Freiheit als Hingabe an Gott

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b) Der methodische Atheismus

Ein zweites Problem, welches Delps Auseinandersetzung mit Sein und Zeit bestimmt und das in der Folge ein Grundelement seines Freiheitsverständnisses bildet, stellt die Gottesfrage dar. Es ist zu prüfen, welche Rolle Gott im Denken Heideggers – konkret: in Sein und Zeit – spielt. Lässt jene Philosophie überhaupt eine Möglichkeit des Gottesbezuges?

Die Rolle der Gottesfrage in Sein und Zeit kann zunächst mit einem Satz wiedergegeben werden: Sie ist nicht präsent, denn in jenem Werk ist keinerlei Gottesbezug beschrieben. Heidegger schweigt über Gott; selbst hinsichtlich der traditionellen Ankerpunkte für einen Gottesbezug – das Problem des Todes oder des Gewissens – findet sich keinerlei Erwähnung einer Gottesinstanz:

Wenn der Tod als „Ende“ des Daseins, das heißt des In-der-Welt-seins bestimmt wird, dann fällt damit keine ontische Entscheidung darüber, ob „nach dem Tode“ noch ein anderes, höheres oder niedrigeres Sein möglich ist … Die diesseitige ontologische Interpretation des Todes liegt vor jeder ontisch-jenseitigen Spekulation.34

Gott ist mithin in einen Bereich verwiesen, der außerhalb dessen liegt, was Heidegger als Philosophie fasst.

Es kommt damit abermals das bereits ausgeführte, entscheidende Problem der Methode von Sein und Zeit zur Sprache. Diese Methode nämlich war, wie wir sahen, Delp nicht wirklich klar. Die Frage, die Heidegger nun selbst stellt: „Hat das In-der-Welt-sein eine höhere Instanz seines Seinkönnens als seinen Tod?35, verneint er. Der Sinn des Daseins sei schließlich die Zeit.36 „Alles Verhalten des Daseins soll aus dessen Sein, das heißt aus der Zeitlichkeit interpretiert werden“37; die Zeit aber ist endlich.38 Mit dieser Feststellung schließt Heidegger seine Philosophie der Gottesfrage. Dem in sein Da geworfenen Seienden bleibe sein Woher und Wohin verdeckt.39 An diesem Gedanken wird Delp scharfe Kritik üben. Traditionell theologisch gedachte Begriffe – etwa „Transzendenz“ oder „Gewissen“ – versteht Heidegger in einem neuen, nunmehr gott-losen Sinne. Die Heidegger’sche Transzendenz hat mit dem Delp’schen Über-sich-selbst-hinaus des Menschen nichts zu tun, sie ist horizontal, zeitlich, endlich fundiert und besteht in dem Hingehen in die Möglichkeit der Welt.40 Gott hat in diesem Begriff von Transzendenz keinen Raum mehr, und gleichermaßen steht es um ihn in der Folge der Analyse des Gewissens.41 Der Rufer und der Angerufene, so Heidegger, sind nicht zwei verschiedene Wesen, sondern beides ist zugleich das Dasein selbst. Einen Gott oder irgendwelche anders begriffenen „nicht-daseinsmäßigen“, „fremden Mächte“ braucht es dann nicht länger.42

Trotz des Schweigens Heideggers zur Gottesfrage kann der aufmerksame Leser in Sein und Zeit durchaus kritische Bemerkungen, welche theologische Inhalte betreffen, finden. Diese nun beziehen sich aber nicht unmittelbar auf die Theologie, sondern eher auf ihr Verhältnis zur Philosophie. Heidegger erklärt:

Die Behauptung „ewiger Wahrheiten“, ebenso wie die Vermengung der phänomenal gegründeten „Idealität“ des Daseins mit einem idealisierten absoluten Subjekt gehören zu den längst noch nicht radikal ausgetriebenen Resten von christlicher Theologie innerhalb der philosophischen Problematik.43

Hier zeigt sich der Charakter der Heidegger’schen Unterscheidung zwischen der Philosophie und der Theologie.

