Damian - Vertrauen

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Sari: Damian #2
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6.

Wir sitzen noch immer auf der Bank, so dass wir uns an der Seite berühren. Halten aber beide die Hände im Schoss gefaltet. Ganz genau darauf bedacht, dem anderen nicht zu nahe zu treten. Beide brauchen einen Moment für sich.

Aus meinem Augenwinkel erkenne ich, wie sich sein Brustkorb in groben Bewegungen hebt und senkt. Wahrscheinlich nicht weniger schnell als meiner. Irgendwie bin ich aufgewühlt und wiederum auch nicht. Es ist schwierig all das zu verdauen, was er mir eben offenbart hat, sowie seine derbe Aussprache bezüglich der Frauen die er hatte und doch bin ich unglaublich erleichtert, dass er endlich all das ausgesprochen hat, was ihn beschäftigt.

Obwohl ich über seine Enthüllungen empört sein müsste, bin ich es nicht. Dass er viele Frauen hatte, konnte ich mir denken. Wie viele es waren, möchte ich lieber nicht erfahren. Seit Beginn unserer Beziehung habe ich mir gewünscht, dass er ehrlich zu mir ist und dass er mir seine Vergangenheit erzählt. Und genau das macht er seit gestern Abend.

Nachdem was er mir anvertraut hat, kann ich mir kaum vorstellen, dass er mir noch irgendwas Schreckliches verheimlicht. Aber ich habe noch ein paar Fragen, auf die ich gerne Antworten hätte und wenn ich ihn nicht jetzt danach frage, wann dann?

„Raus mit der Frage.“

Es überrascht mich immer wieder, wie gut er mich kennt und wie es mir gleichzeitig das Herz erwärmt. Ich lege mir die Worte zurecht und hole tief Atem, bevor ich mit meiner Fragerei beginne. „Wen hast du an Weihnachten besucht?“ So jetzt ist es endlich raus.

Wenn ich ihn nicht genau betrachten würde, würde mir sein Blinzeln gar nicht auffallen, so schwach zucken seine Lider.

„Meine Eltern.“ antwortet er knapp, aber er antwortet.

Ich spüre ganz deutlich, dass da noch mehr dahintersteckt. „Und darum konntest du nicht mit mir telefonieren? Darum musstest du so geheimnisvoll tun?“

„Jede Weihnachten reise ich in die Schweiz, um Helens Familie, meine Schwiegereltern, zu besuchen.“

Sollte ich wütend, enttäuscht oder gar verletzt sein, dass er die Familie seiner verstorbenen Frau besucht? Nein, auf keinen Fall. „Du hättest es mir schon viel früher erzählen sollen. Es hätte vieles einfacher gemacht.“ Wenn ich an die Tage zurückdenke, als wir zusammen in der Schweiz waren, er irgendwo Nahe Zürich und ich in der Ostschweiz, wird mir schwer ums Herz. Nicht gerade selten fühlte ich mich damals verarscht, wütend, verletzt und war eifersüchtig.

„Mir ist klar, dass ich in jenen zwei Tagen nicht nett zu dir war. Aber ich konnte dir einfach nicht sagen, wo ich mich aufhielt. Es war zu früh. Du solltest jedoch wissen, dass du mir jede einzelne Minute gefehlt hast. Ich fand es schrecklich nicht mit dir darüber reden zu können. Trotzdem,“ Er hält kurz inne und stützt den Kopf auf seine Hände. „ich konnte es nicht. Du musstest mir erst den Kopf waschen, bis ich begriffen habe, dass ich dich nicht weiter auf Distanz halten konnte. Es tut mir leid. Vor allem aber bereue ich, dass er dich in die Hände bekam. Das werde ich mir nie verzeihen können.“

Sofort jagt es mir eine Gänsehaut über den Körper, wenn ich an die Attacke von meinem Ex denke. „Es ist nicht deine Schuld.“ Ich ziehe ihm seine Rechte vom Gesicht, damit ich ihn ansehen kann. „Ich wusste, dass ich nicht ohne Warren raus sollte und habe es dennoch getan.“

„Nur, weil ich mich wie ein mieses Arschloch verhalten habe.“

„Vielleicht.“ Ich versuche es mit einem schwachen Lächeln. Ich möchte ihm damit zu verstehen geben, dass ich mit dieser Sache abgeschlossen haben. Jedenfalls so gut ich kann.

„Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn du ernsthaft verletzt werden würdest.“

„Du bist bei mir, da kann mir nichts geschehen.“

Damian dreht seinen Kopf in meine Richtung und sieht mich mehrere Sekunden lang an. Dann legt er seine Hände auf meine vor Kälte glühenden Wangen, bevor sich sein warmer Mund meinem nähert.

