1918 - Wilhelm und Wilson

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

3 Seine Majestät

Ich wache auf und zucke zusammen. Eine schallende Geräuschkulisse verheißt eintretende Stiefelschritte. Schwach fühle ich mich und sehe zuerst nur wie durch einen feinen grauen Schleier aus Gaze: Weiße Ärztekittel halten sich zu meiner Überraschung im Hintergrund. Vorn und in der Mitte ein Mann im dunklen Anzug mit Weste, daneben ein größerer Mann in feldgrau, ja genau, in Uniform: Spiegelkragen der Generalität in rot und gold, etliche Orden auf der linken Brust, goldene Knöpfe auf dem Rock. Mein Blick ist immer noch getrübt, so dass es mir schwer fällt, Gesichtszüge zu erkennen. Doch indem ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann, kommt mir gleich eine Ahnung.

„Lieber Freund Gustav, was machst du denn nur für Sachen!

Professor Kraus hat mir Rapport erstattet: Es sei nicht nur dein Herz. Es komme auch noch deine Niere dazu. Dabei will ich doch gar keine Hiobsbotschaften hören! Ich will doch nur, dass du wieder hier heraus kommst, aus unserer so anerkannten Charité. Deutschland braucht dich im Auswärtigen Amt. Und ich ganz besonders brauche dich als Freund, als Berater, als Begleiter auf meinen Auslandsreisen. Nun sag mir schon, dass es dir schon viel besser geht.”

Danach fühle ich mich nun mal gar nicht. Wenn aber der Kaiser einen Krankenbesuch im Klinikum abstattet, ist es natürlich meine Pflicht, Zuversicht zu verbreiten und vor allem gute Laune.

„Euer Majestät, lieber Wilhelm, wie schön, dass du zu mir kommst.”

Mein Lächeln erscheint mir tadellos, doch die Stimme ist derart schwach und brüchig, dass sie meine Worte Lügen straft. Das ist mir indes gleich. Bei diesem Besuch sollen alle wenigstens für einige Minuten so tun, als hätte der Patient hier nicht mehr als eine erfolgreich operierte Blinddarmentzündung hinter sich.

„Meine liebe Käte wusste heute morgen schon zu berichten, dass du dich höchst persönlich nach meiner Gesundheit erkundigt habest. Nicht so viel der Ehre, Wilhelm! Gib mir bitte einfach die Zeit und die Muße, wieder auf die Beine zu kommen.”

„So gefällst du mir, Gustav. Immer voller Tatendrang, immer optimistisch, immer tief stapeln, was seine eigenen Verdienste anbelangt.”

Jetzt lacht Seine Majestät, Kaiser Wilhelm III. laut und schneidig auf. Sein Blick zum Internisten Professor Kraus bringt unverhohlen die Erwartung zum Ausdruck, es ihm an Freundlichkeit und Wohlgemut gleich zu tun. Allein dafür, für seine gute Laune, mag ich Wilhelm von Preußen so sehr. Auch wenn die Zeichen für eine echte Freundschaft zu Beginn unserer Bekanntschaft und dann auch manches weitere Mal in den schicksalsschweren Monaten gegen Kriegsende 1918 nicht zum Besten standen. Heute indes bin ich so schwach, kaum die Kraft für weitere Worte bündeln zu können. Deshalb hoffe ich inständig, dass der Kaiser die kurze Stille durchbrechen möge.

„Heute Morgen, das ist wahrlich gut, lieber Gustav. Gestern war deine verehrte Gattin hier zu Besuch und du wachtest. Seitdem aber hast du dir einen wahrlich langen und tiefen Genesungsschlaf genehmigt. Ich hoffe, du hast gut geträumt.”

Ja, wenn du nur wüsstest, lieber Wilhelm! So geht es mir durch den Kopf und ein zufriedenes Schmunzeln legt sich um meine Mundwinkel.

„Ich bin jetzt jedenfalls überhaupt nicht hier, um dich mit deiner Arbeit zu behelligen oder dich regelrecht auszufragen. Falls du dich etwas unpässlich fühlen solltest, um mir viel zu erzählen, so will ich gerne einspringen und dir ein wenig berichten von meiner letzten großen Jagd in der Johannisberger Heide. Das war ein Vergnügen!”

