Das qualitative Interview

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Auf inhaltlicher Ebene holt man in den Gesprächen Informationen über die Selbstbeschreibung des sozialen Systems ein und versucht Wege zu bestimmen, wie man sich jenes Wissen aneignen kann, das für ein Verständnis des Systems nötig ist.

[24]Diese Phase ist abgeschlossen, wenn man den weiteren Zugang für die Analyse geregelt hat und über eine grobe Vorstellung über die Struktur des sozialen Systems verfügt. Bereits in diesem Schritt erfolgen die ersten grundlegenden Analysen der in den Einstiegsgesprächen gewonnenen Materialien, um den Übergang in die Hauptforschungsphase systematisch planen zu können.

c)Die zyklische Hauptforschungsphase

In der dritten Phase erfolgt der intensive, nunmehr explizit zirkulär angelegte Forschungsprozess. Die einzelnen Forschungszyklen verkörpern hierbei den Kerngedanken qualitativer Sozialforschung und treiben die inhaltliche und methodische Entwicklung des Forschungsprozesses voran. Das Grundprinzip ist, die Organisierung der Forschung möglichst mit den Strukturierungsleistungen des Feldes zu verkoppeln, um sich zumindest temporär und partiell der Logik des Feldes auszusetzen. Gleichzeitig erfordert die Auslegung des Materials immer wieder ein Zurücktreten hinter die eigenen Erfahrungen und die distanzierte Analyse des gesamten Forschungshandelns. Die Basiskomponenten dieser Phase reflektieren besonders deutlich die zentralen Elemente interpretativer Sozialforschung und die methodologischen Basisüberlegungen, nämlich (a) das unentwegte Ineinandergreifen von Erhebung und Interpretation; (b) die permanente Reflexion des Forschungsstandes auf inhaltlicher und methodischer Ebene; (c) die Abgrenzung von klaren Lehrbuchmethoden zugunsten einer flexiblen und variablen Gestaltung der Erhebungs- und Interpretationsverfahren; (d) die kontinuierliche sorgfältige Überprüfung und Modifikation der vorläufigen Ergebnisse; (e) die laufende Erstellung von vorläufigen Teilanalysen.

Die Dynamik des Forschungsprozesses wird gleichsam entlang der kontinuierlichen inhaltlichen Entwicklung der Erkenntnisse über das soziale System und die während der Forschungsarbeit gesammelten methodischen Erfahrungen angetrieben. Dieser Entwicklungsprozess wird unterstützt durch aufbauende, aber dennoch voneinander relativ getrennte Analysezyklen, auf deren Basis über die methodische und inhaltliche Reorganisierung und Modifikation des jeweils nächsten Zyklus entschieden wird. Jeder Analysezyklus setzt sich hierbei aus Erhebungen, Interpretationen, die Prüfung der bisherigen Vermutungen (u. a. Kontrollinterpretationen durch andere Interpret*innen, Anwendung anderer Methoden; siehe Kap. 6) und die Bündelung der gewonnenen Erkenntnisse in Zwischenresümees zusammen. Die vorläufigen Ergebnisse helfen bei der systematischen und theoretischen Aufarbeitung des Wissens über das soziale System, unterstützen die methodische Kontrolle des Forschungsprozesses und die kritische Diskussion im Forschungsteam.

In jedem Zyklus wird nur wenig Material systematisch analysiert (auch wenn deutlich mehr Material erhoben werden sollte). Das erfordert eine sorgfältige Auswahl des zu interpretierenden Materials aus dem Pool insgesamt verfügbarer Materialien und strategische Entscheidungen über eine möglichst sinnvolle Erhebung. In diesem Prozess übernehmen die Reflexionsphasen zwischen den Ana-[25]lysezyklen eine wichtige Unterbrechungsfunktion: In diesen wird eine inhaltliche und methodische Standortbestimmung durchgeführt, wobei anhand der spezifischen Stärken und Schwächen der eingeschlagenen Forschungsstrategie und der gewählten Verfahren über die weitere Vorgangsweise entschieden wird. Der Reflexionsprozess unterstützt die Entwicklung und Steuerung des Forschungsprozesses, durchleuchtet die Rahmenbedingungen der Forschungsdurchführung (etwa die Wechselwirkung zwischen Forschung und Gegenstandsbereich, teaminterne Kooperationsstrukturen, die Anwendbarkeit von Forschungsverfahren, die Bedeutung von externen und internen Erwartungshaltungen) und fördert den kontrollierten Aufbau von Wissensstrukturen bzw. theoretischer Konzeptionen durch immer wieder zu etablierende gewissenhafte Prüfverfahren.