Die Sonne verschwindet bereits hinter den Bäumen, als wir uns auf den Rückweg machen. Pietro geht in einiger Entfernung hinter uns her, während Damian meine Hand hält. Es ist nur Händchen halten, aber es bedeutet mir unheimlich viel, da Damian nicht zu jenen Personen gehört, die sich in der Öffentlichkeit mit jemandem intim zeigen wollen.

Ich verstärke meinen Griff, weil mir etwas schon lange auf der Zunge liegt und ich nicht möchte, dass sich Damian von mir löst.

„Kann ich dir eine Frage stellen?“

„Nur zu.“

„Wer ist Susanne?“ Ich habe da so eine Ahnung, möchte es nur noch von ihm bestätigt haben.

„Sie ist meine Schwägerin.“

Ich habe es vermutet und nun habe ich endlich die Gewissheit, die ich brauche, um wieder frei durchatmen zu können. Ich hege eine Gewisse Abneigung gegen sie, obwohl es nicht wirklich fair gegenüber ihr ist. Sie hat mehrfach versucht zwischen Damian und mir Zwietracht zu säen, was ihr glücklicherweise nicht gelungen ist. Und seit Damian mir von seiner Vergangenheit erzählt hat, kann ich sie auf irgendeine verschrobene Weise verstehen, so komisch sich das jetzt auch anhören mag. Ihre Schwester ist urplötzlich aus dem Leben gerissen worden und dann komme ich und dränge mich zwischen sie und ihren Schwager. Wer würde da nicht ähnlich reagieren?

„Sie ist nur meine Schwägerin.“ beantwortet er noch einmal meine Frage. Dabei sieht er mir fest in die Augen. „Ich kenne sie beinahe mein ganzes Leben. Sie ist sowas wie eine grosse Schwester. So wie sie es für Helen war.“ Als er den Namen seiner Frau ausspricht, gerät er leicht ins Stocken. „Du brauchst nicht eifersüchtig auf Susanne zu sein. Niemals.“

Das hat er mir schon einmal gesagt. Doch da bin ich noch nicht dahintergekommen, wie sie zueinander stehen, aber nun ist alles ziemlich eindeutig.

„Jetzt wo ich alles weiss, ist es kein Problem mehr für mich, dass du dich so gut mit ihr verstehst. Ich finde es sogar sehr schön, dass du noch so einen engen Kontakt zu deiner Schwiegerfamilie hast. Das können wahrscheinlich nicht viele. Ich bewundere dich dafür.“

Ich kann seinen Blick nicht ganz deuten, mit dem er mich betrachtet. Er verschleiert sich immer mehr. Aus Trauer oder Zuneigung?

„Danke.“ sagt er schlicht und sieht mich mit einem ehrlichen Lächeln auf dem Gesicht an und ich gebe es ihm zurück.

„Was hat dich dazu gebracht nach England auszuwandern?

„Linus.“

„Linus?“ wiederhole ich verwundert den Namen seines besten Freundes.

„Er kam zur Beerdigung und blieb für ein paar Tage bei mir. Während er versucht hat, mich wieder aufzubauen, habe ich nur weiter dicht gemacht und mich jeden Tag besoffen und ihn dann irgendwann vertrieben, obwohl er nur mein Bestes wollte.

Als mir die Sauferei nicht mehr genug Befriedigung gab, fing ich an zu prügeln. Ich fand einen Club, der illegale Kämpfe ausführte. Die ersten paar Mal bekam ich ordentlich was auf den Kopf. Aber mit der Zeit wurde ich richtig gut und es hat mir gefallen, wie die anderen unter meinen Schlägen zusammenbrachen.“ Er lacht verbittert auf. „Ich glaubte wirklich, dass ich auf dem richtigen Weg sei. Ich dachte, ich könnte mich so an dem Tod meiner Frau und Tochter rächen und habe so lange weitergemacht, bis Linus plötzlich wieder vor meiner Tür stand. Er hat mich praktisch aus meinem Dämmerzustand gerissen und mich nach London gezerrt. Es hätte mir nichts Besseres passieren können, als Rose und ihrem Mann zu begegnen. Während ich in den ersten Monaten bei Linus wohnte, kamen sie fast täglich vorbei. Ich kann dir nicht sagen, was sie gemacht oder gesagt haben, das mich wieder auf die richtige Bahn brachte, aber sie schafften es und dafür werde ich ihnen immer dankbar sein. Sie waren die beste Hilfe, die ich mir überhaupt wünschen konnte, um mit dem Tod von Luna und Helen umgehen zu können.“

