark engagiert im Widerstand, auch im Kreisauer Kreis, war damals untergetaucht und wurde von den Nationalsozialisten gesucht. Dass auch Moltke irgendwie als „Märtyrer für den heiligen Ignatius“ stirbt, bemerkt er selber in den Briefen an seine Frau, siehe V. MOLTKE, Briefe an Freya: 616.

91 DELP, Epiphanie (Gefängnismeditation, Januar 1945): IV,215.

92 Ders., Gefängnisbrief an M. (nach dem 11. Januar 1945): IV,107.

93 Vgl. ders., Gefängnisbrief an M. Hapig/M. Pünder (11. Januar 1945): IV,101, Gefängnisbrief an M. (nach dem 11. Januar 1945): IV,104.

94 Gedächtnisprotokoll von Pfarrer Harald Poelchau, zitiert bei KEMPNER, Priester vor Hitlers Tribunalen: 67. Vgl. BLEISTEIN, Geschichte eines Zeugen: 364–401. Siehe auch DELP, Gefängnisbrief an F. v. Tattenbach (10. Januar 1945): IV,97, Gefängnisbrief an M. (nach dem 11. Januar 1945): IV,105–112.

95 Vgl. DELP, Warum ich vor Gericht komme: IV,332–335, Der Sachverhalt: IV,336–337, Verteidigung: Z. Zt. Strafgefängnis Tegel: IV,338–356. Vgl. die knappe aber wichtige Einführung zu den Texten von BLEISTEIN, IV,331f.

96 Vgl. DELP, Gnadengesuch (Entwurf, Januar 1945): IV,361–364.

97 Ders., Gefängnisbrief an M. Hapig/M. Pünder (21. Januar 1945): IV,134.

98 Ders., Gefängnisbrief an M. (nach dem 11. Januar 1945): IV,111.

99 Ders., Gefängnisbrief an M. (7. Januar 1945): IV,95. Dirks erkennt hier eine „subtile Form des christlichen Gleichmutes“, siehe DIRKS, Alfred Delp: 201.

100 Vgl. DELP, Gefängnisbrief an F. v. Tattenbach (9. Dezember 1944): IV,41.

101 Vgl. ders., Gefängnisbrief an M. (31. Dezember 1945): IV,77.

102 Ders., Gefängnisbrief an M. (nach dem 11. Januar 1945): IV,108–110.

103 Ebd.: 111.

104 Vgl. ders., Gefängnisbrief an A. (nach dem 11. Januar 1945): IV,116, Gefängnisbrief an M. Blumschein (nach dem 11. Januar 1945): IV,119, Gefängnisbrief an F. v. Tattenbach (14. Januar 1945): IV,121.

105 Vgl. Delps Worte über den Wert, den sein Leben durch alle jene Ereignisse bekommen habe: Gefängnisbrief an L. Oestreicher (nach dem 11. Januar 1945): IV,114, Gefängnisbrief an M. Hapig/M. Pünder (nach dem 11. Januar 1945): IV,117, Gefängnisbrief an L. Oestreicher (18 Januar 1945): IV,128, Gefängnisbrief an M. Hapig/M. Pünder (21. Januar 1945): IV,132, Gefängnisbrief an F. v. Tattenbach (21. Januar 1945): IV,135. Vgl. auch Delps Verstehen des eigenen Todes in Bezug auf die Worte Christi als einen Samen, der sterben müsse, um Früchte zu bringen: Gefängnisbrief an L. Oestreicher (14. Januar 1945): IV, 123, Gefängnisbrief an M. Hapig/M. Pünder (14. Januar 1945): IV,126, Gefängnisbrief an L. Oestreicher (18. Januar 1945): IV,128.

106 Vgl. ders., Gefängnisbrief an F. v. Tattenbach (14. Januar 1945): IV,121, Gefängnisbrief an M. Hapig/M. Pünder (14. Januar 1945): IV,126, Gefängnisbrief an M. Hapig/M. Pünder (21. Januar 1945): IV,132.

