Ehrenmord ist kein Aprilscherz

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»Ich bezweifle, Herr El-Karim, dass Jörg Ihnen nach diesem eklatanten Vorfall überhaupt etwas sagen will!«, antwortet der Vater. »Er ist vollkommen mit den Nerven herunter! Wir haben durchaus Verständnis dafür, dass Sie bezüglich des Verbleibs Ihrer Tochter besorgt sind, aber bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir solche wüsten Gebaren in unserer Gesellschaft weder akzeptieren noch dulden! Auch ich bin Vater und nehme deshalb Ihre Entschuldigung hiermit an. Auch werde ich auf eine Anzeige unter dem Vorbehalt verzichten, dass Sie und Ihre Söhne Jörg in Zukunft in keiner Weise mehr mit dieser Sache behelligen. Die Reparaturkosten für die beschädigte Wohnungstür lasse ich Ihnen zusenden und hoffe, dass damit die Angelegenheit erledigt ist. Guten Abend!«

»Wie gesagt, dies alles tut mir sehr leid, aber ich habe volles Verständnis und danke Ihnen, Herr Ewers!« Jalil El-Karim nickt. Er und Osman wenden sich ab, um zu gehen.

Als sie auf halber Treppe auf dem Weg nach unten sind, hören sie plötzlich hinter sich eine jugendliche Stimme – wie sich herausstellt, die von Jörg Ewers: »Und hören Sie doch bitte endlich damit auf, Ihre Tochter mit Ihren mittelalterlichen Ansichten zu schikanieren! Wir sind hier in Deutschland und nicht in Arabien, begreifen Sie das doch bitte, Herr El-Karim! Amina ist eine sehr nette Schulfreundin und hat so etwas wirklich nicht verdient!« »Verfluchter Kafir!«, murmelt Jalil auf Arabisch. »Was verstehst du schon von unserem, dem einzig wahren Glauben und unseren Sitten, du Hundesohn!«

Gerade als sie in seinen Mercedes Kombi einsteigen wollen, begegnet ihnen Achmed Mansour, der den kleinen arabischen Imbiss in der Kirchenstraße betreibt und sich auf dem Nachhauseweg befindet.

»Salam Aleikum, Jalil! Sag mal, was ist bei euch los? Ismail hat mir vorher erzählt, dass dein Sohn Walid von der Polizei verhaftet wurde, weil er hier in der Straße randaliert haben soll! Ich wollte dich sowieso noch anrufen, um dir zu sagen, dass ich heute Abend beobachtet habe, wie deine Tochter Amina an der Telefonzelle am Markt in einen Kleinbus eingestiegen ist.«

Jalil wird blass. Ihn verlassen die Kräfte, der Autoschlüssel fällt ihm aus der Hand und er taumelt. Osman kann seinen Vater gerade noch festhalten und ihn gegen den Wagen lehnen.

»Was sagst du da, Achmed?«, fragt Jalil, nachdem er sich gefangen hat. »Meine Amina soll in einen fremden Wagen gestiegen sein? Das kann doch nicht sein! Du musst dich geirrt haben!«

»Ja, Jalil, das dachte ich im ersten Moment auch, weil das Mädchen kein Kopftuch trug. Als sie aber in den Wagen einstieg, blickte sie mich furchtbar erschrocken an, und da habe ich sie erkannt! Dann schob sie rasch die Tür von diesem Bus zu, und der fuhr sofort ab. Den Wagen habe ich hier in der Stadt noch nie gesehen!«

Osman hebt die Autoschlüssel auf. Geistesgegenwärtig sagt er: »Abu Achmed, begleiten Sie uns doch bitte zur Polizei. Dort werden wir melden, dass meine Schwester entführt worden ist. Und wir müssen uns ja auch um Walid kümmern!«

»Aber mein lieber Osman«, Achmed Mansour schaut auf seine Armbanduhr, »es ist schon halb elf. Glaubst du wirklich, dass wir dort noch jemanden antreffen?«

»Die halten meinen Bruder in der Zelle fest. Schon deshalb wird irgendjemand dort sein, der auf ihn aufpasst!«

»Nun gut, wie du meinst! Lass es uns wenigstens versuchen! Aber gib mir besser die Autoschlüssel. Dein Vater kann ja nicht fahren, so aufgeregt, wie er ist!«

*

Wenig später parkt Achmed Mansour den Kombi der El-Karims vor der Polizeistation in Oldenmoor.

»Da ist noch Licht und ich hab soeben einen Polizisten am Fenster gesehen!«, sagt Osman. Die beiden Männer und der Junge steigen aus. Jalil läutet an der Türklingel. Polizeihauptkommissar Boie Hansen, der Dienststellenleiter, öffnet ihnen.