Ich bin dankbar und erleichtert. Daher nicke ich Wilhelm freundlich zu und entspanne mich in dem sogleich von einer kräftigen Schwester aufgestellten Kopfelement meines Bettes. Zwei Pfleger tragen soeben einen bequemen Sessel herein und stellen diesen nur etwa einen Meter und fünfzig Zentimeter von meinem Bett für den Kaiser auf. Wilhelm III. nimmt in aller Seelenruhe Platz, streckt die Beine weit aus und beginnt.

Und Seine Majestät sind in Erzähllaune! Er berichtet von der Treibjagd auf Füchse. Gibt mir an, in der Welt sei ja ohne mich wenig los, so dass er auch gar keinen Bericht zu den aktuellen Taten der Briten oder Amerikaner abzugeben habe. Aber das seien ja noch Zeiten gewesen, als wir beide - und ganz wenige andere natürlich auch - 1918 all unsere Intelligenz, all unsere Scharfsinnigkeit in der Analyse der weltpolitischen Möglichkeiten und vor allem all unseren Tatendrang zusammen genommen hätten und schließlich einen hervorragenden Friedensschluss für das Reich erzielt hätten. Die anwesenden Mediziner in der zweiten Reihe kommen nicht umhin, die Worte des Kaisers durch unmissverständliche Gesten und Minen zu bestätigen.

Mir dagegen fällt nach anfänglich großem Vergnügen das Zuhören immer schwerer. Der Kopfschmerz legt wieder zu, mir schwindelt, ich kann die Augen kaum noch offen halten. Dann muss ich tatsächlich für einen Sekundenschlaf eingenickt gewesen sein, denn ich schrecke durch ein lautes Wort auf, zucke zusammen und sehe Wilhelm mit großen Augen an.

“Das ist ausgesprochen nett und höflich, lieber Gustav, dass du mir so aufmerksam zugehört hast. Da ich aber gekommen bin, um dich zu unterhalten, und nicht, um dich anzustrengen, möchte ich dich wieder der Ruhe deines Zimmers und nicht weniger der Obhut deiner Ärzte überlassen. Wir sehen uns schon sehr bald wieder!“

Wilhelm lächelt, steht auf, beugt sich zu mir hinunter und drückt mir die Schulter. Das tut gut. Auch wenn das für andere schwer vorstellbar zu sein scheint, aber Seine Majestät der Kaiser ist mein wahrer Freund und ich damit natürlich auch seiner. Nachdem mit Wilhelm die gesamte Schar der weiß bekittelten Begleitung mein Zimmer verlassen hat, bin ich froh und dankbar für seinen Besuch, und in diesem Moment noch mehr dafür, jetzt erneut meine Ruhe zu finden. Ich bin müde und ich möchte schlafen. In meinem Zustand ist es auch tatsächlich kein Problem, diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen. Es dürften nur einige Sekunden sein, bis ich dem wach Sein entschwunden bin. An die Stelle des geräumigen Krankenhauszimmers tritt vor mein inneres Auge die herrliche Blüte der Büsche und Bäume im Tiergarten. Es ist Frühling, der Frühling 1917. …

Der Mai 1917 geht zu Ende, meine Gespräche mit den Kollegen Haußmann, Erzberger und Scheidemann konzentrieren sich nach anfänglich hitziger Debatte über das preußische Wahlrecht inzwischen eindeutig auf die Frage nach der Möglichkeit eines Verständigungsfriedens. Es liegt in der Natur der Sache, nämlich in der Natur unserer unterschiedlichen inhaltlichen Positionen zu Fragen des Kriegszielprogramms, dass bei meinen drei Gesprächspartnern ein Rest Zweifel, vielleicht sogar auch Misstrauen mir gegenüber bleibt. Das ist wohl kaum verwunderlich, wenn ich mir selbst meine Haltung zu den Kriegszielen des Reiches seit dem Septemberprogramm Bethmann-Hollwegs in Erinnerung rufe. Der Reichskanzler war damals vorgeprescht, doch zugleich musste er wohl zu dieser alles entscheidenden Frage der deutschen Politik im Herbst 1914 selber Stellung beziehen. Seine Stellungnahme war de facto das Angebot zum Kompromiss in viele Richtungen, was die maßgebenden Kräfte der inneren Politik anbelangte. Unter Druck geriet Bethmann-Hollweg allerdings gerade 1916 mehr von rechts denn von links; vielen Vertretern der Schwerindustrie gingen seine Forderungen nicht weit genug. Woran lag es eigentlich, dass Bethmanns Kriegszielprogramm kaum Anhänger fand? Junkern und Stahlbaronen gingen seine Ziele nicht weit genug. Der Sozialdemokratie dagegen war jeder Friede suspekt, der eindeutig einen Sieger und einen Besiegten kannte. Was wollte der Reichskanzler im September 1914 also wirklich und was hatte er damals wirklich geregelt? Neben zahlreichen schwammigen Aussagen zu so interessanten Fragen wie Kolonien, Flotte und Welthandel beschränkten sich die einigermaßen fassbaren Inhalte auf vier Positionen, die sich für die Verhandelbarkeit des Programms mit dem Feind als entscheidend erweisen mussten:

Im Westen sollte erstens eine irgend geartete Oberhoheit des Reiches über Belgien stehen. Was das genau bedeuten sollte, blieb ungewiss. Folglich reichten die Spekulationen in Berlin, Brüssel, Paris und London von der Kontrolle über die Außen- wie Wirtschaftspolitik unseres Nachbarn bis zu seiner Eingliederung in das Reich selbst. Zweitens wurden von Frankreich territoriale Zugeständnisse in Lothringen verlangt. Vielleicht kam gar französisch Flandern mit Dünkirchen hinzu. Dies rief selbstverständlich Britannien ganz besonders auf den Plan, strebte der Gegner doch offenkundig nach der Beherrschung der kontinentaleuropäischen Kanalküste. Drittens sollte eine mitteleuropäische Zollunion unter deutscher Leitung geschaffen werden. Unter Mitteleuropa verstand die Reichsregierung nicht nur die Mittelmächte, sondern zudem die Beneluxstaaten, nach Möglichkeit Polen und Teile Skandinaviens. Damit sind wir bei Bethmann-Hollwegs viertem zentralen Kriegsziel, der Herauslösung Polens aus dem Zarenreich, seine politisch und wirtschaftlich enge Anbindung an die Mittelmächte. Im Osten hinzu kam die nur vage Vorstellung, weitere Teile des Zarenreiches, insbesondere das Baltikum, zukünftig an Berlin zu binden.

Heute, im Jahre 1929, kann ich nicht verhehlen, dass mir meine eigene Haltung zu jenen Fragen ein wenig unangenehm ist. In guter nationalliberaler Tradition hatte ich ja bereits seit meinem ersten Einzug in den Reichstag 1907 jegliche koloniale Erwerbung und eine starke Flotte vehement befürwortet. Vom Herbst 1914 bis zum Jahresbeginn 1918 gar gehörte ich dann zu denjenigen, die ebenso wie die Herren Stinnes oder Tirpitz nun gar nicht genug davon bekommen konnten, in euphorisierenden Phantastereien immer größere Teile Europas dem unmittelbaren hegemonialen Herrschaftsbereich des Reiches einzuverleiben. Dass dies dazu führte, nicht einmal einen Ansatz für Verhandlungen mit unseren Feinden von damals zu finden, störte mich durchaus nicht. Denn ich vertraute so sehr auf den Erfolg unserer Waffen und unserer Rüstungs- und Kriegswirtschaft, ich war von unserer Überlegenheit über alle drei gegnerischen Weltmächte derart unverbrüchlich überzeugt, dass mich diese Haltung im Frühjahr 1917 tatsächlich in eine schwierige Situation gegenüber den drei Parlamentariern brachte, mit welchen ich in der Frage des Wahlrechts ja sehr wohl eine gewisse Gemeinsamkeit fand.

 