Dem theoretischen Sampling (vgl. Glaser/Strauss 2010: 61ff.) kommt hierbei als Auswahlstrategie für das neu einzubeziehende Material eine Schlüsselstellung zu. Im Rahmen des theoretischen Samplings wird die Durchführung und die Interpretation von Gesprächen (bzw. die Erhebung und Interpretation anderer Materialien) von zwei Entscheidungsprinzipien geleitet:

•Das erste Prinzip besagt, dass man Materialien erheben bzw. analysieren sollte, die mit hoher Wahrscheinlichkeit geeignet sind, die bisherigen Annahmen zu widerlegen. Insofern begibt man sich auf die Suche nach Gesprächspartner*innen, die mutmaßlich entweder konträre Positionen vertreten oder ‚Grenzfälle‘ des sozialen Systems markieren. Diese Inklusion auf der Basis maximaler struktureller Variation bestimmt die Reichweite und Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse und klärt die Grenzen und Spezifika einer theoretisierenden Argumentation.

•Das zweite Prinzip besagt, dass man Materialien der Analyse verfügbar machen sollte, die mit hoher Wahrscheinlichkeit die bisherigen Ergebnisse bestätigen. Mit dieser Strategie begibt man sich auf die Suche nach vergleichbaren Fällen und spricht mit Personen, deren Aussagen vermutlich zu ähnlichen Analyseergebnissen führen. Diese Inklusion auf der Basis der Unterschiedsminimierung dient der Prüfung bisheriger Annahmen. Dadurch versucht man Unschärfen der theoretisierenden Argumentation aufzuspüren, indem man genau jenen Bereich fokussiert, der mit den bisherigen Analysen bereits abgedeckt sein müsste. Identifiziert man dabei neue oder widersprüchliche Erkenntnisse, so deutet dies auf Probleme der Theoriekonstruktion hin, was eine genauere Erforschung spezifischer Teilbereiche bzw. die Modifikation der Ergebnisse erzwingt.

Dieser schrittweise Einbezug neuer Materialien in die Analyse wird so lange fortgesetzt, bis sich die Interpretationen stabilisieren und weitergehende Analysen (nach dem Prinzip der maximalen Variation) keine neuen Erkenntnisse mehr bringen. Unter dieser Bedingung bezeichnet man die gewonnene theoretische Argumentation als gesättigt. Ab diesem Zeitpunkt würde der Aufwand [26]weiterer Analysen den daraus zu ziehenden Erkenntnisgewinn beträchtlich übersteigen.

Für die Analyse mittels Forschungsgespräche bedeutet dies, sich zumindest am Ende eines jeden Analysezyklus mit folgenden Fragen zu befassen:

•Welche Erkenntnisse hat man bisher gewonnen und welche Lücken oder Unklarheiten lassen sich identifizieren?

•Welche Strategien in der Auswahl der Gesprächspartner*innen eignen sich zur Beseitigung dieser identifizierten Analysedefizite?

•Welche Modifikationen in der Gesprächsführung sind dafür erforderlich?

•Inwiefern könnte die Art der Gesprächsführung die spezifischen Ergebnisse beeinflusst haben und wie lassen sich daraus resultierende mögliche Einseitigkeiten beseitigen?

•Sind außer der Gesprächsanalyse eventuell andere Analyseverfahren zur adäquaten Bearbeitung der Forschungsanforderungen notwendig?

•Sind die Mitglieder des Forschungsteams adäquat eingesetzt und gewährleisten sie sowohl die Anschlussfähigkeit zu den einzelnen Teilbereichen des untersuchten sozialen Systems als auch die Sicherung der Interpretationsqualität oder sind Umstrukturierungen im Team erforderlich?

d)Die Ergebnisdarstellung

Ohne Kommunikation der Erkenntnis leistet auch die brillanteste Untersuchung weder einen Beitrag zur Wissenschaft noch einen zur gesellschaftlichen Entwicklung. Sozialwissenschaftliche Forschung muss daher anschlussfähig zu relevanten Bezugskollektiven gehalten werden. Berichte machen Ergebnisse zugänglich und setzen sie dadurch einer kritischen Rezeption aus. Für Forschungsarbeiten sind (neben der Gesellschaft allgemein) Angehörige des konkreten Untersuchungsfeldes (bzw. auch Auftraggeber*innen) und das Wissenschaftssystem primäre Adressat*innen. Speziell Letzteres zeichnet sich durch sein spezifisches (intern differenziertes) Erkenntnisinteresse aus und erhebt besondere Ansprüche an die Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse. Folglich stellt sich hier die Aufgabe, die Thematik, die Vorgangsweise und das erlangte Wissen systematisch zu erläutern und Hinweise zu geben, die künftige Forschungsarbeiten auf ähnlichen Gebieten erleichtern. Das aus dem Produkt erwachsende Verständnis des Untersuchungsbereichs und die Anregung des Wissenschaftssystems sind die substantiellen wissenschaftlichen Leistungen (siehe Abschnitt 6.2). In diesem abschließenden Schritt lassen sich zwar keine Anforderungen an die Durchführung und Analyse von Gesprächen ableiten, jedoch an die Präsentation der aus diesen gewonnenen Erkenntnisse. Dabei sind folgende Fragen zu klären:

•Wer sind die Adressat*innen einer Studie?