»Guten Abend, meine Herren, das ging aber schnell! Sie sind meiner Streife zuvorgekommen, die ich zu Ihnen nach Hause geschickt habe. Ich vermute, Sie sind Herr El-Karim, der Vater von Walid, und du bist sein Bruder, nicht wahr? Und Sie sind …?«, fragt er den Begleiter der beiden.

»Ich heiße Mansour, Achmed Mansour. Ich bin ein Freund der Familie El-Karim und möchte eine Zeugenaussage machen.«

»Na, denn kümmt man rin!«, sagt Boie Hansen und tritt zur Seite, um ihnen Einlass zu gewähren.

Als die drei vor seinem Schreibtisch Platz genommen haben, schaut Boie Hansen nacheinander in deren Gesichter. »Also, Herr El-Karim, da hat sich Ihr Herr Sohn ganz schön was geleistet, das muss man schon sagen! Ich weiß, ich weiß«, unterbindet er mit einer Armbewegung Jalil El-Karims Versuch, eine Erklärung abzugeben, »Ihr Sohn Walid hat mir bereits alles über das unerklärliche Ausbleiben Ihrer Tochter – wie hieß sie noch? Also ja, hier hab ich’s: Ihrer Tochter Amina – erzählt. Aber deswegen darf er doch nicht die Wohnungstür eines ihrer Klassenkameraden eintreten und einen solchen Aufstand machen, dass das ganze Haus zusammenläuft! Das bringt ihm mindestens eine Anzeige wegen schweren Hausfriedensbruchs nach Paragraph 123 Strafgesetzbuch ein! Insofern hat er Glück, denn er wird erst in zwei Tagen einundzwanzig, da geht’s gerade noch vor einen Jugendrichter! Es kommt auch darauf an, ob der Geschädigte Strafantrag stellt.«

»Ja, Herr Kommissar«, erwidert Jalil El-Karim, »ist mir bekannt. Aber ich habe soeben mit Herrn Ewers gesprochen und meinen Sohn entschuldigt. Er sagte, er wolle von einer Anzeige absehen. Ich werde den von Walid angerichteten Schaden an der Tür selbstverständlich bezahlen, das habe ich ihm versprochen!«

»Na, dann ist ja für Ihren Sohn alles glimpflich abgegangen! Bläuen Sie ihm aber ein, dass er sich in Zukunft zusammenreißen muss, sonst kriegt er Ärger mit uns! Wenn er diesmal auch straflos ausgeht, ist er immerhin als Wüterich aktenkundig geworden. Dann nehmen Sie also in Gottes Namen Ihren Filius wieder mit!« Boie Hansen will sich gerade mit dem Zellenschlüssel in der Hand erheben, als Polizeiobermeister Willi Seifert und Polizeimeister Dieter Klages eintreffen. Überrascht blicken sie auf das Besuchertrio.

»Na, da pliert ju, wat?«, sagt Boie Hansen. »De Mannslüüt sind jüm al vörafkömmt.9 Dieter, holst du bitte den Jungen raus? Er darf gehen!« Er übergibt dem Polizeimeister den Schlüssel.

»Einen Moment bitte, Herr Kommissar!«, meldet sich Jalil El-Karim zu Wort. Ich muss noch etwas Wichtiges anzeigen! Meine Tochter Amina wurde ganz sicher entführt! Der Herr hier ist Zeuge!«

Die drei Polizisten spitzen die Ohren und hören aufmerksam zu, während Achmed Mansour seine Aussage zu Protokoll gibt und Willi Seifert diese simultan in den PC tippt. Boie Hansen schaltet den Drucker ein und legt wenig später die beiden ausgedruckten Blätter El-Karim und Mansour zur Unterschrift vor.

»Und Sie sind sich absolut sicher, dass es sich dabei um eine Entführung handelt?«, fragt Willi Seifert erneut.

»Absolut sicher, Herr Polizeimeister! Wir haben Amina sehr streng erzogen. Sie würde niemals freiwillig in ein fremdes Auto steigen!« Jalil El-Karim schaut kurz über das Protokoll und unterschreibt schließlich.

»Ich meine ja nur, der Zeuge hier, Herr Mansour, hat doch erzählt, dass Amina beim Einsteigen kein Kopftuch trug, was für sie ungewöhnlich ist. Könnte es deshalb nicht doch sein, dass …?«

»Vollkommen ausgeschlossen, so etwas tut meine Tochter nicht!«, lautet die radikale Erwiderung des empörten Vaters.

Der inzwischen aus der Zelle entlassene Walid will etwas sagen, ein wütender Blick des Vaters gebietet ihm jedoch zu schweigen.