107 Ders., Gefängnisbrief an M. Hapig/M. Pünder (14. Januar 1945): IV,125. Vgl. ders., Gefängnisbrief an L. Oestreicher (14. Januar 1945): IV,124, Gefängnisbrief an F. v. Tattenbach (18. Januar 1945): IV,129, Gefängnisbrief an M. Hapig/M. Pünder (18. Januar 1945): IV,131, Gefängnisbrief an M. Hapig/M. Pünder (21. Januar 1945): IV,134. Siehe auch SCHALLER, Anthropologie von Delp: 298–308,399–407. Ähnlich schrieb Bonhoeffer im Gefängnis Berlin-Tegel, und zwar am 28. Juli 1944, als Delp verhaftet wurde. Bonhoeffers Worte werden damit zu dem Motto der Gefangenschaft Delps: „nicht nur die Tat, sondern auch das Leiden ist ein Weg zur Freiheit. Die Befreiung liegt im Leiden darin, daß man seine Sache ganz aus den eigenen Händen geben und in die Hände Gottes legen darf. In diesem Sinne ist der Tod die Krönung der menschlichen Freiheit“, siehe BONHOEFFER, Widerstand und Ergebung: 200.

 

108 Vgl. DELP, Gefängnisbrief an F. v. Tattenbach (14. Januar 1945): IV,122, Epiphanie (Gefängnismeditation, Januar 1945): IV,224.

109 Ders., Gefängnisbrief an A. S. Keßler (23. Januar 1945): IV,141.

110 Ders., Vater unser (Gefängnismeditation, Januar 1945): IV,225. Vgl. ders., Gefängnisbrief an A. (nach dem 11. Januar 1945): IV,117.

111 Vgl. ders., Vater unser (Gefängnismeditation, Januar 1945): IV,226.

II. Delps Kritik am Freiheitsverständnis der Moderne

A. Der Bezugspunkt von Delps Kritik – Martin Heideggers Sein und Zeit
1. „Sein und Zeit“ an sich vor den Fragen Delps

Der tief in der theologischen Tradition verwurzelte Delp denkt die Freiheit im Anschluss an die Gegenwart und gestaltet ihr Verständnis vor allem in der Auseinandersetzung mit Heideggers Sein und Zeit, das er kritisch zu rezipieren versucht.1 Aus diesem Grund ist es für ein angemessenes Begreifen von Delps Vision notwendig, zuerst einen Blick auf den Inhalt des Werkes des Freiburger Philosophen zu werfen. Es handelt sich dabei jedoch um eine Lektüre von Sein und Zeit allein aus sich selbst heraus, d.h. ohne den ständigen Blick auf die Delp’sche Kritik an ihm, wohl aber vor dem Hintergrund der durch Tragische Existenz gestellten Fragen. In seiner Schrift zielt Delp auf das ganze Unternehmen Heideggers, das die Frage nach dem Sein überhaupt thematisiert. Das uns interessierende Problem der Freiheit kommt in der Auseinandersetzung zwar zur Sprache, bleibt aber eher zweitrangig.2 Vielmehr kritisiert Delp unter Bezugnahme auf das Denken Heideggers einige Prämissen des Freiheitsverständnisses der Moderne; er beabsichtigt dabei weniger eine Auseinandersetzung mit dem Freiheitsverständnis des Freiburger Philosophen. Dadurch ergibt sich die Notwendigkeit einer präzisen Reformulierung von Delps Fragen an die Heideggersche Philosophie.