Meine Stimme zittert leicht, als ich ihm eine weitere Frage stelle. „Warum ist der andere auf eure Strassenseite geraten?“

Er holt mindestens ein Dutzend Mal tief Luft, bevor er mir antwortet. Ich kann ihm ansehen, dass ihn meine Frage aufwühlt, trotzdem beantwortet er sie ziemlich ruhig. Seine Hand noch immer in meiner. „Er war ein verwirrter, alter Mann.“

„Hat er den Unfall überlebt?“

„Ja.“

„Und wie geht es dir damit?“

„Anfangs wollte ich ihn umbringen. Ich wollte, dass er in der Hölle schmort. Dass er niemals mehr gehen kann und dass er seit dem Unfall an den Rollstuhl gefesselt ist, konnte mich damals nicht beruhigen. Schliesslich hat er mir das genommen, was ich am meisten liebte. Einfach so.“ Er hält kurz inne und ein schwaches Schmunzeln umspielt seine Mundwinkel. „Doch heute haben wir so was wie eine Art freundschaftlicher Verbindung.

Verblüfft reisse ich die Augen auf und sehe ihn von der Seite an. „Freundschaftliche Verbindung?“

Er zuckt mit den Schultern. „Erstaunlich, nicht wahr?“

„Allerdings. Verrätst du mir, wie es dazu kam?“

„Er hat mich oft angerufen und mich um Verzeihung gebeten. Aber ich war nicht bereit zu verzeihen. Nie. Es kamen Briefe, Karten, doch ich habe auf kein einziges Schreiben geantwortet. Am Telefon habe ich ihn angeschrien und ihn Mörder genannt.“

Oh Gott. Mir gefriert das Blut in den Adern, als ich den wütenden, verletzten Damian vor meinem inneren Auge sehe, der den anderen Mann aufs übelste beschuldigte und beleidigte. Auch wenn ich Damian verstehen kann, habe ich doch plötzlich Mitleid mit dem Unfallverursacher.

„Warum...“

„Warum es anders kam?“ spricht er die Frage für mich aus. „Eines Abends stand er vor meiner Tür. Ich hatte das Gefühl von Gott verarscht zu werden und bin auf ihn losgegangen. Auf einen alten, wehrlosen Mann in einem Rollstuhl. Gerade als ich meine Faust hob, um ihm in sein Gesicht zu schlagen, zerbrach irgendwas in mir und zwang mich auf die Knie. Minutenlang blieben wir schweigend voreinander. Er sitzend, ich kniend.

 

Ich habe gar nicht bemerkt, dass mir die Tränen über die Wangen liefen. Erst als er die Hand hob und mir zitternd über den Kopf strich. Ich wollte ihn abwimmeln, hatte aber keine Kraft mich zu wehren. Als ich meinen Blick auf sein Gesicht richtete und in seine tränenden Augen sah, erkannte ich, dass er alles tun würde, um den Unfall ungeschehen zu machen. Dass er sich selbst nicht verzeihen konnte, was damals geschah.

Zu meiner eigenen Verblüffung stand ich auf, trat hinter seinen fahrenden Stuhl und schob ihn in mein Haus. Wir haben stundenlang geredet, geweint und wieder geredet. An jenem Tag konnte ich ihm irgendwie vergeben und haben es uns zur Gewohnheit gemacht, uns einmal im Jahr an ihren Gräbern zu treffen.“

Mir bleiben die Worte weg. Ein weiteres Mal beweist er mir, was für ein herzensguter und selbstloser Mensch er ist und meine Liebe zu ihm wächst immer mehr.

Noch vor einem Tag glaubte ich, dass es aus wäre zwischen uns, dass wir keine Chance mehr hätten, doch in nur wenigen Stunden hat sich alles in die andere Richtung gedreht. Er hat sich mir geöffnet und beantwortet mir alles, was ich von ihm wissen möchte.

Im Moment könnte ich nicht glücklicher sein.

Es ist bereits dunkel, als wir in Knightsbridge ankommen. Es war ein Tag voller Enthüllungen, die ich wahrscheinlich noch während den nächsten Tagen zu verdauen habe. Aber ich möchte ihn um nichts in der Welt ungeschehen machen. Auch wenn das bedeuten würde, dass ich die vergangenen Tage nochmals durchleiden müsste. Es brauchte unseren Streit, unsere Trennung, damit Damian endlich über seinen Schatten springen und mir alles erzählen konnte, was in seinem Leben passiert ist.