•Welche Ergebnisse sind für die Adressat*innen (und nicht nur für das Forschungsteam) von besonderer Bedeutung?

•[27]Welche Informationen über die Forschungsdurchführung sind erforderlich, damit die Adressat*innen den Ergebnissen vertrauen können?

•Welchen Beitrag leistet die durchgeführte Studie für die Adressat*innen und inwiefern konnte die Wissenschaft auf diese Weise vorangetrieben werden?

Der geschilderte Forschungsprozess ist vereinfacht in Abbildung 1 dargestellt.

Abbildung 1: Forschungsprozess


Quelle: Eigene Darstellung

 

Eine solche Vorgangsweise erfordert aufseiten der Forscher*innen eine hohe Ungewissheitstoleranz, weil sie sich vorweg nicht auf alle Eventualitäten einstellen können, keiner durchgehenden detaillierten Planung folgen können und ständig den Anforderungen des Forschungsprozesses entsprechend ihre Vorgangsweise ändern müssen. Folgende Punkte sind deshalb wichtig, weil sie erfahrungsgemäß immer wieder (mit negativen Folgen für die Forschungsqualität) übergangen werden:

•Generell sollte man sich mittels sehr offener Vorgangsweisen das Feld in der inhaltlich und methodisch sinnvollsten Weise erschließen, dagegen Absicherungsstrategien oder stärkere Vorstrukturierungen (wie etwa Interviews mit persönlich bekannten Personen, genaue Leitfäden für die Befragung, zu starke Berücksichtigung der [28]Sichtweise der hierarchischen Spitze eines sozialen Systems) meiden, weil dies blinde Flecken eher verstärkt als überwindet.

•Da gerade der Forschungszugang wichtige Einsichten in die Selbstbeschreibung und das Selbstverständnis sozialer Systeme gewährt, sind bereits die Erstkontakte zu einem sozialen System möglichst umfassend zu dokumentieren und einer besonders sorgfältigen Analyse zu unterziehen. Die ersten Analysen bilden das Fundament für die weitere Arbeit – und dieses Fundament sollte möglichst solide gestaltet werden.

•Die Interpretation des Materials im Rahmen der zyklischen Hauptforschungsphase bildet den Schwerpunkt der Analyse. In den meisten Fällen mangelt es nämlich nicht an Material, sondern an der extensiven Auslegung ausgewählter Materialien und an systematischen Forschungsentscheidungen, die nur eine gewissenhafte Interpretation ermöglicht.

•Für die Analyse sollte man grundsätzlich folgende Regel beherzigen: Langsamer ist schneller und informativer. Weil der Beginn einer Textinterpretation aufgrund der für die Analyse noch unbekannten Gesprächsdynamik die gewagtesten Schlussfolgerungen erzwingt (die den Blick erweitern), ist die erste Interpretationsphase eines Textes besonders gründlich durchzuführen (wobei die Feinstrukturanalysen den Systemanalysen oder Themenanalysen meist vorangehen).

2.2Allgemeine Formen der Gesprächsführung

Die in der Literatur vorfindbaren Verfahren der Interviewführung bzw. die damit verbundenen spezifischen Techniken der Gesprächsführung lassen sich nach einem zentralen Differenzkriterium einordnen, nämlich wer vorrangig die Gesprächssteuerung übernimmt: Einen Pol bilden demnach Gespräche, die eine möglichst umfassende Strukturierung des Redeflusses durch die befragten Personen anstreben, wobei die interviewende Person die Funktion übernimmt, den Redeverlauf zu begleiten. Dies entspricht einer genuin interpretativen Sozialforschung, indem die Forscher*innen sich verstehend an der Logik der Befragten orientieren und durch Provokation von Selektionsleistungen die befragten Personen anregen, sich nach ihren eigenen Relevanzkriterien zu richten. Den anderen Pol bilden jene Gespräche, in denen die interviewende Person die Gesprächssteuerung übernimmt. In diesem Gesprächstypus werden in unterschiedlichem Maße die wichtigsten Vorgaben durch die Forscher*innen definiert (etwa durch einen vorgegebenen Frageraster). In diesem Sinne tendieren solche Gespräche zu einer stärker ausgeprägten Strukturierung bis hin zu Standardisierungen durch die Forscher*innen (im Fall vorformulierter Fragen und vorgegebener Antworten) und nähern sich dadurch den Anforderungen an quantitativ orientierte Forschungsarbeiten an.