»Und über den schwarzen Bus können Sie wirklich keine näheren Angaben machen, Herr Mansour? Automarke, polizeiliches Kennzeichen, irgendwelche Aufschriften? Haben Sie vielleicht den Fahrer gesehen oder gar erkannt? Denken Sie bitte nach, es ist wichtig!«, insistiert Boie Hansen.

Mansour verneint. Inzwischen hat auch er das Protokoll unterschrieben. »Tut mir wirklich leid, ich habe das wohl wahrgenommen, aber in diesem Moment nicht überlegt, was es bedeuten könnte. Erst später, als ich den Grund für Walids wütendes Verhalten erfuhr, habe ich über die Bedeutung meiner Beobachtung nachgedacht und meinem Freund El-Karim davon erzählt.«

»Gut, dann gebe ich eben die Fahndung nach Amina mit dem wenigen, was wir haben, durch! Hoffen wir, dass all dies nur ein Missverständnis ist und Ihre Tochter bald wieder zu Ihnen zurückkommt, Herr El-Karim! Sollte dies der Fall sein, dann melden Sie es uns bitte sofort!« Boie Hansen steht auf, die Besucher tun es ihm gleich.

»Dann gute Nacht, meine Herren! Wir machen für heute Ladenschluss!«

3. Ein frohes Wiedersehen

Hallo, liebes Tagebuch! Dann wollen wir mal wieder! Jetzt, wo ich endlich von der Reise zurückgekehrt bin, muss ich unbedingt die Ereignisse der letzten Tage nachtragen. Wir waren zuletzt abends immer spät im Hotel und ich selbst viel zu müde, um noch zu schreiben.

Nili nimmt sich heute erneut ihr Tagebuch vor, in dem sie die wichtigsten und interessantesten Fälle festhält. Sie tut es damit ihrer Abuelita (Oma) Clarissa gleich, die schon seit früher Jugend die bedeutenden und intimsten Gedanken ihren Tagebüchern anvertraute und gelegentlich Tochter und Enkelin auch daraus vorliest. Nili erfährt dadurch immer wieder interessante Begebenheiten aus ihrer Familiengeschichte und von den ereignisreichen Tagen der Flucht der Großeltern Heiko und Clarissa, ihrer Mutter Lissy und ihrem Onkel Oliver aus Nazi-Deutschland sowie aus ihrem langjährigen bolivianischen Exil. In ihrem ersten Gymnasialjahr in Hamburg begann sie mit den Einträgen und hielt in unregelmäßigen Abständen alle jene Erlebnisse handschriftlich fest, die ihr bedeutend erschienen. Nach Antritt ihrer polizeilichen Karriere in Hamburg und anlässlich des jähen Endes einer Liebschaft unterbrach sie die Gewohnheit für längere Zeit und begann erst Jahre später, bereits zur Kriminaloberkommissarin befördert und nach Oldenmoor zurückgekehrt, erneut mit dem Schreiben. Heute aber tippt sie ihre Aufzeichnungen auf dem Laptop und speichert diese Berichte auf einer separaten, nur für sie selbst bestimmten Festplatte.

 

Also, der Reihe nach: Mein Team hat einen (alten!) neuen Fall zu bearbeiten, den aufsehenerregenden Glückstädter Doppelmord vor etwa eineinhalb Jahren. Ich kann mich an die furchtbare Tat erinnern, denn ich war zu jener Zeit noch im benachbarten Oldenmoor als Kriminaloberkommissarin tätig. Allerdings hatten wir nicht direkt mit dem Fall zu tun, denn der wurde von der Bezirkskriminalinspektion in Itzehoe bearbeitet. Deren damaligen Leiter, Kriminaloberrat Thumann, habe ich nur flüchtig gekannt, Staatsanwalt Pepperkorn lernte ich dagegen zusammen mit dem heutigen Bezirksleiter, Kriminaloberrat Heinrich Stöver (von seinen Mitarbeitern hinter dem Rücken ›Hein Gröhl‹ genannt) erst Monate später anlässlich des Mordfalls an den beiden Frauen im verbrannten Bauernhaus10 kennen. Beim Durcharbeiten der sehr umfangreichen Akte haben wir bezüglich der damaligen Ermittlungen einige Lücken festgestellt, denen wir jetzt nachgehen müssen. Eine davon betrifft den mysteriösen Renault mit belgischem Kennzeichen, in dem die Leichen gefunden wurden. Unklar ist nach wie vor, wie und von wem dieses Fahrzeug zum Fundort gebracht wurde. Das wollten wir nun nachholen und im belgischen Grenzort Bütgenbach, wo dieses Fahrzeug angeblich gestohlen worden war, herausfinden.