Gerade als ich mit einem Handtuch über meine nassen Haare fahre und so in das Schlafzimmer komme, klingelt mein Handy. Ich tippe auf Dad oder Sandy, obwohl es auch Mira oder Rose sein könnten.

„Hallo.“

„Jessica, meine Kleine.“ ertönt die Stimme meines Vaters.

„Was ist los?“ frage ich ihn sofort, weil er ziemlich besorgt klingt.

„Geht es dir gut?“

„Ja, warum sollte es mir nicht gut gehen?“

„Sandy hat mich heute angerufen und sich Sorgen um dich gemacht. Schliesslich hast du dich in den letzten beiden Tagen nicht gemeldet. Weder bei ihr, noch bei mir. Wir haben versucht dich zu erreichen, aber wir kamen immer auf den Anrufbeantworter. Sie meinte, dass du bei eurem letzten Telefonat etwas durcheinander gewesen wärst. Also, was ist los?“

„Alles ist gut.“ Und nachdem Damian und ich uns ausgesprochen haben, ist wirklich alles gut.

„Sicher?“ hakt mein Dad nach.

„Ja.“ Ich erzähle ihm von dem Streit zwischen Damian und mir und von dem bevorstehenden Umzug, lasse aber die Details aus. Er braucht diese nicht zu wissen, ausser Damian ist irgendwann bereit sie meinem Vater selbst zu erzählen. Allerdings müssten sie sich dafür erst einmal kennenlernen.

„Du ziehst also bei ihm ein?“

„Ja.“ antworte ich etwas verlegen. „Du bist nicht gerade begeistert davon. Ich kann es in deiner Stimme hören.“

„Ich bin vielleicht ein wenig überrascht, mehr nicht.“

„Mache ich möglicherweise einen Fehler?“ möchte ich von meinem Vater wissen. Obwohl ich vor ein paar Stunden überhaupt keine Zweifel hatte, überkommt mich jetzt doch eine gewisse Skepsis.

„Du liebst ihn und anscheinend bedeutest du ihm ebenfalls sehr viel. Also warum so viele Gedanken? Lass dem ganzen einfach seinen Lauf und geniesse es. Obwohl...“

„Obwohl was?“ hacke ich nach, als er nicht weiterspricht.

„Ich würde ihn gerne einmal kennenlernen. Schliesslich möchte ich wissen, mit wem meine Tochter ihr Leben verbringt.“

Genau das ging mir vor wenigen Minuten ebenfalls durch den Kopf. Aber das Damian so seine Probleme damit hat, brauche ich meinem Dad nicht unter die Nase zu binden. „Es wird sich sicher bald mal geben, dass wir in die Schweiz kommen oder du nach London.“

„Ach Kleine.“ seufzt er in den Hörer.

Klar weiss ich, dass mein Vater niemals in ein Flugzeug steigen wird. Trotzdem wünsche ich mir, dass er eines Tages sein Auto nimmt und nach England fährt, um zu sehen, wie und wo ich lebe.

„Ich wollte dich nur aufziehen.“ versuche ich die Atmosphäre, die plötzlich nach unten zu sinken droht, zu lockern.

„Deine Gemeinheiten kannst du für dich behalten.“ witzelt er und wir brechen beide in ein herzhaftes Lachen aus.

Seit Weihnachten habe ich ihn nicht mehr so lachen hören, was mir unheimlich gut tut.

„Bald ist Ostern. Meinst du, wenn ich dir einen Schokoladenhase schicke, kommt er heil an?“

„Auf keinen Fall.“

„Warum nicht?“ fragt mein Vater verdutzt über meine schnelle Antwort.

„Weil du sowieso die Ohren abgebissen hast, bevor der Hase in der Verpackung landet.“

„Das stimmt doch gar nicht.“ bemüht sich mein Vater sich zu verteidigen, woran er jedoch kläglich scheitert.

Ich bekomme einen Lachanfall und muss mir den Bauch halten, weil er anfängt zu schmerzen.

„Wenigstens kannst du dich über deinen alten Herrn lustig machen. Mach nur weiter so.“

Bei diesen Worten hält er bestimmt seinen Zeigefinger in die Höhe und wedelt damit drohend in der Luft herum. So wie er es in der Vergangenheit immer gemacht hat.