Sowohl meine Auffassung in Angelegenheiten der Kriegsziele waren der militärischen Reichsleitung bekannt als auch die im April und Mai 1917 regelmäßig geführten Gespräche zwischen Erzberger, Haußmann, Scheidemann und mir. Das hatten wir zwar nicht beabsichtigt, doch Berlin ist und war halt ein sehr kommunikatives Pflaster, in Bezug auf die Mitglieder der politischen Führung vielleicht gar ein Dorf. So kam es, dass ich vor dem 20. Mai eine Einladung von einem gewissen Oberst Bauer aus der Obersten Heeresleitung erhielt. Der mir bis dahin nur namentlich bekannte Herr schrieb mir einen sehr förmlichen, aber auch ein wenig offenen Brief, handschriftlich, und lud mich für den 22. des selben Monats in sein Büro im Berliner Kriegsministerium an der Wilhelmstraße ein. Er reise dann für kurze Zeit von der OHL in Spa in die Reichshauptstadt. Anlässlich eines Abendessens Bauers mit Herrn Generalleutnant Ludendorff habe der Generalquartiermeister den Wunsch geäußert, mehr über die aktuelle Zusammenarbeit zwischen den maßgeblichen Fraktionen des Reichstags zu erfahren. Als er, Bauer, Ludendorff daraufhin angedeutet habe, es gebe Gerüchte über geheime Gespräche zwischen den obersten Führern von Zentrum, Fortschrittspartei, Nationalliberalen - und ja sogar der Sozialdemokratie, habe der General erstaunt reagiert. Nein, es sei wohl mehr gewesen, Entrüstung! Die Herren Ludendorff und Bauer seien sich einig, einzig und allein die treu zu Kaiser und Reich stehende Nationalliberale Partei in diesem Fall kontaktieren zu können. Wegen der gesundheitlichen Unpässlichkeiten von Herrn Fraktionsvorsitzenden Bassermann bäte er, Bauer, daher nun dessen Stellvertreter und prospektiven Nachfolger, Herrn Doktor Stresemann, um eben diese Unterredung. Wegen der Bedeutung der Angelegenheit wäre er ausgesprochen dankbar, falls ich den vorgeschlagenen Termin einrichten könne. Eine fernmündliche Zusage im Sekretariat des Generalstabschefs genüge.

Mir war unwohl damals. Die OHL wollte mich geradezu ausquetschen. Ich durfte einerseits keine vertraulichen Gesprächsinhalte preisgeben. Ich musste andererseits meine unbedingte Zuverlässigkeit gegenüber der Reichsleitung unter Beweis stellen. Ein kaum zu vollbringender Spagat würde mir abverlangt werden. Um so erleichterter war ich dann über den Verlauf der Unterredung mit Oberst Bauer selbst.

Oberst Max Bauer übte in der OHL diverse rüstungswirtschaftliche Aufgaben, insbesondere die Entwicklung und Beschaffung von Artillerie betreffend, aus. Vor allem anderen aber war er von überragender Bedeutung, da Bauer als der Vertraute von General Ludendorff überhaupt galt. Generalquartiermeister Ludendorff wiederum galt in allen maßgeblichen Kreisen Berlins bereits wenige Monate nach Bildung der dritten OHL im August, also spätestens seit Weihnachten 1916 noch vor Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg als der wirklich starke Mann der militärischen Reichsleitung. Ludendorff galt in meiner Reichstagsfraktion sogar als der mächtigste Mann Deutschlands, vor dem Reichskanzler und vor dem Kaiser. Also war Bauer wichtig, sehr wichtig. Wir trafen uns in seinem unscheinbar kleinen Büro im dritten Geschoss des Ministeriums. Oberst Bauer eröffnete unser Vieraugengespräch in für mich überraschend schonungsloser Offenheit. Angenehm war mir gleich, dass der Herr entgegen der Gewohnheit beinahe aller maßgeblichen Militärs völlig ohne Pathos sprach, eher wie in einem kleinen Zirkel alter Freunde, die über das Privileg verfügen, auf Taktik im Umgang miteinander gänzlich verzichten zu können.

„Sehr verehrter Herr Doktor Stresemann, sie sind ein viel beschäftigter Mann in Berlin. Daher betrachte ich es keineswegs als selbstverständlich, dass sie ihren Kalender so kurzfristig für mich und mein Anliegen frei geräumt haben. Dabei äußerte ja schließlich nicht der Herr Generalquartiermeister selbst, sondern ein einfacher Stabsoffizier der OHL diesen Wunsch. Dafür möchte ich mich gleich mit einer einleitenden Bemerkung bedanken: Es liegt mir vollständig fern, sie an meinem Schreibtisch über den Inhalt ihrer Gespräche mit den Herren - ja es sollen die Abgeordneten Haußmann, Erzberger und sogar dieser Scheidemann sein - über das Wahlgesetz des Königreiches Preußen auszufragen. Das brächte sie in unvertretbare Loyalitätskonflikte, und das wiederum liegt Herrn Generalleutnant Ludendorff fern. Außerdem hat Seine Majestät der Kaiser ja auch erst gerade in seiner Osterbotschaft den Massen und damit vorrangig der Sozialdemokratie in Aussicht gestellt, das Wahlrecht in Preußen nach dem Sieg zu reformieren.