Mit Delp kann man in Sein und Zeit die Grundlage eines modernen Freiheitsverständnisses entdecken und unter diesem Blickwinkel wollen wir jetzt das Werk Heideggers lesen – und damit Delps Deutung nachvollziehen. Die Auseinandersetzung mit Sein und Zeit wird darum unter drei Fragen geführt, die, so Delp, den Prämissen des Freiheitsverständnisses, das heißt dem Menschenbild, der Gottesfrage sowie dem Autonomiebegriff entsprechen:

1.) Entwickelt Sein und Zeit eine bestimmte Anthropologie?

2.) Welchen Platz hat der Gottesbegriff in Sein und Zeit?

3.) Was bedeutet der Heidegger’sche Begriff der Entschlossenheit?

Das Ergebnis lässt uns den Grund von Delps Kritik am modernen Freiheitsverständnis und infolgedessen auch den Grund seines Versuchs, ein eigenes Freiheitsdenken zu konzipieren, verstehen.

Die Problematik der Delp’schen Auseinandersetzung mit Sein und Zeit ist kompliziert. Man muss Delp mindestens zugestehen, dass er sich auf das von Heidegger Verfasste im aufrichtigen Suche nach einem Verstehen bezieht. Um seine Kritik selbst wiederum richtig zu verstehen, gilt es aber zu berücksichtigen, dass Delp dieses Werk auf der Grundlage einer bestimmten Hermeneutik liest: Er sieht darin das Selbstverständnis des Menschen seiner Zeit denkerisch zum Ausdruck gebracht, so dass sich seine Kritik an Sein und Zeit im Wesentlichen auch als kritische Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist verstehen lässt. Um der Sache gerecht zu werden, müssen wir deshalb nach der Lektüre von Sein und Zeit in einem nächsten Schritt die geistesgeschichtliche Situation in Deutschland in den Jahren 1931-1935 betrachten. Es handelt sich dabei um das, was Delp als Mensch der Epoche wahrnimmt, was ihn in seiner Auseinandersetzung lenkt oder abstößt, was er einbezieht und wogegen er sich wendet. Erst dadurch gewinnen wir einen Blick auf die Grundlagen von Delps Freiheitsverständnis.

Die Schwierigkeiten, auf die Delp stößt, die jene gerade angeklungenen Komplikationen seiner Auseinandersetzung ausmachen, gründen darin, dass das Werk Heideggers fragmentarisch bleibt. Einerseits verlangt es einen zweiten Teil, andererseits distanziert sich der spätere Heidegger selbst von seinem Werk. Der Philosoph gibt zu, er habe sich an Sein und Zeit vielleicht „zu früh“ gewagt3 und es

wäre … gut, man ließe endlich Sein und Zeit, das Buch und die Sache, für eine unbestimmte Zukunft auf sich beruhen4.

Die Frage der letzten Seite von Sein und Zeit: „Hierzu allein ist die vorliegende Untersuchung unterwegs. Wo steht sie?“5 wird von Delp aufgenommen und kritisch beantwortet. Bald nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit bezeichnet Heidegger seinen Denkweg als einen „Holzweg“, „der [ihn] irgendwohin führte, dieser Weg [ist] aber jetzt nicht mehr begangen u. schon verwachsen“6. Er zieht sich langsam von den Begriffen der Fundamentalontologie des Daseins, der Entschlossenheit und der Welt zurück, so dass man seinen Anspruch, seine späteren Deutungen hätten gleichermaßen dem Anliegen von Sein und Zeit entsprochen, als unhaltbar ansehen muss.7