„Ich brauche dich nicht zu sehen, um zu wissen, dass du deinen Finger nach oben streckst.“

„Und ich weiss ganz genau, dass du dabei die Augen verdrehst.“

„Wie recht du doch hast.“ Und wie gut es tut zu wissen, dass ich irgendwo immer noch die alte Jessica bin, wie vor dem ganze Irrsinn mit meinem Baby und Michael.

„Hmm,“ räuspert sich mein Vater.

Dieses Geräusch kenne ich nur allzu gut. Es deutet darauf hin, dass ihm etwas auf der Zunge liegt und werde glatt unruhig. So locker und gelöst wie ich eben noch war, so angespannt ist nun mein ganzer Körper. Ich bleibe still und warte mit steigender Panik ab, bis er seine Gedanken ausgesprochen hat.

„Michael....“

Wenn ich nur schon diesen Namen höre, wird mir eiskalt, aber ich versuche ruhig zu bleiben, während mein Vater weiterspricht.

„er hat sich in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen.“

Wie? Was? Wo? Viele Fragen stürmen auf mich herein. „Warum?“

„Anscheinend hatte er ein erhebliches Problem mit Alkohol und Drogen.“

„Drogen?“ Meine Stimme ist ein einziges krächzendes Würgen.

„Er hat den Tod eures Babys einfach nicht verkraften können und das was er dir angetan hat, war für ihn fast weniger erträglich.“

„Wo, was,..“ Ich brauche einen kurzen Moment, um mich zu fassen. „Woher weisst du das alles?“

„Seine Mutter hat mich angerufen.“

„Aus welchem Grund?“ Ich möchte nichts mehr mit Michael oder seiner Familie zu tun haben. Also warum bloss meldet sich Elise bei meinem Vater?

Nur widerstrebend gibt er mir Antwort. „Michael möchte dich sehen.“

Noch immer schnüren die Gefühle, die ein einziges Chaos in mir anrichten, die Kehle zu.„Wozu?“ Brauche ich das wirklich zu wissen?

„Er möchte sich bei dir entschuldigen und dich um Verzeihung bitten.“

„Nein!“ schreie ich in den Hörer, obwohl das gar nicht meine Absicht war.

„Jess...“

„Hast du etwa vergessen, was er mir alles angetan hat? Hast du vergessen, warum ich hier in England bin und nicht mehr in meiner Heimat lebe?“ Auch wenn mein Vater für meinen inneren Aufruhr nichts dafür kann, ist es dennoch er, der seinen Kopf hinhalten muss. Er ist der Puffer für mein Unbehagen.

„Ich würde dir niemals vorschreiben, was du zu tun hast oder dich gar aufmuntern zu ihm zu gehen. Ich wollte dich nur darüber informieren, wo er ist. Was du tust oder lässt, ist ganz allein deine Sache. Das sieht sogar Elise so.“

„Ich will ihn nicht sehen!“

„Ist alles in Ordnung?“

Erschrocken drehe ich mich zur Tür, in der Damian steht und mich mit zusammengezogenen Augen ansieht. Ich nicke kurz und wende meinen Blick wieder der draussen herrschenden Dunkelheit zu.

Ich zucke mit den Schultern, um etwas von der Härte in meiner Stimme zu nehmen, obwohl mein Vater mich gar nicht sehen kann. „Entschuldige. Ich wollte nicht so grob sein.“

„Keine Sorge, meine Kleine. Du hast alles Recht aufgewühlt zu sein.“

7.

Ich weiss nicht, wie lange ich schon auf der Bettkante sitze und vor mich hinstarre, das Smartphone noch immer in der Hand. Eigentlich dachte ich, dass mich Damian gleich mit Fragen durchlöchern würde, sobald ich das Gespräch beendet hätte. Doch als ich aufgelegt hatte und zur Tür sah, war er nirgends zu sehen.

Irgendwie bin ich ihm dankbar, dass er mir den Raum gibt, den ich auch wirklich brauche, um wieder zur Ruhe zu kommen und doch wünsche ich ihn sehnlichst hierher. Hier zu mir. Ich vermisse seine starken Arme und seine beruhigenden Berührungen.

In meinen Gedanken gehe ich immer und immer wieder jede Einzelheit der Unterhaltung zwischen meinem Vater und mir durch. Ich denke an Michael, der sich in den letzten zwölf Monaten unheimlich stark verändert hat und das überhaupt nicht zum Positiven.

Dass er zu Alkohol griff, habe ich schon längst vermutet. Bereits damals, als wir noch zusammen wohnten. Aber Drogen? Das kann ich mir nun wirklich nicht vergegenwärtigen. Es war eine verdammt schwere Zeit, als wir unser Baby verloren. Er hatte daran genauso schwer zu nagen, wie ich. Doch dass er diesen Schmerz mit Drogen versuchte zu mildern, kann ich nicht nachvollziehen.