Mir geht es heute allein um die sehr wichtige Angelegenheit der deutschen Kriegszielpolitik. Und da ist der Obersten Heeresleitung bekannt geworden, dass der Herr Reichstagsabgeordnete Erzberger einen Pfeil im Köcher zu haben scheint. Sind sie einverstanden, dass wir hierüber heute einen vertraulichen Austausch unter patriotischen deutschen Männern pflegen?”

Mir gefiel Bauers ehrliche Art sehr, auch wenn ich ihn gerne dahingehend korrigiert hätte, dass Wilhelm II. am 7. April nicht nur in Aussicht gestellt, sondern sogar öffentlich zugesagt hatte, das Dreiklassenwahlrecht in Preußen nach dem Sieg zu verändern. Ich war zugleich erleichtert, zu diesem Thema keinerlei Loyalitätskonflikten entgegen zu sehen. Und mir wurde schlagartig klar, dass ich Oberst Bauer nicht abschlagen konnte, über die Kriegszielfrage mit ihm zu sprechen.

„Herzlichen Dank, Herr Oberst, für ihre klaren Worte.

Bitte richten sie Herrn Generalleutnant Ludendorff die herzlichsten Grüße von mir aus. Zuletzt begegneten wir uns, sofern mich die Erinnerung nicht trügt, beim Neujahrsempfang Seiner Majestät im Januar. Ich schätze es sehr, dass der Generalquartiermeister insbesondere in Fragen der deutschen Kriegsziele so unmissverständliche Worte findet. Das war auch damals im Schloss Charlottenburg der Fall, als wir mit Herrn Ballin und einigen Herren von der Ruhr zusammen standen.

Was die Gegenstände meiner Erörterungen mit den eben von ihnen benannten führenden Herren der Reichstagsfraktionen betrifft, möchte ich die ihnen zu Ohren gekommenen Hinweise durchaus bestätigen. Wir sprechen des Öfteren und dabei steht das Wahlrecht in Preußen im Mittelpunkt. Dabei ist uns selbstverständlich bekannt, dass angesichts der preußischen Verfassung und wegen der Mehrheiten im preußischen Abgeordnetenhaus Seine Majestät das letzte Wort hat und ansonsten das Zusammenwirken von Konservativen und Nationalliberalen erforderlich bleibt, um Mehrheiten zu bilden. Fernerhin nehme ich ihr Angebot hiermit dankend an, keine vertiefenden Inhalte zu berichten und den übrigen drei Herren damit ein verlässlicher Partner zu sein und zu bleiben.

Was die Kriegsziele des Reiches betrifft, stehen die Verhältnisse insofern anders, als dass die Äußerungen von uns vieren in den öffentlichen Sitzungen des Reichstags seit September 1914 für sich sprechen und der deutschen Öffentlichkeit hinlänglich bekannt sind. Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass ich persönlich und meine Fraktion unverbrüchlich zu den Septemberzielen des Herrn Reichskanzlers stehen. Es ist ebenso unverrückbar, dass die Fraktionen der Fortschrittlichen, des Zentrums und der Sozialdemokraten vor allem anderen einen Verhandlungsfrieden anstreben. Und wer solche Prioritäten setzt, der kommt nicht umhin, sich in seinen Forderungen zu bescheiden, ja sogar der populären sozialistischen Forderung im Grundsatz - ich betone nur im Grundsatz - zuzustimmen, ein Frieden ohne Annexionen und Kontributionen sei auch für unser Reich ehrenhaft und verhandelbar.”

Oberst Bauer hörte mir aufmerksam und offenkundig zufrieden zu, ob der ebenfalls klaren Worte, die er meinem Munde entnahm.

„Und die Herren haben detailliert zu erkennen gegeben, worin ihr Kriegszielprogramm für eine internationale Friedenskonferenz bestünde?”

„Nun, Herr Oberst, so ist das nicht. Das liegt sehr einfach daran, dass diese Frage, die für die OHL verständlicherweise im Mittelpunkt ihre politischen Arbeit steht, gar nicht im Mittelpunkt der Überlegungen der drei Herren steht.”

„Ach, darauf habe ich, und mit mir der Generalquartiermeister, aber sehr wohl gesetzt.”