Dieser Umstand der durchaus selbstkritischen Entwicklung der Heidegger’schen Gedanken ist für die Beurteilung der Auseinandersetzung Delps mit dem Werk durchaus relevant, doch muss zunächst beachtet werden, dass wir uns ausschließlich auf die für den Jesuiten zugänglichen Quellen beschränken. In Anbetracht des Problems, dass Sein und Zeit an sich kein Werk ist, das von sich aus über sich selbst ganz sprechen kann, dass es kein fertiges System, sondern ein Denken „unterwegs“ ist, ergibt sich für Delp die Notwendigkeit, ein Interpretament zu finden, mit dessen Hilfe das relevante Nicht-zu-Ende-Gesagte des Buches durchleuchtet werden kann. Während das Werk den heutigen Lesern in den schon veröffentlichten Vorlesungen und weiteren Aussagen sowie Auslegungen Heideggers zugänglich ist, verfügte Delp nur über wenige weitere Möglichkeiten zur Erschließung des Inhalts von Sein und Zeit, nämlich die öffentliche Tätigkeit Heideggers in den Jahren 1931-1935 einerseits und die faktische Wirkung seines Denkens in der Gesellschaft andererseits. Die aus diesen „Quellen“ resultierende Hermeneutik Delps ist zum einen nachteilig, insofern sie dem ureigenen Anliegen Heideggers nicht ganz gerecht werden kann; zum anderen aber spiegelt sie in ihrer Nähe eine „faktischere“ Auseinandersetzung mit dem Zuerst-Gesagten (Sein und Zeit) ziemlich unmittelbar wider, was übrigens das Interessante am Delp’schen Denken ausmacht.

a) Die Ontologie aus der Perspektive der Daseinsanalytik

Die von Delp geübte Kritik an Sein und Zeit und auch die Beurteilung seines eigenen Werkes Tragische Existenz durch spätere katholische Denker hängen davon ab, inwiefern der Interpret Sein und Zeit anthropologische Züge zuspricht – oder auch nicht. Ist das Werk Heideggers „bloß“ eine Ontologie oder durchbricht es (auch) diese Grenze und entwickelt gleichermaßen eine Anthropologie? Diese Frage ist für das gesamte Werk sowohl Heideggers als auch Delps entscheidend, denn nicht nur seine Gottesfrage sondern auch der Begriff der Entschlossenheit müssen je nach der Antwort auf diese Frage anders und neu verstanden werden.

Dass Heidegger in Sein und Zeit nicht auf die Erklärung eines Menschenbildes hin abzielt, sondern zunächst eine Ontologie entwickeln will, formuliert er eindeutig schon auf den ersten Seiten des Werkes. Die Aufgabe seines Denkens bestehe darin, so Heidegger, die vergessene Frage nach dem Sein überhaupt wieder zu stellen.8 Insofern ist der Anspruch auf eine Anthropologie nicht vorhanden. Doch den Zugang zum Sein findet der Philosoph nur dann, wenn er den Menschen, also das Dasein befragt, weil das menschliche Dasein das einzige Seiende sei, dem es „in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“, das also „zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat“9. Heidegger betrachtet das Sein aus der Perspektive des Daseins und mithilfe der Daseinsanalytik will er die Seinsfrage beantworten: „Daher muß die Fundamentalontologie, aus der alle anderen [Ontologien] erst entspringen können, in der existenzialen Analytik des Daseins gesucht werden.“10

Mit dieser Methode ist es nun notwendig, eine klare Distinktion zu bewahren, worauf Heidegger selbst immer wieder aufmerksam macht:

Die Herausstellung der Seinsverfassung des Daseins bleibt aber gleichwohl nur ein Weg. Das Ziel ist die Ausarbeitung der Seinsfrage überhaupt.11

Die Frage nach dem Sein überhaupt, obwohl nur aus der Analyse des Daseins zu erreichen, geht jedem Fragen nach dem Seienden – mithin auch nach dem Menschen – voraus: „Die existenziale Analytik des Dasein liegt vor jeder Psychologie, Anthropologie und erst recht Biologie.“12 Das Sein ist ein Gefragtes, das Seiende des Daseins ein Befragtes, ein Erfragtes wiederum der Sinn des Seins, wobei ansatzweise bereits die in der – auch Delp bekannten – Abhandlung Vom Wesen des Grundes explizit ausgesprochene ontologische Differenz sichtbar wird.13