Wie verabredet holte ich meine Mitarbeiterin, Kriminalkommissarin Margrit Förster, in ihrer Wohnung in Kiel-Ellerbek kurz nach sieben Uhr morgens ab. Margrit ließ sich Anfang dieses Jahres von Hamburg zu uns versetzen, um hier für ihre an MS erkrankte Mutter zu sorgen. Während Margrits Abwesenheit kümmert sich eine Nachbarin um die kranke Frau. Sie ist eine pensionierte Altenpflegerin.

Da ich nicht so gern auf der meist durch den Berufsverkehr verstopften Autobahn A 7 fahre, programmierten wir auf dem Navi eine alternative Route für unsere Fahrt nach Belgien, die uns hauptsächlich über Bundesstraßen führte. Wir befanden uns bereits kurz vor Itzehoe – wir wollten die Elbe mit der Fähre von Glückstadt nach Wischhafen überqueren –, als uns ein Anruf meines Waldi erreichte: Es habe in Oldenmoor gestern Abend eine Vermisstenmeldung gegeben. Ein Zeuge habe beobachtet, wie eine ihm bekannte Siebzehnjährige namens Amina El-Karim in einen fremden Wagen eingestiegen sei. Seitdem fehle von ihr jedes Lebenszeichen. Waldi meinte, wir sollten auf unserem Weg kurz in Oldenmoor Station machen und bei meinem ehemaligen Kollegen, dem Dienststellenleiter Polizeihauptkommissar Boie Hansen, nähere Informationen einholen.

Ich rief sofort zu Hause in unserem Onkel Suhls Haus an und kündigte meiner erfreuten Abuelita unser baldiges Eintreffen zum zweiten Frühstück an.

Wir wurden wie immer von meinen Kollegen der Dienststelle sehr herzlich begrüßt. Es war zudem ein freudiges Wiedersehen mit meinem ehemaligen Mitstreiter KOK Willi Seifert (sein Begrüßungskommentar – »Typisch Nili! Sie muss wohl mit ihrer berühmten Spürnase mal wieder gerochen haben, dass es bei uns etwas Brisantes zu ermitteln gibt!« – hat mir großen Spaß bereitet).

PHK Boie Hansen berichtete ausführlich von den gestrigen Ereignissen um das mysteriöse Verschwinden der siebzehnjährigen Amina El-Karim und dem furiosen Aufstand ihres jüngeren Bruders in der Wohnung ihres Klassenfreundes. Viel Neues konnten sie uns allerdings in der Dienststelle nicht erzählen, da inzwischen die Staatsanwaltschaft und Kollegen der Bezirkskriminalinspektion in der Großen Paaschburg in Itzehoe die Ermittlungen übernommen hatten und emsig nach der Vermissten suchten. Nachdem ich den Kollegen versprochen hatte, dass wir uns auf der Rückfahrt von Belgien wieder bei ihnen melden würden, fuhren wir weiter zum Onkel Suhls Haus. Abuelita und meine Ima begrüßten uns herzlichst; sie hatten Margrit ja bereits vor Kurzem kennengelernt, als wir alle gemeinsam im famosen ›Barockengel‹ des Kollegen Ferdl nach Kiel fuhren. Ich war etwas verwundert, meine Mutter im Hause anzutreffen, da sie üblicherweise um diese Zeit auf ihrem Geflügelhof beschäftigt ist. Abuelita hatte Ima sofort über meinen Anruf informiert und sie ließ es sich nicht nehmen, mich hier zu begrüßen. Es ist wirklich sehr berührend, dass wir drei uns derart gut verstehen und lieben und uns immer wieder über jede Stunde freuen, die wir miteinander verbringen können. Ima Lissy erzählte zu meiner riesigen Freude, dass sie gestern Abend durch den Anruf unserer Rechtsanwältin Kitt Harmsen erfahren habe, dass unsere Schutzbefohlene Habiba in der nächsten Woche endlich aus dem Jugendgefängnis in Schleswig entlassen werde, von wo sie sie selbst abhole. Ich sagte, ich würde sie gern begleiten, wisse aber noch nicht, ob ich zu diesem Termin freibekäme, wir haben ja im Moment alle Hände voll mit unseren zwei gleichermaßen brisanten Fällen zu tun!