Diese in Sein und Zeit jedoch nicht weiter thematisierte Voraussetzung konnte Delp so nicht klar sein. Dass nämlich Heidegger Gott sowie die Gottesfrage zwar nicht negiert, sie jedoch methodologisch außerhalb der Philosophie – das heißt der „universal[en] phänomenologische[n] Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins“44 – ansiedelt, kann man aus seinem Werk zunächst kaum erschließen. Das Sein, das Dasein, die Welt, die Zeit werden von dem Freiburger Philosophen ohne Bezug auf irgendeine Gottesfrage nicht nur einfach analysiert, sondern bis zum Ende verstanden, erklärt und dann gelebt. Der einzige Bezug des Daseins in der Welt ist das Dasein selbst und die Welt. Dieses Konzept kann zweifelsohne als ein „Atheismus“ bezeichnet werden.

Die Bestimmung des Heidegger’schen Denkens in Sein und Zeit als „Atheismus“ bedingt jedoch eine Präzisierung und auch diese gründet wieder im methodischen Umgang Heideggers mit der Philosophie im Allgemeinen. Nicht mehr von dem „System des Katholizismus“, das heißt vor allem auch nicht von der Neuscholastik überzeugt, zugleich aber immer noch der Christenheit und der Metaphysik verbunden,45 geht Heidegger in Sein und Zeit einen anderen Weg des Philosophierens.

Über den Ort, welchen Heidegger in seiner Zeit der Gottesfrage in seinem Denken zuwies, erklärte er sich lediglich in einer Vorlesung ausführlich. Unter dem Titel Phänomenologie und Theologie sprach er im Erscheinungsjahr von Sein und Zeit in Tübingen; ohne jenen – Delp unbekannten – Text bliebe das Schweigen Heideggers zur Gottesfrage in Sein und Zeit unverständlich. Im Hintergrund des Heidegger’schen Textes steht eine weitere Vorlesung vom Wintersemester 1921/22 mit dem Titel Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung. In dieser grenzt Heidegger die Philosophie, welche als eine hermeneutische Phänomenologie des faktischen Lebens definiert wird, von der Gottesfrage ab. Seine Urteilsenthaltung bezüglich der Existenz Gottes bezeichnet Heidegger als „prinzipiellen Atheismus“46, doch erweist sich diese Beschreibung als höchst missverständlich. Der Begriff wird

zwar nicht im Sinne eines dogmatischen, wohl aber eines methodischen Atheismus [verstanden], was [Heidegger] gelegentlich auch durch die Getrenntschreibung des Wortes „A-theimus“ verdeutlicht. Diesen methodischen A-theismus können wir unsererseits mit dem phänomenologischen Terminus „theologische Epoché“ bezeichnen47.

Heidegger differenziert demnach zwischen der Philosophie, die die Wissenschaft vom Sein ist, und der Theologie, die als eine positive Wissenschaft sich mit dem Seienden, konkret mit dem Positum der „Christlichkeit“ beschäftigt.48 Demgemäß ist die Philosophie „grundsätzlich atheistisch, d.h. nicht dem Inhalt, sondern der Haltung nach“49.

Als noch wichtiger erweist sich der Unterschied zwischen Gott und dem Sein, den Heidegger im dritten – letztlich nie verfassten – Abschnitt von Sein und Zeit unter dem Begriff einer „theologische[n] (transzendente[n]) Differenz“ einzuführen plante, auf welchen er aber lediglich in seinem Brief an Max Müller aus dem Jahr 1947 hinweist.50 Auf Grund eben jener Unterscheidung wird Heideggers Intention offensichtlich, in Sein und Zeit der Gottesfrage keinen Raum zu geben, denn das Werk ziele auf die Seinsfrage überhaupt.51 Für Delp hingegen ist die Frage nach dem Sein zuinnerst mit der Frage nach Gott verbunden; er begreift Gott durch die philosophische Kategorie des ens primum oder, ginge er tiefer auf das Denken des Thomas von Aquin ein, als das Sein, als ipsum esse per se subsistens.52

Für Delp bedeutet die von Heidegger vorausgesetzte methodologische Unterscheidung zwischen Gott und dem Sein eine neue Schwierigkeit. Zum Problem der wohl von dem Philosophen selbst nicht immer eindeutig geführten Unterscheidung zwischen den existenzialen, phänomenologischen und den existenziellen Ebenen des Daseins kommt somit eine schweigend vorausgesetzte, nicht erklärte „theologische Differenz“ hinzu. Vor diesem Hintergrund verfällt Delp dem Missverständnis, Heideggers methodischen Atheismus als inhaltlichen, „dogmatischen“ Atheismus aufzufassen.