Sein und Zeit ist eine Ontologie, aber auch eine im Heidegger’schen und nicht im Husserl’schen Sinne geführte Phänomenologie, die ihr Ziel in dem findet, was noch offenbart werden soll, das heißt in dem Sein selbst, und nicht in dem sich schon Offenbarenden, d. i. im Seienden. Die Phänomenologie geht von der Hermeneutik des Daseins, der Analytik der Existenz aus.14 Die von Heidegger gestellte Frage bezieht sich nicht auf das metaphysische „Was“ des Menschen, sondern auf das phänomenologische „Wie“: auf die Frage, wie es ist, ein Mensch zu sein.15 Nicht zu übersehen ist dabei die Grundüberzeugung von Sein und Zeit, dass das primäre Verhältnis des Menschen zur Welt kein theoretischer, sondern ein praktischer Umgang mit ihr sei. Deshalb stehe die hermeneutisch geführte, die alltäglichen Existenzvollzüge auslegende Philosophie, der Biologie oder der Anthropologie näher als der traditionellen Philosophie.16 Daraus ergibt sich der Heidegger’sche Begriff der Philosophie als einer „universale[n] phänomenologische[n] Ontologie, [die] von der Hermeneutik des Daseins“17 ausgeht.

Auf Grund seiner Methode muss Heidegger in Sein und Zeit zwischen zwei Ebenen unterscheiden: Einerseits ist da die „ontisch-existenzielle, paradigmatische Explikationsebene der phänomenologischen Einzelanalyse“, zu welcher beispielsweise Furcht oder Angst gehören. Andererseits ist die „ontologisch-existenziale, begriffliche Rekonstruktionsebene der paradigmatischen Explikationsebene“18 davon zu trennen, zu welcher z.B. Geworfenheit, Erschlossenheit, Verfallenheit oder Entschlossenheit gehören. Doch die Differenz zwischen den beiden Ebenen, der – so könnte man sie mit einer Terminologie fassen, die Delp näher liegt – ontologischen, die die allgemeine Struktur jedes Menschen betrifft und der anthropologischen, die sich dagegen auf ein einzelnes, bestimmtes Dasein bezieht, betont Heidegger nicht stark genug19 und auch Delp reflektiert über diese Differenzierung zu wenig. Nun sollen die Schwierigkeiten zur Sprache kommen, die sich ergeben, will man nach der gewählten Methode konsequent verfahren. Das bedingt, dass sich dem Leser des Buches tatsächlich eine Vielfalt von Interpretationen ergeben.20 In Delps Tragische Existenz wird dies später zu erkennen sein – und zwar besonders in Bezug auf den für sein Freiheitsverständnis relevanten Begriff der Entschlossenheit, in welchem die Differenz zwischen der existenzialen und existenziellen Ebene verschwimmt, doch darauf wird später genauer eingegangen werden.

 

Einer anthropologischen Lesung bieten sich Abschnitte wie etwa der vom Man handelnde in Sein und Zeit besonders an. Zwar betont Heidegger, das Man sei eine „positive Verfassung des Daseins“21 und er wolle keine „Herabminderung der Faktizität des Daseins“22 treiben, aber dennoch suggeriert der Text an sich, dass das Man eine normativ niedrigere Art der Existenz sei.23 Denn nicht zufällig wird heftig diskutiert, ob die Analyse des Verfallens des Menschen in das Man tatsächlich rein deskriptiv oder nicht doch auch normativ sei. In Anbetracht der Tatsache, dass die Sprache von Sein und Zeit nicht arm an wertenden Termini ist (z.B. „Gerede“ oder „Verfallenheit“), ist es nachvollziehbar, dass viele, unter anderen auch Delp, Heideggers Anspruch, diese Begriffe seien keinesfalls pejorativ zu verstehen, nicht ernst nehmen können.24 Ein weiteres Problem bilden auch die Begriffe „Eigentlichkeit“ und „Uneigentlichkeit“, welche nicht selten existenzialistisch missverstanden wurden. Noch mehr legt sich dann eine existenzialistische Lesart von Sein und Zeit nahe, wenn sprachlich suggestive Konstatierungen – wie etwa die „Unheimlichkeit“ des nackten Daß des Daseins in der „leeren Erbarmungslosigkeit“ des „Nichts der Welt“25 – existenziell-ontisch und isoliert gelesen werden; doch dies wäre gleichfalls als ein Missverständnis zu bewerten. Derartige Formulierungen bilden nämlich lediglich eine Beispielebene mit Erläuterungsfunktion; mithin lässt sich festhalten, dass eine existenzialistische Auslegung nicht der Intention von Sein und Zeit entspricht.26