Auch wenn ich es nicht möchte, wandern meine Gedanken ständig zu meinem Ex. Und zurück zu unserer gemeinsamen Vergangenheit. Wir hatten eine gute und schöne Zeit zusammen und uns immer respektiert. Bis zu jenem schrecklichen Tag.

In den Tagen nach meiner Fehlgeburt stützte ich mich ganz auf Michael. War das möglicherweise ein Fehler? War ich etwa zu egoistisch? Habe ich alles von ihm genommen, was er mir geben konnte und ihm nichts dafür zurückgegeben?

Damals war ich so in meinen Schmerz versunken, dass ich Michaels Stimmungen gar nicht beachtete und ihnen kein Gehör schenkte. Umso länger ich darüber nachdenke, umso mehr komme ich zur Erkenntnis, dass ich es war, die ihn dahin trieb, wo er jetzt ist. Alles ist meine Schuld. Diese Feststellung zehrt an mir und macht mich ganz benommen.

Ich möchte nicht mehr an jene Zeit zurückdenken, als er mich beschimpfte, terrorisierte und sogar schlug. Denn die Schuldgefühle liegen auf meiner Brust, wie eine kaum aushaltbare Last. Sie treiben mir unweigerlich Tränen in die Augen und zerstören mein Selbstwertgefühl, das ich dank Damian langsam wieder aufgebaut habe.

Warum muss ich immer wieder in die Vergangenheit katapultiert werden? Kann ich sie nicht einfach wegschliessen und bis in alle Ewigkeit im Verborgenen lassen? Vergessen und nach vorne schauen?

„Bist du bereit, um darüber zu reden?“

Erschreckt und verstört sehe ich in die schönsten Augen, die ich je gesehen habe. Damian steht direkt vor mir und betrachtet mich mit sorgenvoller Mimik. Ich habe gar nicht bemerkt, wie er zu mir kam. Meine Schultern sacken nach unten, als ich ihn länger als fünf Sekunden angestarrt habe und blicke zu Boden.

Was soll ich ihm erzählen? Soll ich das aussprechen, was ich im Moment fühle oder soll ich ihm ein Alles in Ordnung Theater vorführen? Letzteres wird er mir garantiert nicht abnehmen. Trotzdem weiss ich nicht, was ich sagen soll. Es wäre sinnvoll mit jemandem über meine selbstzerstörerischen Gedanken zu sprechen, aber bin ich bereit dazu, es offen auszusprechen? Wenn ich es laut sage, kann ich es nicht mehr verleugnen.

Ich spüre, wie mir eine warme Hand über die Wange fährt, wobei mir sein unverkennbarer Duft in die Nase steigt.

Ein sanfter Druck an meinem Kinn bringt mich dazu, den Kopf zu heben und in sein Gesicht zu sehen, das nur wenige Zentimeter von meinem entfernt ist.

„Das Telefonat hat dich ganz schön mitgenommen. Was ist los? Ist etwas mit deinem Vater.“

„Oh Gott, nein!“ rufe ich erschrocken auf. Dann kommt ein leiseres Nein aus meinem Mund.

„Was ist dann passiert?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich darüber reden kann und ob du es überhaupt hören willst.“

 

„Natürlich möchte ich wissen, was dich so fertig macht, dass du fast eine Stunde bewegungslos auf der Bettkante sitzt und dabei ins Leere blickst.“

„Es ging um Michael.“

„Was ist mit deinem Ex?“ Er klingt äusserst beherrscht.

Ich weiss, dass er nichts von Michael hören möchte, aber irgendwie ist er immer wieder ein Thema.

„Er ist in einer Psychiatrie.“ antworte ich so gefühllos wie möglich. Scheitere aber kläglich daran.

Er spukt den nächsten Satz förmlich heraus. „Da gehört er auch hin!“ Ich erkenne seine Wut, die hinter seiner gleichgültigen Art brodelt. Aber wenn es um Michael geht, kann er sich nur mit grosser Mühe beherrschen. „Warum geht dir das so Nahe?“

„Weil ich dafür verantwortlich bin.“

„So ein Schwachsinn. Das glaubst du doch selbst nicht?“

„Doch. Ich bin...“

„Hör auf dir die Schuld für etwas zu geben, für das du nichts kannst.“ unterbricht mich Damian. Seine angespannte Miene hat sich noch mehr verhärtet.