Sein und Zeit enthält auch einen Hinweis darauf, weshalb Heidegger den „methodischen Atheismus“ für notwendig hielt: Auf der letzten Seite schreibt der Philosoph, dass

die antike Ontologie mit „Dingbegriffen“ arbeitet und daß die Gefahr besteht, das „Bewusstsein zu verdinglichen“53,

und dies auch heute. Demgemäß ist der Begriff Gottes ebenso in der Gefahr, einfach unter die Herrschaft der Verdinglichung zu fallen. Der spätere Heidegger artikuliert dies, indem er feststellt: zu Gott als causa sui

kann der Mensch weder beten, noch kann er ihm opfern. Vor der Causa sui kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen. – Demgemäß ist das gott-lose Denken, das den Gott der Philosophie, den Gott als Causa sui preisgeben muß, dem göttlichen Gott vielleicht näher54.

Delp nimmt nun auch eine gewisse Gott-losigkeit in Sein und Zeit wahr und versucht sie zu interpretieren. Dies tut er nicht nur als scholastisch gebildeter Theologe, der in Gott das Sein des Seienden erkennt, sondern auch als christlicher Denker, der fragt, wie es möglich sei, vor dem Gott Heideggers zu tanzen und zu musizieren, ihn anzubeten und ihm sich hinzugeben.

Erst der bis hierhin dargestellte Zusammenhang ermöglicht eine Lektüre von Sein und Zeit, die den Intentionen Heideggers entspricht. Die phänomenologische Grundverfassung des Daseins, d. i. das In-der-Welt-sein55, soll nicht als letzte Bestimmung des Daseins überhaupt gelten; die von Heidegger ausgeklammerte und von Delp erneut eingebrachte Frage nach dem Über-die-Welt-hinaus – im Sinne von: Zu-einem-Transzendenten-hin – ist nämlich für das Dasein möglich und muss gestellt werden, obgleich sie auch außerhalb der Phänomenologie liegt.

Vor diesem Hintergrund muss man auch das Problem der Geworfenheit reflektieren. Die von Heidegger gedachte Geworfenheit, d. i. die Faktizität des Daseins, sein „nacktes ‚Daß es ist und zu sein hat‘ “56, wird für Delp zum größten Gewinn des Heidegger’schen Denkens, da sie sich für sein Freiheitsverständnis als unverzichtbar erweist. Sie schließt nämlich, so Heidegger,

 

das freischwebende Seinkönnen im Sinne der „Gleichgültigkeit der Willkür“ (libertas indifferentiae) [aus]. Das Dasein ist als wesenhaft befindliches je schon in bestimmte Möglichkeiten hineingeraten …57

Der Mensch entwirft sein Sein auf die ihm schon mit der Geworfenheit vorgegebenen Möglichkeiten hin; deshalb spielt sich seine Existenz in der Spannung zwischen Passivität und Aktivität ab.58 Das in der neuzeitlichen Philosophie dominierende Verständnis des Menschen als eines autonomen Subjekts wird von Heidegger in seinen Analysen des Daseins mindestens als einseitig konstatiert. Der Mensch ist eben auch der Scheiternde, Machtlose, Passive.59