Wir genossen die krossen und sehr aromatisch duftenden Huminta-Maiskuchenstücke mit Weißkäse, die Abuelita diesmal – mangels der Kolbenschalen, in denen die Teigportionen typischerweise eingewickelt und gebacken werden – direkt auf dem Blech in das Rohr geschoben hatte.11 Beim Essen kam natürlich der Grund unserer Spritztour nach Belgien zur Sprache. Auch meine Mutter und meine Großmutter konnten sich noch gut an den aufsehenerregenden Fall der beiden im Auto am Parkplatz der Elbfähre vorgefundenen Leichen entsinnen. Meine Ima bemerkte sogar, sie habe einmal ihren VW Taro in die Wewelsflether Werkstatt des Verstorbenen zum Service gebracht, weil die Vertragswerkstatt ihr hierfür keinen raschen Termin geben konnte. Sie hatte deshalb den Mechaniker Uwe Wilkens in guter Erinnerung und seinen gewaltsamen Tod sehr bedauert. Auch an die tüchtige und aparte Serviererin Saadet konnten wir uns alle ziemlich gut erinnern, waren wir doch mehrmals von ihr im Glückstädter Gasthof bedient worden.

Abuelita packte uns einige der Humintas in eine Plastikdose und gab uns eine große Thermosflasche ihres starken schwarzen Tees mit Minze mit auf dem Weg. Während Margrit unseren X3 in Richtung Fähre steuerte, simste ich meinen ziemlich mageren Bericht an Waldi nach Kiel.

Als wir Glückstadt auf der B 495 erreichten, stießen wir auf eine sehr lange, vorwiegend aus Lkws und Campern bestehende Wartekolonne. Ich befestigte kurzerhand das Blaulicht auf dem Dach unseres BMW und Margrit gab kurze Zeichen mit dem Martinshorn, als wir an der Kolonne vorbeifuhren. Ohne Wartezeit kamen wir daher gerade noch als letztes Fahrzeug auf die Fähre, die danach sofort ablegte. Nach einer halben Stunde hatten wir den Wischhafener Anleger erreicht und fuhren mit der ersten Pkw-Kolonne von der Fähre. Unsere weitere Reiseroute führte uns durch die Weser- und Emstunnel. Von da an fuhren wir auf der Autobahn über Oberhausen, Duisburg und Euskirchen.

Wir wechselten uns alle zwei Stunden am Steuer ab und stärkten uns zwischendurch an den Huminta-Häppchen und dem heißen schwarzen Tee. Dank des bei Bedarf gelegentlichen Einsatzes von Blaulicht und Martinshorn kamen wir flott voran. Über weitere Bundestraßen gelangten wir bis zum belgischen Grenzübergang Büllingen/Malmedy. Von dort aus führte uns die Route Nationale N632 bis ins Zentrum von Bütgenbach, eine Gemeinde mit etwa sechseinhalbtausend Einwohnern in der belgischen Provinz Lüttich. Neben dem französischsprachigen Wallonien und dem flämischen Flandern gehört sie zu den deutschsprachigen Regionen des Königreiches. Am Marktplatz fanden wir die Polizeidirektion des Ortes, wo uns der mir bestens bekannte belgische Polizeikommissar Klaus Stuckert bereits angemeldet hatte. Wir wurden dort vom Inspektionsleiter Commissaire de Police Raymond Lejoly sehr freundlich empfangen. Ich übergab ihm sogleich den Smith-&-Wesson-Revolver, die Tatwaffe, mit der Uwe Wilkens erschossen worden war. Er versprach, sich um die Identifizierung gleich am nächsten Morgen zu bemühen. Da es bereits nach achtzehn Uhr war, begleitete er uns persönlich im X3 über den Marktplatz zum Parking des für uns gebuchten Quartiers, den Bütgenbacher Hof. Riesengroß war die Überraschung, als wir beim Betreten der Rezeption plötzlich mit einem ohrenbetäubenden Ruf begrüßt wurden: »Pura vida, Nili! Bienvenida en Bélgica!« Dann lagen Javier Espinoza und ich uns in den Armen. Wie schön war es, meinen guten Freund und ehemaligen Mitstreiter, inzwischen zum Polizeikommissar-Anwärter befördert, wiederzusehen, genauso wie ich mich freute, seinen typischen ur-costa-ricanischen Willkommensgruß zu hören. Er war in Begleitung eines seiner neuen Kollegen, ein sympathischer und jüngerer, mir bisher nicht bekannter Inspecteur de Police namens Piter Van der Waale. Nachdem ich den beiden Margrit vorgestellt hatte, gab uns der Herr Inspektionsleiter Lejoly persönlich die Ehre, indem er uns ins noble Restaurant des Hotels hinüberführte, wo man uns mit einem üppigen und reichhaltigen Abendmahl verwöhnte.