„Sehr verehrter Herr Oberst Bauer, das politische Geschäft des Reichstags vollzieht sich tatsächlich nach etwas anderen Gesetzen, als man das in Spa so wahrzunehmen scheint. Insbesondere Herr Erzberger vertritt die These, es solle gar nicht so konkret wie möglich gesagt werden, was den Frieden kennzeichnen dürfe. Das sei doch schließlich die Verantwortung der Regierung. Er und auch Herr Scheidemann sinnieren manches Mal in unserer Runde über die Option einer Resolution des Deutschen Reichstags, die möglichst alle Fraktionen - bis auf die Konservative selbstverständlich - annehmen mögen. In einem solchen Text solle die Reichsregierung dann sehr deklaratorisch und wenig präzise, somit nur der Sprachwahl gemäß machtvoll aufgefordert werden, zu einer internationalen Konferenz einzuladen und wirklich einen Frieden ohne nennenswerte Abweichungen vom Status quo ante Bellum zu verhandeln.

Ich habe es abgelehnt, namens meiner Fraktion ein solches Ansinnen zu unterstützen. Ich habe das maßgeblich damit begründet, dass eine solche Friedensinitiative wie noch keine zweite zuvor von der Welt als Schwäche Deutschlands aufgefasst werden müsste. Und daraufhin gäbe es keine Aussicht auf Annahme des Vorschlags. Ich habe weiter den Kollegen Erzberger und Scheidemann gegenüber erklärt, es sei weiterhin meine unverrückbare persönliche Überzeugung, dass unser Reich in der Welt von morgen nur dann werde bestehen können, falls es uns gelänge, unsere Stellung in der Mitte Europas zum wenigsten so weit zu konsolidieren, dass wir auf unabsehbare Zeit keinen feindlichen Angriff mit ernst zu nehmender Erfolgsaussicht an zwei Fronten mehr erleiden müssten. Und and dieser Stelle stehen wir heute. An dieser Stelle ist es auch keineswegs möglich, dass die vier Fraktionen, die ja eigentlich Konsultationen über das Wahlrecht zu führen beabsichtigten, zu einem Konsensus in Fragen des Krieges an sich gelangen werden.”

„Und das würden sie, sehr verehrter Herr Doktor Stresemann, auch Herrn Generalleutnant Ludendorff persönlich berichten?”

Ich stutze, doch nur für eine Sekunde der Überraschung.

„Aber selbstverständlich, lieber Herr Oberst. Sofern man mir die Vertraulichkeit der Unterredung zusicherte, würde ich jeder Persönlichkeit der Staatsleitung, sogar dem Herrn Reichskanzler oder Seiner Majestät, dem Kaiser selbst, diese Erklärung abgeben.”

„Ein schönes Stichwort, lieber Herr Doktor.

Es ist nicht Seine Majestät, der dieses Anliegen vorbringen könnte. Doch wie wäre es wohl, falls seine kaiserliche Hoheit, der kommandierende General der Heeresgruppe deutscher Kronprinz, Kronprinz Wilhelm höchst persönlich, ein Gespräch mit ihnen zu führen gedächte? Wäre das für sie vorstellbar?”

„Ich empfinde es als meine Pflicht gegenüber dem deutschen Kaiserhause, seine Mitglieder in allem zu unterstützen, das dem Wohle unseres Landes und der Krone dienen möge. Ich bleibe dabei, im Fall der zweifelsfreien Vertraulichkeit eines Gespräches stehe ich zur Verfügung.”

Sodann wechselten wir das Thema hin zu diversen Fragen der Rüstungsproduktion, der Ausstattung unseres Heeres mit Waffen und Munition, natürlich einschließlich der Einschätzung darüber, wie lange unsere Feinde, vornehmlich Großbritannien, den uneingeschränkten U-Boot-Krieg wohl noch überstehen könnten, ohne wirtschaftlich in Not zu geraten. Es war intensiv und anregend, sich mit Oberst Bauer zu unterhalten. Als wir uns verabschiedeten, meinte er nur recht knapp:

„Sie werden bald von mir hören, lieber Herr Doktor Stresemann. Zurück in Spa berichte ich seiner Exzellenz, Generalleutnant Ludendorff, und er wird dem Kronprinzen berichten. Vielleicht sehen wir uns schon recht bald wieder.”

So kam es. Genau eine Woche später empfing mich seine kaiserliche Hoheit im Berliner Stadtschloss im Beisein des Generalquartiermeisters und des Obristen Bauer. Es wurde ein mindestens für mich denkwürdiges Gespräch, weil es mein Bewusstsein dafür schärfte, welche gravierenden innerparteilichen Unstimmigkeiten daraus in Zukunft wohl resultieren mochten, falls meine Fraktion und ich den Weg der Annäherung an die fortschrittlichen Kräfte in der Innenpolitik wählen sollten, während der nationalliberale Weg in der Außen- und Kriegszielpolitik weiterhin eng an der Seite der Reichsleitung bliebe. An jenem 29. Mai 1917 im Berliner Stadtschloss beschritt ich sehr zaghaft einen Weg, der mich im Folgejahr an der Seite guter Freunde und in harten Verhandlungen mit großen Gegnern zu einer Friedensordnung führen sollte, die - das darf man sicherlich heute bereits so sagen - die Grundfesten für die Weltordnung des 20. Jahrhunderts bedeuteten.