In Tragische Existenz wird Delp gerade diesen Gedanken Heideggers würdigen, indem er nämlich einen der Schwerpunkte seiner eigenen Freiheitsreflexion in die mit dem Geworfenheitsbegriff verwandte Idee der ‚vorgegebenen Ordnungen‘ setzt. Gleichzeitig ist der Geworfenheitsbegriff – dies mag überraschen – Grund für Delps Ablehnung von Sein und Zeit. Delp fordert nämlich, die Frage nach dem „Werfer“ des Daseins, letztendlich also die Gottesfrage zu thematisieren. Damit zeigt sich einmal mehr sein letztlich unverschuldetes Nichtwissen bezüglich der Heidegger’schen Methode.60 Die Absicht von Sein und Zeit besteht in einer existenzialen Deskription des Daseins. Dazu aber reicht eine Konstatierung wie etwa „Das Geworfensein besagt existenzial: sich so oder so befinden“61 oder auch eine Feststellung des „Daß der eigenen Geworfenheit“62. Grundsätzlich geht das Interesse Heideggers auf das „Dass“ und nicht auf das dem Dasein verschlossene „Woher“ der Geworfenheit.63 In der Vorlesung Phänomenologie und Theologie bezeichnet Heidegger die Philosophie als „das freie Fragen des rein auf sich gestellten Daseins“64. Andere Bezugspunkte des Daseins, darunter fällt auch das Delp’sche Über-die-Welt-hinaus, will er prinzipiell methodologisch ausklammern.

Delp braucht Sein und Zeit nicht als eine Botschaft des weltanschaulichen Atheismus zu lesen, da

zwischen dem christlichen Glauben und der Philosophie des Daseins keine Todfeindschaft bestehen muß, weil weder der Glaube die hermeneutisch-phänomenologischen Einsichten in die Endlichkeit des Daseins bestreitet noch die Daseins-Ontologie den Glaubensinhalt in Frage stellen kann.65

c) Der formale Charakter des Konzepts der Entschlossenheit

In der Entschlossenheit sieht Delp den Inbegriff des Heidegger’schen Denkens in Sein und Zeit überhaupt und zugleich auch den Grund seiner Wirkungskraft in der Gesellschaft. Aufgrund der Tatsache, dass Delp das Problem der Freiheit, welches vormals eher im Hintergrund seiner Reflexion stand, jetzt im direkten Zusammenhang mit dem Entschlossenheitsbegriff in den Vordergrund seines Denkens rückt, ergibt sich die Notwendigkeit, auf die Bedeutung der Entschlossenheit für Delps Kritik an dem zeitgenössischen Freiheitsverständnis besonderes Gewicht zu legen. Das setzt zunächst eine sachliche Darstellung des Entschlossenheitsbegriffs in Sein und Zeit voraus.

Der Grund für die Hervorhebung der Entschlossenheit liegt schon in Heideggers Sicht auf die Philosophie. Noch vor der Niederschrift von Sein und Zeit, nämlich in der Auseinandersetzung mit der christlichen Lebenserfahrung bei Paulus, Augustinus und dem frühen Luther, stellt der Freiburger Philosoph fest, dass das Leben nicht theoretisch als ein Ding unter anderen begriffen werden kann, sondern dass der Mensch sich vor allem entscheiden muss.66 In Sein und Zeit wird jene Grundüberzeugung noch wesentlich stärker präsent sein. Zu dem Begriff der Entschlossenheit führt ein bestimmter Denkweg, dessen Ausgangspunkte – Dasein, Welt, In-der-Welt-sein, Geworfenheit und Entwurf – von uns schon dargestellt wurden. Der unmittelbare „Vorbegriff“ zur Entschlossenheit findet sich in der von Heidegger konstatierten Erschlossenheit des menschlichen Daseins. Weil das Dasein in einer ambivalenten – freiheitsbegrenzenden und zugleich freiheitseröffnenden – Welt existiert, ist seine Existenz einerseits schon vorbestimmt, indem sie nämlich in den von anderen Daseienden vorgezeichneten Bahnen geschehen muss, anderseits erweist sich aber die Welt als ein Raum der Freiheitsmöglichkeit, in welchem der Mensch, der ein Verständnis des Seins der Dinge und seiner selbst hat, sich selbst bestimmen darf und muss. In jener in der Offenheit der Welt gründenden Freiheitsmöglichkeit besteht die Erschlossenheit des Daseins.67