Als Lejoly – der übrigens ebenso fließend Deutsch wie Flämisch und Französisch spricht – sich nach dem Essen verabschiedete, verbrachten wir vier noch sehr angeregte Klönstunden in der Hotelbar. Margrit und Piter verstanden sich offensichtlich sehr gut, sodass Javier und ich uns ausführlich auf Spanisch unterhalten konnten. Conchita, seine damalige Freundin, und er hatten vor zwei Monaten flugs geheiratet, als sich unerwartet Nachwuchs anmeldete. Mit einem breiten Lächeln eröffnete er mir, dass es wohl ein Mädchen werden würde. Conchita und er seien sich einig, dass das Kind auf den Namen Nili Maria getauft werden sollte und ich schon deshalb unbedingt ihre Taufpatin sein müsse. Dies berührte mich sehr und ich gab ihm gern meine Zustimmung, bemerkte allerdings, dass ich trotz meiner jüdischen Herkunft aus innerer Überzeugung keiner Konfession angehöre. Er meinte, ich brauche mir deswegen keine Sorgen zu machen, er würde das mit seinem Pfarrer schon regeln. Auch sein Teampartner und Freund Arne Svensen und dessen Frau Sybille hatten vor Kurzem einen Sohn bekommen. Übrigens solle er mich von allen, angefangen von seinem Chef Robbe van Dongen und dessen Frau Mareijke, herzlich grüßen. Es war schon fast Mitternacht, als Margrit und ich uns in unsere Zimmer zurückzogen.

Ich schlief noch sehr tief, als mein Wecker mich gnadenlos um sechs Uhr morgens aus einem beklemmenden Traum herausriss: Ich befand mich gerade mit Javier und Conchita im Baptisterium, in dem die kleine Nili Maria getauft werden sollte. Der katholische Patre aber machte eine abwehrende Geste und wies mich bitter schimpfend aus der Kirche: »Fuera de aquí, tu eres una judía!«12 Ich erwachte in dem Moment, als ich gerade die Antwort – »Hast du denn vergessen, das Jesus auch Jude war?« – auf der Zunge hatte. Es ist doch eigenartig, dass, obwohl ich mich bewusst für ein absolut religionsloses Dasein entschieden habe, dieses Zugehörigkeitsgefühl zu meinem Geburtsort niemals ganz aus meinem Unbewussten verschwindet! Ich zog rasch meinen Trainingsanzug an und joggte eine ganze Stunde lang durch das nette Städtchen. Danach duschte ich ausgiebig und saß mit Margrit um halb acht am Frühstückstisch. Pünktlich um acht erschienen Javier und Piter in Begleitung eines Polizeiinspektor-Anwärters des hiesigen Kommissariats, der sich uns kurz als Nicolaas Lindemans vorstellte.

Der Flame war een beeten droogg 13 , wie uns Piter später im Vertrauen leise zusteckte, und ziemlich wortkarg dazu. Der langgediente Unteroffizier der ehemaligen Gendarmerie war durch die Reform der belgischen Polizeikräfte zu dieser neuen Rangbezeichnung gekommen und hatte damals die Suche nach dem besagten Renault Mégane durchgeführt. Offensichtlich war er nun ziemlich gekränkt, dass man Zweifel am Ergebnis seiner Ermittlungen hegte. Ich konnte gut nachvollziehen, welche Gedanken ihn quälten: Was sollte das überhaupt? Da kämen plötzlich nach so langer Zeit zwei Polizistinnen aus Deutschland angereist, um all das nochmals zu untersuchen, was er bereits bewiesen hatte. Ich versuchte, so gut ich es vermochte, ihm unser Kommen dahin gehend zu erklären, dass wir gezielt auf der Suche nach jener Person waren, die vermutlich sowohl den besagten Wagen hier gestohlen als auch später die beiden Leichen in demselben deponiert hatte. Unter seiner Wegweisung fuhren wir gemeinsam in unserem BMW zum Autohaus Stolzen, dem Renault-Händler, bei dem der Mégane entwendet worden war. Der Inhaber, Mijnheer Jacques Stolzen, sei noch nicht im Hause, teilte uns der Verkaufsleiter Christophe Junker mit, er habe aber von diesem Anweisung erhalten, uns mit Auskünften zu dienen. Er legte uns die Verkaufsakte vor, in der dieser Pkw detailliert beschrieben war:

 