„Ich habe unser Baby verloren und ihm kein bisschen geholfen über den Schmerz hinwegzukommen. Ich habe nur an mich gedacht. Ich wollte so rasch wie möglich aus meiner Trauer heraus. Nur ich war mir wichtig. Wie es Michael bei der ganzen Sache ging, war mir egal.“

„Hast du etwa vergessen, was er dir angetan hat?“ Seine Stimme ist laut und ich zucke unter seinem barschen Ton zusammen.

„Genau das ist das Problem. Wenn ich zumindest ein wenig für ihn dagewesen wäre, wäre ganz bestimmt alles anders gekommen.“

„Glaubst du das wirklich?“

„Ja.“ Ich sehe ihm fest in die Augen, auf denen ein dunkler Schatten liegt. „Er hätte jetzt kein Alkoholproblem und müsste sich keiner Entziehungskur für Drogen unterziehen. Er hätte mich nie geschlagen oder terrorisiert.“ Ich zucke kaum merkbar mit den Achseln. „Es ist meine Schuld, dass es so gekommen ist.“

Seine Hände liegen mit einem Mal auf meinen Schultern und drücken mich sanft. „Ich verbiete dir auch nur eine Sekunde an diesen verdammten Mist zu glauben, den du soeben verzapft hast. Du kannst nichts dafür, dass er auf dich losgegangen ist oder dass er jetzt in einer Psychiatrie ist. Ich bin sogar erleichtert über diese Neuigkeit.“

„Wie?“ frage ich ihn entsetzt.

„So kann er dir nicht mehr zu nahe kommen.“

„Er möchte, dass ich ihn besuche.“

„Was?“ Fassungslos starrt er mir in die Augen und zieht sie dann zu Schlitzen. „Darüber hast du hoffentlich keinen einzigen Moment nachgedacht.“

„Doch.“

„Nein!“ Damian ist schneller auf den Beinen, als ich es je für möglich gehalten hätte. „Du wirst ihn nicht besuchen.“ Sein harter Ton durchschneidet den Raum.

Er möchte sich umdrehen und davon gehen, aber ich halte ihn schnell am Arm zurück.

„Bitte hör mir zu.“

Als er meine Hand abschüttelt, glaube ich schon, dass er den Raum verlassen würde, ohne mir eine Chance zur Verteidigung zu geben, dabei bleibt er stehen, wo er ist.

Ich fahre mit der Zunge über meine trockenen Lippen und schlucke bevor ich mit meiner Rechtfertigung beginnen kann. „Er möchte sich bei mir entschuldigen und mich um Verzeihung bitten.“

„Das...“

Ich stoppe seine Worte, indem ich die Hand in die Höhe strecke. „Ich habe darüber nachgedacht ihm diese Chance zu geben, dennoch werde ich ihn nicht besuchen. Ich bin nicht bereit dafür. Jedenfalls jetzt noch nicht.“

„Noch nicht?“

„Wenn ich es eines Tages kann, werde ich zu ihm gehen. Es wird für mich und Michael das Beste sein, um mit der Vergangenheit abzuschliessen.“

„Trauerst du ihm etwa nach?“

„Was soll diese alberne Frage?“

„Beantworte sie mir!“ Seine Augen sind schmal und sein Kiefer arbeitet, als er auf eine Antwort wartet.

„Ich werde sie dir beantworten, allerdings möchte ich dann, dass du mich alleine lässt.“ fauche ich ihn gekränkt an. „Keine Sekunde weine ich ihm hinterher und das du mich das wirklich fragst, tut mir weh.“ Ich atme tief ein und wieder aus. „So furchtbar meine Erlebnisse auch sein mögen, umso einmaliger und kostbarer ist das, was ich hier habe.“

„Und was hast du hier?“ Er klingt kalt und schroff und irgendwas schwingt in seiner Stimme mit, das ich nicht richtig beurteilen kann. Sein Gesicht ist völlig verkrampft.

Habe ich irgendwas verpasst oder etwas Falsches gesagt? Ich durchforsche mein Gedächtnis, komme dennoch zu keinem Grund, warum er sich plötzlich von mir distanziert. Es gelingt mir nicht, seine Reaktion nachzuvollziehen. Um mich nicht weiter in Gedanken zu verlieren, beantworte ich seine Frage. „Dich.“ und sehe ihm fest in die Augen. „Dank dir kann ich wieder lachen. Dank dir bin ich wieder glücklich. Dank dir kann ich das Leben wieder geniessen und fühle mich ge...“ Ich kann mich gerade noch rechtzeitig unterbrechen. Fast hätte ich ausgesprochen, was ich ihm schon seit Monaten sagen möchte, mich aber eisern davor behüte es zu tun, weil er, das was mir auf der Zunge liegt, nicht hören möchte und während ich ihn ansehe, hoffe ich, dass er mich nicht bittet weiterzusprechen. Doch genau das tut er.