Aufgrund seiner Erschlossenheit kann das Dasein in zwei grundlegenden Seinsmodi existieren, nämlich entweder in der Eigentlichkeit oder in der Uneigentlichkeit.68 Diese Modi werden in Bezug auf die Möglichkeit des Daseins, sich zu entschließen bzw. sich nicht zu entschließen, definiert. Aufgrund dessen sind sie keine eigentlichen Gegensätze und näherhin auch keine Alternativen, zwischen denen das Dasein wählen könnte: es ist „pragmatisch unmöglich, sich dafür zu entschließen, uneigentlich zu existieren, weil ‚uneigentlich existieren‘ gerade bedeutet: sich nicht entschließen können (auch nicht müssen!) zu irgendetwas“69. Die Eigentlichkeit und die Uneigentlichkeit bilden die „existenzialen Grundmöglichkeiten des Daseins“70, also die fundamentalen und nicht temporär-existenziellen Elemente des Menschseins. Was aber Delp verwirren konnte, ist die Tatsache, dass Heidegger diese Unterscheidung scheinbar unscharf verwendet, denn die Eigentlichkeit und die Uneigentlichkeit werden von ihm auch als „die existenziellen (Hervorhebung d. A.) Grundmöglichkeiten des Daseins“71 bezeichnet.

Die Uneigentlichkeit ist die Weise, in der das Dasein normalerweise, zunächst und zumeist lebt.72 Das Dasein tendiert dazu, sich aus der Welt, anstatt die Welt aus dem Dasein, zu verstehen und verlässt sich darauf, was üblich ist.73 Das „Subjekt“ der Alltäglichkeit, der Durchschnittlichkeit – den Modus, in welchem das Dasein alltäglich lebt – nennt Heidegger das Man.74 Das Dasein, das notwendig mit anderen Daseienden existiert, ist ein Mitsein. Versteht das Dasein irrigerweise sich selbst aus der Welt, verfällt es in eine Diktatur des Man:

Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt … Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor.75

Die zu dem existenzialen Charakter des Menschen gehörende Durchschnittlichkeit oder Einebnung konstruiert die Öffentlichkeit, d. i. das Seinswesen des Man.76 Er erklärt, das Man entlaste das Dasein in seiner Alltäglichkeit, indem es ihm die Verantwortlichkeit des Daseins durch schon vorgegebene Urteile und Entscheidungen abnehme.77

Das von Heidegger diagnostizierte Problem der „Erleichterung der vermeintlichen Freiheit des Man-selbst“78 könnte mit Recht einige Parallelen in Delps Kritik an dem Kollektivismus der deutschen Gesellschaft des Dritten Reiches finden. Der Jesuit bezieht sich allerdings nie darauf, was wohl auch nicht der Intention Heideggers entspräche, denn einmal mehr ist darauf hinzuweisen, dass der Verfasser von Sein und Zeit betont, in seinen Betrachtungen handele es sich um eine Fundamentalontologie und nicht um eine philosophische Anthropologie.79 Ohne kulturphilosophische Ansprüche zu erheben,80 versteht Heidegger das Man als ein ursprüngliches Phänomen, ein Existenzial, das zur Verfassung des Daseins gehört: „Zunächst ist das Dasein Man und zumeist bleibt es so.“81 Er warnt davor,

die ontisch-existenzielle Charakteristik mit der ontologisch-existenzialen Interpretation zusammenzuwerfen, bzw. die in jener liegenden positiven phänomenalen Grundlagen für diese zu übersehen82.

Die Uneigentlichkeit wird als die Verfallenheit des Daseins bezeichnet, welches vor seinem eigentlichen Selbst-sein-können, vor sich selbst, vor seiner Eigentlichkeit in das Man flieht.83 In Sein und Zeit wird das Verfallen des Daseins an die Welt nicht im Sinne eines Falles vom reinen Urstand in eine korrupte Welt verstanden, sondern es wird begriffen als eine existenziale Bestimmung des Daseins, in der das Dasein zunächst und zumeist existiere im scheinbar beruhigenden Miteinandersein von Gerede, Neugier und Zweideutigkeit.84 In Wirklichkeit ist die Verfallenheit nicht als eine Beruhigung, sondern als ein bodenloser Zustand zu denken: „Das Dasein stürzt aus ihm selbst in es selbst, in die Bodenlosigkeit und Nichtigkeit der uneigentlichen Alltäglichkeit.“85 Daraus ergibt sich ein im Folgenden von Heidegger zusammengefasstes Verständnis des uneigentlichen Daseins:

Die durchschnittliche Alltäglichkeit des Daseins kann demnach bestimmt werden als das verfallend-erschlossene, geworfen-entwerfende In-der-Welt-sein, dem es in seinem Sein bei der „Welt“ und im „Mitsein“ mit Anderen um das eigenste Seinkönnen selbst geht.86

Seinen uneigentlichen Existenzmodus verlässt das Dasein dank der aus dem Bewusstsein des unerbittlich kommenden Todes geborenen Angst: sie „holt das Dasein aus seinem verfallenden Aufgehen in der ‚Welt‘ zurück“87, gibt dem Dasein die Möglichkeit, vor der Ganzheit seines Seins zu stehen.88 In diesem Kontext kommt bei Heidegger das Delp interessierende Problem der Freiheit zur Sprache:

Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens. Die Angst bringt das Dasein vor sein Freisein für ... (propensio in…) die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit, die es immer schon ist.89

Heidegger denkt hier jedoch rein formal und trennt zwischen dem existenzialen und dem existenziellen Aspekt:

Im Sich-vorweg-sein als Sein zum eigensten Seinkönnen liegt die existenzialontologische Bedingung der Möglichkeit des Freiseins für eigentliche existenzielle Möglichkeiten.90

Das Vorlaufen in den Tod ermöglicht dem Dasein einen Entwurf, wodurch es sich selbst bestimmen kann. Das Dasein, das sich zuerst nicht als cogito sum, sondern als sum moribundus versteht,91 wird „ganz“, d.h. es hat vor sich im Augenblick des Todes, der das Ende seines In-der-Welt-seins auszeichnet, keine anderen Möglichkeiten mehr zu aktualisieren.92 Weil der Tod die „eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins“93 ist, die nur das Dasein selbst übernehmen darf,94 kann sie nicht mehr dem uneigentlichen Man überlassen werden. Darum ist es nur „in der leidenschaftlichen, von den Illusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich ängstenden Freiheit zum Tode95 möglich, eigentlich zu werden.

In jener Todesreflexion Heideggers wird Delp den Ausgangspunkt für einen tragisch gefärbten Heroismus des Daseins sehen. Der Tod wird hier pathetisch und leidenschaftlich kalt dargestellt:

Die vorlaufende Entschlossenheit ist kein Ausweg, erfunden, um den Tod zu „überwinden“, sondern das dem Gewissensruf folgende Verstehen, das dem Tod die Möglichkeit freigibt, der Existenz des Daseins mächtig zu werden.96

Heideggers Darstellung des Daseins kann von Delp noch dadurch als heroisch verstanden werden, weil für den Freiburger Philosophen das sterbliche Dasein der ausschließlich einzige Grund des eigenen Existenzentwurfs ist.97

Zwischen dem in der eigenen Endlichkeit bestehenden Grund der eigenen Existenz und der Grundlosigkeit des eigenen Existenzentwurfs differenziert Delp kaum, weshalb er dann auch den Einwand erhebt, es handele sich hier um eine solipsistische Selbstdurchsetzung des Heidegger’schen Menschen.98 Diese Erörterungen erregen die besondere Aufmerksamkeit Delps – vor allem im Kontext seiner Kritik des Entschlossenheitsbegriffs, welchen der Jesuit letztendlich auf die „Entschlossenheit zum Nichts“ zurückführt. Für den Verfasser von Tragische Existenz verdient Heideggers Konzept die Bezeichnung Nihilismus, welcher dem in einer gottlosen Welt existierenden Dasein ein neues, radikal immanentes Fundament zu verleihen versucht. Heidegger erklärt nämlich die Entschlossenheit als das Sichentwerfen des Daseins auf das eigenste Schuldigsein, das im „nichtige[n] Grundsein einer Nichtigkeit“99 besteht. Das endliche, nichtige Dasein gründet sich selbst eben in der – in Delps Interpretation eindeutig auf eine transzendente Wirklichkeit hinweisenden – „Struktur der Geworfenheit sowohl wie in der des Entwurfs.“100. Konnte ein Leser, dem nur Sein und Zeit zur Urteilsbildung vorlag – denn dies gilt sowohl für Alfred Delp als auch für den Autoren des folgenden Gedankens: Wilhelm Schapp – zu einem anderen Schluss kommen, als dem, dass für Heidegger an die Stelle von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nunmehr der Tod getreten ist?101