Renault Mégane I, Eco 1.4; Limousine, Farbe Blau Metallic; Benziner, 101 PS; Baujahr 1998; Kilometerstand: 196.208; Klimaanlage; Alufelgen. Leichte Dellen und Lackkratzer sowie etwas Rost an den Radkästen. Der Verkaufspreis war mit 1.200 Euro angegeben. Der Pkw war hier nicht polizeilich angemeldet gewesen. Ein Eintrag in der Akte erschien mir besonders brisant: Mijnheer Stolzen hatte diesen Wagen am 7. Juni vor zwei Jahren einem deutschen Autohändler namens Uwe Wilkens aus Wewelsfleth für 680 € abgekauft! Der Verkäufer hatte das Auto persönlich hier abgeliefert und den Betrag gemäß beiliegender Quittung in bar kassiert. Margrit und ich blickten uns völlig verwundert an: Uwe Wilkens wurde in genau dem Wagen tot aufgefunden, den er kurz zuvor hier eigenhändig übereignet hatte! Welch ein seltsames Schicksal! Leider befand sich kein deutscher Kraftfahrzeugbrief in der Akte, aus dem man weitere Details, vor allem über den Vorbesitzer, hätte erfahren können. Ich rief sofort Ferdl im Büro an und bat ihn, mithilfe der Fahrzeugnummer beim Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg nach dem möglichen Halter des Wagens zu fahnden, denn das Fahrzeug müsste ja vor dem Verkauf nach Belgien bei uns angemeldet gewesen sein.

Das Datum, an dem der Diebstahl entdeckt worden war, ist in der Akte mit dem 17. Oktober vor zwei Jahren angegeben. Junker wies allerdings darauf hin, dass das reale Datum der Entwendung auch schon früher gewesen sein könnte, denn besagtes Auto befand sich an einer Seite des Hauptgebäudes mitten im Pulk der billigeren Angebote, und diese Fahrzeuge wurden damals nicht besonders überwacht. Die wegen des Diebstals installierte Videoüberwachung des gesamten Areals sei erst zwei Monate danach in Betrieb genommen worden. Margrit checkte unsere Akte und bemerkte, dass darin der von der Itzehoer Spusi festgestellte Kilometerstand mit 196.293 vermerkt sei. Wie konnte es sein, dass der Mégane seit seiner Entwendung in Bütgenbach lediglich 95 Kilometer bis nach Glückstadt gefahren wurde? Wir hatten doch gestern für diese Strecke über sechshundert Kilometer gebraucht! Javiers prompter Einwurf, der Dieb müsse ihn auf einem Anhänger transportiert haben, klang einleuchtend. Ich bemerkte in der Akte des Händlers eine Liste mit handgeschriebenen Namen und Anschriften. Ich sah mir diese näher an und fragte Herrn Junker, ob es die Liste der Kaufinteressenten sei. Als er bejahte, fotografierte ich sie mit seiner Erlaubnis mit meinem alten ›Dampfhandy‹ (ich konnte mich immer noch nicht für ein zeitgemäßes Smartphone entscheiden, das Hin-und-her-Geschiebe mit dem Finger auf dem Display ist mir einfach zu blöd!). Dann fragte ich Herrn Junker, ob sich womöglich jemand von seinen deutschen Kollegen für den Wagen interessiert habe. Junker aber konnte sich nach so langer Zeit nicht mehr an diesbezügliche Details erinnern. Wenn es so gewesen sei, müsse ein solcher ebenfalls auf der Liste der Interessenten aufgeführt sein. Ein kurzer Blick darauf ergab, dass dies offensichtlich nicht der Fall war. Die wenigen, die sich für die alte Karre interessiert hatten, waren dem Namen nach Polen, Ukrainer oder Nordafrikaner. Als ich ihn darum bat, willigte der nette Herr Junker freundlicherweise ein, die gesamte Akte für uns zu kopieren. Ich bot an, diese später abzuholen, aber er sagte entgegenkommend, er müsse heute Nachmittag sowieso in die Stadt und würde sie für mich bei der Polizei deponieren. Wir dankten dem Verkaufsleiter für seine bereitwillige Hilfestellung und fuhren zurück in die Inspection de Police am Markt. Javier hatte eine zündende Idee, als er während der Fahrt dem Kollegen Lindemans vorschlug, die Anmelderegister sämtlicher Hotels in Bütgenbach und Umgebung nach deutschen Gästenamen, die in der Zeit um den 7. Juni und den 17. Oktober vor zwei Jahren hier übernachtet hätten, zu durchforsten. Dieser war inzwischen ein wenig lockerer geworden, als er einsah, dass wir durch den erneuten Besuch beim Händler doch auf neue und sehr interessante Indizien gestoßen waren. Er meinte, er würde sich gleich nach dem Mittagessen zusammen mit seinem Mitarbeiter, dem Agent de Police Charles Seervais, ans Werk machen. Javier schlug vor, dass auch er und Piter mitmachen würden und die vier sich für die Suche in etwa einem Dutzend der infrage kommenden Beherbergungsbetriebe aufteilen könnten. Der Inspecteur Principale de Police Stefan Breitkopf, stellvertretender Inspektionsleiter, informierte uns, dass sein Chef Mijnheer Lejoly zur föderalen Polizeizentrale nach Vottem bei Lüttich gefahren sei, um sich persönlich um die Identifizierung des Smith-&-Wesson-Revolvers zu kümmern. Man habe ihm bereits einen ersten wichtigen Hinweis über eine mögliche Herkunft der Waffe mitgeteilt und Lejoly wolle diese Spur mit Druck persönlich verfolgen. Zum Lunch gingen wir in eine typische Frietkraam, wie man in Belgien die Frittenbuden bezeichnet, mit dem Namen Le Pub, wo neben den traditionsgemäßen Pommes mit Mayonnaise ebenso leckere Burger auf der Speisekarte stehen. Dazu gab es ein lokales Muss: einen randvollen Humpen eines süffigen belgischen Bieres. Während die vier Kollegen sich auf die Pirsch nach eventuellen deutschen Besuchernamen in die Hotels der Umgebung aufmachten, studierten Margrit und ich nochmals die Kopien aus der Firmenakte, die Verkaufsleiter Junker inzwischen ins Kommissariat gebracht hatte. Wir nutzten die Zeit, um einen umfassenden Bericht über die neuen Erkenntnisse zu tippen, die wir den Daten unserer eigenen Akte gegenüberstellten. Dann mailten wir das Ganze als PDF-Anhang an Staatsanwalt Pepperkorn mit Kopien an Waldi und unser Büro. Als wir damit fertig waren, erschien Mijnheer Inspecteur Lejoly und legte uns die Tatwaffe sowie einen ausführlichen Ballistikbericht der Police Fédérale á Liège (Lüttich) vor. Anhand der Waffennummer und mittels eines damit abgeschossenen Projektils hatte die dortige Kriminaltechnik die Herkunft des Revolvers eindeutig identifiziert: Sie gehörte ursprünglich einem ehemaligen Kolonialbeamten im belgischen Congo, das 1960 unabhängig wurde. Die Waffe (Revolver Modell K-22-LR 18-3 – Combat Masterpiece; Hersteller: Smith & Wesson, USA, Seriennummer 55K22MPLR8976, Baujahr 1955) wurde 1962 auf einen der Söhne des Beamtenehepaars Van der Velde überschrieben, als dieser sich mit seinen Eltern in der Stadt Gent niederließ. Dieser Gaston Van der Velde meldete die Waffe im Jahre 1999 nach einem Einbruch in sein Haus als gestohlen. Sie trat erneut in Erscheinung, als im Juni 2002 ein Wachmann der Banque Nationále de Belqique in deren Filiale in Hasselt bei einem bewaffneten Überfall mit dieser mehrfach angeschossen und schwer verwundet wurde. Der Täter wurde zwar einige Wochen später gefasst, der Revolver galt aber seitdem als verschollen. Ich setzte eine Mail an Ferdl in Kiel mit diesen Daten ab und bat ihn, mal im Darknet nach der Waffe zu surfen. Es ist ja bekannt, dass inzwischen viele Täter sich dieser obskuren Quelle bedienen, um unbekannt an eine Mordwaffe zu gelangen.