 

„Mein lieber Doktor Stresemann, wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?”

„Kaiserliche Hoheit, haben sie herzlichen Dank für die freundliche Einladung zu dieser Unterredung. Ich freue mich sehr darüber.

Was ihre Frage anbelangt, es war zum Neujahrsempfang Seiner Majestät, ihres verehrten Herrn Vaters, dass wir uns im Charlottenburger Schloss zuletzt begegneten. Es war mir ein Vergnügen mit ihnen und Herrn Generalquartiermeister Ludendorff einige Worte wechseln zu dürfen.”

Ich reichte Ludendorff die Hand und verneigte mich dabei, wie es unter Offizieren und selbst seitens deutscher Zivilisten gegenüber einem wahrlich hoch stehenden Militär üblich ist.

„Aber noch im letzten Jahr, mein lieber Stresemann, da haben wir uns des Öfteren gesehen. Mir hat es wichtige Erkenntnisse erbracht, im letzten Herbst mit ihnen über das Vaterländische Hilfsdienstgesetz plaudern zu dürfen. Unser gemeinsames Treffen mit Herrn Rathenau ist mir da besonders eindringlich in Erinnerung geblieben. Der Präsident der AEG beeindruckte mich ohne Zweifel. Er fügte seine Erfahrungen als Leiter des Reichsrohstoffamtes und seine Kenntnisse über die Industrie damals zu einem stimmigen Gesamtbild zusammen. Rathenau zeigte mir damals, dass unsere Rüstungswirtschaft mit Arbeiterausschüssen besser funktionieren werde als ohne.”

Ich musste schmunzeln, als ich daran zurückdachte, wie verwundert Walther nach dem Treffen über die zuweilen offensichtliche Naivität des Kronprinzen urteilte. Seine kaiserliche Hoheit hatte kaum eine Vorstellung davon, wie scharf die Abwehrmaßnahmen gerade der Schwerindustrie gegenüber jeglicher gewerkschaftlicher Organisation im Betrieb ausfielen.

„Für mich und meine Fraktion war zusätzlich von größter Bedeutung, kaiserliche Hoheit, welche Aussichten uns Herr Rathenau für die Nachkriegszeit eröffnete: Die Erprobung der Arbeiterausschüsse im Kriege werde den Betriebsfrieden fördern, die Arbeitsmotivation der Arbeiterschaft insgesamt steigern und damit der deutschen Industrie einen schönen Wettbewerbsvorteil auf dem Weltmarkte verschaffen. Das sehe übrigens Herr Duisberg von der IG Farben genau so.”

„Ich erinnere dies, mein lieber Stresemann. Und ich hoffe doch sehr, dass die Herren Vertreter der Exportindustrien auf der ganzen Linie recht behalten werden.”

Wilhelm lachte, Ludendorff stimmte mit ein, ich lächelte und war auf den nächsten Schachzug gespannt.

„Aber heute treffen wir uns ja, lieber Stresemann, weil wir nicht mehr 1916 haben, sondern 1917, und da dringen manch beunruhigende Nachrichten an mein Ohr. Die führenden Herren der so genannten demokratischen Fraktionen im Deutschen Reichstag scheinen sich zusammen zu tun. Aber wozu, oder wogegen?

Geht es gegen die Krone, gegen das Wahlrecht im Königreich Preußen oder geht es gegen unsere auswärtige Politik mit all den Zielen, die das Reich verfolgen muss, um in Zukunft auch in einer Welt von Feinden bestehen zu können? Ich gebe freimütig zu, das beunruhigt mich, das beunruhigt uns, also auch die Oberste Heeresleitung mit seinen Exzellenzen Hindenburg und Ludendorff, auf das Außerordentlichste!