 

Während die Uneigentlichkeit in der Kategorie einer Bestimmung des Man zu denken ist, besteht dagegen die Eigentlichkeit in der Rückkehr aus dieser Fremdbestimmung, worin das Dasein „sich zueigen“ ist und aus seiner „Selbständigkeit“ eine Richtung, einen Sinn aufweist.102 Die Eigentlichkeit will nach der Grundintention Heideggers „ein rein formales Konzept“103 bleiben, das sich auf ein phänomenologisches „Wie“ der Daseinsexistenz und nicht ein „Was“ seines Wesens bezieht.104 Falls jene methodische Bedingung nicht berücksichtigt wird, verfällt die Eigentlichkeit sofort dem Verdacht, eine Art des Solipsismus zu sein.105 Delp, dessen Schwierigkeiten mit der an sich nicht ganz klaren Methode Heideggers schon thematisiert wurden, sieht Sein und Zeit genau in diesem solipsistischen Licht, denn indem Heidegger die „Entschlossenheit zu sich selbst“106 verkündige, postuliere er eine absolute, durch die Beziehungslosigkeit gegenüber Gott dominierte Selbstdurchsetzung des Menschen.

Durch den oben skizzierten Zusammenhang wird klar, warum Heidegger die Entschlossenheit als „Titel für die eigentlich aufgeschlossene Erschlossenheit des In-der-Welt-seins (und des Seins überhaupt)“107 versteht. Die Entschlossenheit bedeutet den Rückweg des Daseins aus seiner Verfallenheit in das Man. Aus der Uneigentlichkeit, welche ihm die Wahl seiner Seinsmöglichkeiten abnimmt, gelangt er zurück in die Erschlossenheit, in die Möglichkeit, sich selbst zu bestimmen und dadurch eigentlich zu sein. Die Entschlossenheit erklärt Heidegger als das Wählen der Wahl, eigentlich zu sein:

Das Sichzurückholen aus dem Man, das heißt die existenzielle Modifikation des Man-selbst zum eigentlichen Selbstsein muß sich als Nachholen einer Wahl vollziehen. Nachholen der Wahl bedeutet aber Wählen dieser Wahl, Sichentscheiden für ein Seinkönnen aus dem eigenen Selbst.108

Angesichts dieser Konstatierung und überhaupt der Unklarheiten hinsichtlich der Unterscheidung zwischen der existenzialen und der existenziellen Dimension der Entschlossenheit, die nur am Rande des Werkes auftaucht,109 muss der Dezisionismusverdacht, der gegen Sein und Zeit erhoben wurde,110 nicht unbedingt als grundlos betrachtet werden. Heidegger sah auch selbst dieses Problem und deutete zuerst an, dass die Entschlossenheit weder Akt des Wählens noch Erlebnis der Entschließung sei, sondern durch eine Stetigkeit charakterisiert werde. Dadurch stehe es im Gegensatz zu dem Man, das in der Aneinanderfügung von „Augenblicken“ existiere.111 Der Frage nach dem „Wozu“ der Entschlossenheit weicht der Verfasser von Sein und Zeit zwar nicht aus, er verortet sie allerdings außerhalb seines fundamental-ontologischen Entwurfs. Heidegger fragt, „woraufhin entschließt sich das Dasein in der Entschlossenheit? Wozu soll es sich entschließen? Die Antwort vermag nur der Entschluß selbst zu geben.“112 Der Inhalt des Entschlusses wäre demnach mit dem Entschluss und mit der je individuellen, unverfügbaren Entscheidung selbst gegeben, weshalb die Frage nach einem „Wozu?“ hinfällig wird. „Wozu sich das Dasein je faktisch entschließt, vermag die existenziale Analyse grundsätzlich nicht zu erörtern.“113 Einmal mehr gilt es zu bedenken, dass Sein und Zeit auf eine Fundamentalontologie abzielt, so dass mithin allein Struktur und Form herausgearbeitet werden sollen.114 Offenkundig zeigt sich dies vor allem auch in folgender Feststellung:

Dies unter dem Titel Entschlossenheit herausgestellte Phänomen wird kaum mit einem leeren „Habitus“ und einer unbestimmten „Velleität“ zusammengeworfen werden können … Wir vermeiden den Terminus „Handeln“ absichtlich.115

In Bezug auf die Entschlossenheit kommt das Problem der Unterscheidung zwischen der existenzialen und der existenziellen Dimension des Daseins deutlich zum Vorschein. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die phänomenologische Analytik des Daseins die existenziell bezeugte Entschlossenheit existenzial interpretiert: „Formal existenzial gefasst, ohne jetzt ständig den vollen Strukturgehalt zu nennen, ist die vorlaufende Entschlossenheit das Sein zum eigensten ausgezeichneten Seinkönnen.“116 Heidegger versucht, „diese existenzialen Phänomene [der Entschlossenheit] auf die in ihnen vorgezeichneten existenziellen Möglichkeiten zu entwerfen und diese existenzial ‚zu Ende zu denken‘ “117. Abschließend lässt sich festhalten: Die Entschlossenheit ist nach Heideggers eigener Intention in Sein und Zeit zunächst im Sinne eines ‚bloß‘ formalen Konzeptes dargelegt wurden, doch ist dieser scheinbar einfache Anspruch aufgrund der Verflechtung von Existenzialem und Existenziellem nicht wirklich eindeutig durchgehalten.118 Aus dieser „Unschärfe“ folgt eine Vielzahl von Auseinandersetzungen um den möglicherweise leeren Freiheitsbegriff Heideggers.119 Delp, der die methodologisch ‚bloße‘ Formalität des Konzept übersieht, lässt sich jedoch nicht im Rahmen derartiger Auseinandersetzungen begreifen, weil er nämlich entgegen diesen in der Entschlossenheit durchaus einen Ausdruck der radikalen Freiheit zu sehen vermag, welche außerdem ein „wozu“ hat, nämlich den sterblichen Menschen selbst.

Trefflich stellt von Herrmann in Bezug auf die Auslegung des Entschlossenheitsbegriffes fest:

An der Interpretation dieses Begriffes scheitert mit wenigen Ausnahmen die Forschungsliteratur. Der allein existenzial-ontologisch zu verstehende Begriff der „Entschlossenheit“ wird statt aus dem Phänomen der Erschlossenheit und des entwerfenden Erschließens aus der geläufigen Bedeutung des „Willensentschlusses“ gedeutet. Von hier aus stellt sich dann die Frage ein, „wozu“ sich das Dasein „entschließt“, wenn es als „entschlossenes“ existiert.120

Interessanterweise scheint die Hermeneutik des Heidegger’schen Begriffs der Entschlossenheit nämlich nicht nur stark zeit- und kontextbedingt zu variieren. Viel wichtiger ist, dass das Verständnis dieses Begriffs auch in Heideggers eigener Biographie Entwicklungen durchlaufen und Änderungen erfahren hat: Für den späteren Heidegger wird damit nicht mehr – wie in Sein und Zeit – die tatkräftige Entschlossenheit zu sich bezeichnet werden. Er wird nunmehr eine „Ent-schlossenheit“ im Sinne einer „Selbstoffenheit“121 artikulieren, die als „Offenheit zur Wahrheit des Seins als solchen“ zu begreifen ist und als „die Inständigkeit in der Ausgesetztheit zum Da: das Dasein“122. Deshalb ist zu beachten, wie sehr Delps Auseinandersetzung mit Sein und Zeit von der intellektuellen Atmosphäre und dem hermeneutischen Kontext seiner Zeit bestimmt wurde.