Inzwischen war Javier von der Erkundungstour als Erster wieder zurück, allerdings ohne positives Ergebnis. Wir sahen uns gemeinsam den ballistischen Bericht noch einmal genauer an. Ich fragte, ob man vielleicht irgendwo den Namen des Schützen erfahren könne. Javier überlegte kurz und bat Lejoly um Erlaubnis, einen seiner Computer benutzen zu dürfen. Er ging auf die Suche nach der Akte des damaligen Banküberfalls. Als er fündig wurde, rief er Margrit und mich aufgeregt an den Bildschirm. Erstaunt jubelte er auf Spanisch: »Pura vida! Unglaublich, Nili, wie konntest du das ahnen?« Dabei zeigte er auf den Namen eines der drei bewaffneten Täter, die die Filiale gestürmt hatten: Mohammad ibn-Seif, ein damals fünfzigjähriger Marokkaner, als berufslos und im Brüsseler Bezirk Molenbeek wohnhaft eingetragen, war derjenige, der den Wachmann lebensgefährlich angeschossen hatte. Er war dafür zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt worden, hatte seine Strafe abgesessen und war inzwischen entlassen worden. »Ihr werdet es kaum glauben«, sagte Javier jetzt auf Englisch, »aber ich fand zufälligerweise genau diesen Namen – und sogar zwei Mal – auf der Gästeliste des Hotels Bergerac, etwa zwei Kilometer außerhalb der Stadt. Ich habe dem natürlich keine besondere Beachtung geschenkt, suchten wir doch nach deutschen Namen. Aber jetzt erkannte ich diesen sofort wieder!«

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