Und doch bin ich frohen Mutes zu wissen, dass eine so integere und vaterländisch gesinnte Persönlichkeit wie sie, lieber Stresemann, von jenen demokratischen Herren zu Rate gezogen wird. Das bestärkt mich in der Hoffnung, dass ein Brückenschlag weiterhin möglich bleibt. Ich meine, eine Brücke sollte errichtet werden von der Krone und der zivilen wie der militärischen Reichsleitung aus. Diese erstrecke sich dann über die ohne jeden Zweifel erhabenen, die vaterländischen Parteien der Konservativen und der Nationalliberalen bis ganz weit nach links im politischen Spektrum des Reiches, bis zu den Sozialdemokraten. - Halten sie meine Hoffnung für begründet?”

Die Frage des Kronprinzen kam abrupt. Ich muss gestehen, ich war ein wenig überrumpelt. Ich weiß es noch ganz genau: Um Zeit zu gewinnen, sehe ich langsam und der Reihe nach in die drei mir gegenüber sitzenden Gesichter. Einzig Bauer wirkt auf eine überzeugende Weise entspannt, so als träfen wir uns hier tatsächlich im privaten Rahmen.

„Kaiserliche Hoheit, eure Sorge um Deutschland zeigt den ehrenhaften Charakter unseres heutigen Treffens. Mir geht es ganz ähnlich wie euch, dass ich mir ein wenig wie das Scharnier zwischen zwei Flügeln des politischen Lebens im Reich vorkomme. Da sind die nationalen Kräfte auf der einen, die linksliberalen und demokratischen Kräfte auf der anderen Seite. Und ja, ich habe Hoffnung, Hoheit, weil ich in sehr intensiven Erörterungen mit drei hoch intelligenten und auch verantwortungsbewussten Menschen, den Herren Haußmann, Erzberger und Scheidemann, erfahren durfte, dass dort zwar der Geist der Demokratie, indes nicht der Geist des Aufruhrs herrscht.”

Ludendorff hat sich vorgebeugt und darüber sein Interesse bekundet, in das Gespräch eingreifen zu mögen.

„Das müssen sie uns näher erklären, lieber Doktor Stresemann, das könnte ja durchaus etwas Neues bedeuten.”

„Ob neu oder nicht, ist vielleicht gar nachrangig, Herr Generalquartiermeister. Schließlich haben Ultramontane und Sozialisten bereits 1914 die Kriegskredite mitgetragen. Doch was sie von mir zu erfahren verlangen, ist ja vornehmlich dieses: Das Zentrum ist selbstverständlich nicht der Träger revolutionären Gedankengutes in Deutschland, solange die Katholiken ihre kulturelle Autonomie wahren können. Die Sozialdemokraten dagegen sind tief gespalten. Das verstellt uns wohl gar manches Mal den Blick dafür, wohin die Reise dort geht.

Herr Haase, Herr Liebknecht oder Frau Luxemburg lehnten schon die Kriegskredite und das Hilfsdienstgesetz ab. Sie lehnen auch heute weiterhin die Monarchie ab. Aber berechtigt das zu eurer Sorge, kaiserliche Hoheit? Ich bin mir gewiss: Nein, keineswegs! Ihnen, den Aufrührern, stehen die Vorsitzenden von Partei und Reichstagsfraktion, die Herren Ebert und Scheidemann gegenüber. Diese wissen eine breite Mehrheit in Volk und Partei hinter sich. Ebert und Scheidemann wollen nichts weniger als eine Revolution in Deutschland. Die aktuellen Ereignisse in Russland lehren sie das Grauen. Es passiert dasselbe, was von 1790 bis 1794 in Paris geschah: Die Revolutionäre putschen gegenseitig die Stimmung hinauf und fördern damit nur die immer radikaleren Kräfte. Sie fürchten solches auch für unser Reich. Und was in Russland die Liberalen und die Menschewiki sind, könnten bei uns das Zentrum und die Mehrheits-SPD sein. Was jedoch in Russland Lenin und Kamenew sind, das würden bei uns Liebknecht und seine Freunde.

Um ein revolutionäres Chaos in Deutschland zu verhindern, im Keime zu ersticken, finden sich die Herren Ebert und Scheidemann mit der Monarchie als für Deutschland und Preußen kulturell vorherbestimmter und zum Fortschritte fähiger Regierungsform ab. Das sagen sie in den eigenen Reihen inzwischen sogar hinter den berüchtigten geschlossenen Türen. Doch was ihnen noch fehlt, um die eigene Anhängerschaft sicher zu überzeugen, sind unmissverständliche Zeichen des Entgegenkommens der Monarchie selbst.”