„Und du fühlst dich?“

Ich spiele nervös an meinen Fingernägeln herum, befeuchte meine Lippen und schlucke einen dicken Kloss hinunter, der in meiner Kehle steckt. „Geliebt.“

„Nein.“ Er schüttelt energisch seinen Kopf. „Das darfst du nicht.“

Obwohl es mich zutiefst verletzt, wie er über mein Geständnis reagiert, bleibe ich erstaunlich ruhig. „Ich kann meine Gefühle nicht steuern. Ich habe mich schon bei unserer ersten Begegnung in dich verknallt und wenn ich es erklären könnte, würde ich es tun, nur fällt es mir ja selbst schwer es zu verstehen. Ich bin an jedem Versuch mich von dir fernzuhalten kläglich gescheitert. Es zieht mich einfach magisch zu dir hin. Ich bin glücklich und verliebt.“ Ich stosse die Luft aus, von der ich nicht mal bemerkt habe, dass ich sie angehalten habe.

So jetzt ist es raus. Jetzt weiss er, wie ich für ihn fühle und wünsche mir, dass er meine Gefühle nicht mit Füssen treten wird.

Ich reibe meine Hände an der Jeans ab, die sich ganz feucht anfühlen. Mir bricht der Schweiss am ganzen Körper aus, mir wird übel, weil er nicht auf meine Beichte reagiert.

„Damian?“ Ich spreche seinen Namen aus, weil ich dieses Schweigen zwischen uns nicht mehr ertrage.

Er wendet mir sein Gesicht zu, das er eben noch dem Fenster zugedreht hatte. „Ich kann dir nicht das geben, was du dir wünschst.“ Auf seinem Gesicht spiegeln sich Erschöpfung, Skepsis und Hoffnungslosigkeit.

„Aber du gibst mir doch schon alles, was ich brauche.“

„Irgendwann willst du mehr und das kann ich dir nicht schenken. Ich bin nicht der Richtige dafür.“

Er braucht nicht genauer zu werden. Ich weiss ganz genau, auf was er anspielen will. Heirat, Kinder, Familie. Das war immer mein Wunsch. Vor fast einem Jahr habe ich erfahren, dass ich schwanger bin. Familienplanung gehörte zu jenem Zeitpunkt noch nicht in Michaels und meine nähere Zukunft. Doch sobald wir erfahren hatten, dass wir ein Kind bekommen, konnten wir es kaum erwarten, es in den Händen zu halten. Während der Schwangerschaft gehörte ich zu den glücklichsten Frauen der Welt. Bis ich mein Baby verlor.

Zwar war es ein schwerer Schicksalsschlag, dennoch gab ich damals wie heute den Wunsch nicht auf eigene Kinder zu haben. Irgendwann möchte ich meine Arme um mein Baby schlingen und es auf seinem Weg durchs Leben begleiten.

„Und was bedeutet das jetzt?“ Als unsere Blicke sich treffen, gerate ich vollkommen ins Stocken. „S... soll i... ich....“

„Ich möchte, dass du bei mir einziehst. Ich brauche dich hier. Es tönt egoistisch, ich weiss. Ich...“ Sein Kehlkopf hüpft, als er schluckt. „Du findest mich in meinem Arbeistzimmer.“ Er dreht sich auf den Fersen um und geht mit schnellen Schritten aus dem Raum.

Wie konnte dieses Gespräch nur so aus dem Ruder laufen? Wir haben über meinen Ex gesprochen und nun sitze ich hier und überlege mir, wie es mit Damians und meiner Zukunft weitergeht. Ich war schon aufgewühlt genug, nachdem ich den Anruf mit meinem Dad beendet hatte, wobei ich mich jetzt völlig durcheinander fühle. Was soll ich tun? Damian bittet mich bei ihm einzuziehen, obwohl er keine Familie möchte und ich schon. Er hatte eine Frau und eine Tochter, die er beide bei einem tragischen Unfall verloren hatte. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, dennoch glaube ich, dass er nur aus Angst keine Familie mehr gründen möchte und aus demselben Grund niemanden mehr nah genug an sich heranlässt. Aber wie kann ich ihm seine Befangenheit nehmen? Wie kann ich ihn umstimmen? Habe ich überhaupt eine Chance dazu?