Heidegger, dem die Gefahr der anthropologisierenden Interpretation bestimmter Passagen von Sein und Zeit nicht unbekannt war, wehrt sich dagegen und spricht von der Notwendigkeit der „Abgrenzung gegen jede Art von philosophischer Anthropologie“27, aber damit antizipiert er bereits einen der Hauptgründe für das kritische Urteil, welches von verschiedenen Seiten über sein Werk gefällt werden wird. Er schreibt:

Außerdem wird das Verständnis des in „Sein und Zeit“ gebrauchten „Existenzbegriffes“ dadurch erschwert, daß der „Sein und Zeit“ gemäße existenziale Existenzbegriff erst voll entwickelt war in dem Abschnitt, der infolge des Abbruchs der Veröffentlichung nicht mitgeteilt wurde … Allerdings war ich damals der Meinung, übers Jahr schon alles deutlicher sagen zu können. Das war eine Täuschung. So kam es in den folgenden Jahren zu einigen Veröffentlichungen, die auf Umwegen zu der eigentlichen Frage hinführen sollten.28

In diesen Kontext gehören auch seine Einwände, die er gegen jene äußert, die ihn zu den Existenzphilosophen zählen wollen – d.h. auch gegen Delp.29

Es besteht nun also eine Kluft zwischen der anfänglichen Intention und der letztendlichen Gestalt des Werkes. Heidegger, der einen noch nie beschrittenen Weg des Philosophierens einschlägt, weicht von einer existenzialen Lesart ab; er gibt dem Leser immer wieder zu verstehen, dass das Ziel dieses Weges die Ausarbeitung der Seinsfrage überhaupt ist, um so den eventuellen Eindruck, sein Anliegen sei anthropologisch zu begreifen, zu korrigieren. Jener durch eine suggestive Rhetorik in Sein und Zeit gesteigerte Eindruck ist sehr stark, weshalb man gelegentlich sogar den Eindruck haben kann, Heidegger proklamiere einen existenzialistischen Dezisionismus.30 Da noch im Jahre 1922 der Seinscharakter des Daseins – nicht das Sein an sich – Schwerpunkt des Heidegger’schen Denkens war, nun aber, nach dem Werk von 1927, das Sein an sich und gerade nicht der Seinscharakter des Daseins in den Mittelpunkt rückt, gilt Sein und Zeit als Kehrtwende. Dies war durchaus auch für Heideggers Zeitgenossen evident.31 Heidegger wird später in Bezug auf das Problem der Sprache erklären, dass er einerseits in Sein und Zeit seine Fragen zwar „metaphysisch gesprochen und dargestellt“ habe, dass er aber andererseits „doch anders gedacht“32 habe. Sogar der Begriff „Fundamentalontologie“ erweist sich später als etwas „Übergängliche[s]“33.

In diesem Moment, da Heidegger gerade die genannte Wende vollzieht, tritt Delp in die beginnende philosophische Auseinandersetzung ein. Das Urteil Delps ist nachvollziehbar und kann nicht als unsachlich gelten. Vielmehr zeigt sich damit, wie viele Interpretationsmöglichkeiten eine Lektüre von Sein und Zeit erlaubt.