Der Unterschied wird deutlich, wenn man die beiden Extrempole jenes Kontinuums darstellt, auf dem sich die unterschiedlichen Formen der Gesprächsführung bewegen. Dabei repräsentieren etwa ethnografische, narrative und qualitative Interviews den genuin qualitativ orientierten Pol, der andere Pol ist am extremsten in [29]einem Fragebogen abgebildet (und spielt daher in der qualitativen Sozialforschung eine marginale Rolle). Leitfadeninterviews wären zwischen den beiden Polen anzusiedeln. Die nachstehende Abbildung 2 streicht die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zwischen beiden Vorgangsweisen heraus.

Genuin qualitativ geführte Gespräche oder Interviews lassen sich nach diesem Schema als solche beschreiben, die sich in einer sehr offenen Weise einer nur grob umrissenen Thematik annähern und den befragten Personen einen sehr weiten Gestaltungsspielraum einräumen. Dadurch rücken Forscher*innen den Blickwinkel ihrer Gesprächspartner*innen in den Vordergrund und erhalten solcherart Hinweise auf deren Verständnis ihrer Lebenswelt. Im Zentrum solcher Gespräche steht die Frage: Was ist für die befragte Person wichtig? Die Forschungsinteressen müssen daher so verpackt werden, dass sie dieser zentralen Frage nicht zuwiderlaufen. Die folgenden Ausführungen befassen sich mit genau diesen qualitativen Forschungsgesprächen.

Abbildung 2: Die beiden Pole des Kontinuums der Gesprächsführung


Quelle: Eigene Darstellung

[30]

2.3Das in Forschungsgesprächen generierte Wissen

Vor dem Hintergrund interpretativer Sozialforschung liegt der Schlüssel zum Verständnis von sozialen Systemen im Verstehen der individuellen und kollektiven Herstellung von Ordnung und somit von Sinn. Im Zentrum stehen kommunikative Prozesse der Generierung von Informationen, die in einen lebensweltlichen Kontext eingebettet sind und zu einer geordneten Wissensstruktur zusammengefügt werden (siehe Abschnitt 7.2). Die Durchführung von Studien sozialer Systeme stützt sich daher auf mehrere Basiskomponenten:

•die Analyse des sozialen Prozesses der Erzeugung von Sinn und die Inhalte dieses dabei generierten Wissens, das in irgendeiner Form stabilisiert und verfügbar gemacht werden muss (soziale Kognition);

•die Erkundung der Folgen dieses Sinngenerierungsprozesses für die Strukturierung kooperativen Handelns in einem sozialen System (kommunikatives Handeln);

•die Untersuchung der in der Entwicklung eines sozialen Systems auftretenden Differenzierungen und Strukturen, wobei die Einheit in dieser Verschiedenheit (Heterogenität und potenzielle Konfliktträchtigkeit) einen wichtigen Bezugspunkt bildet (Systemdynamik).

In Forschungsgesprächen geht es nun darum, diese verschiedenen Komponenten zu erkunden. Der Gesprächsinhalt ist dabei nur eine Komponente, die das Benennbare bzw. das explizit Gewusste anspricht. Die Form des Sprechens und die im Kontext des Gesprächs beobachtbaren Vorgänge geben Auskunft über die beiden letzteren Komponenten, die für das Verständnis sozialer Systeme besonders wichtig sind. Aus diesem Grund ist für die Gesprächsanalyse nicht nur wichtig, was gesagt wird, sondern noch mehr, wie es gesagt wird und warum ein Gesprächsthema auf eine spezifische Weise abgehandelt wird (siehe Abschnitt 4.3).

Befragte Personen gelten im Rahmen von qualitativen Forschungsgesprächen immer als Expert*innen: Sie sind Expert*innen ihrer Lebenswelt, deren lebensweltlicher Wissensvorrat, wie Schütz und Luckmann (1979: 133ff.) meinen, an die Situiertheit biografischer Erfahrungen des Subjekts gebunden ist und der Bewältigung alltäglicher Situationen dient. Um an diese Expertise heranzukommen, muss man mit den Menschen über ihre Erfahrungen und ihre Sicht der Dinge reden. Man kann aber noch weiter gehen, wenn man den Habitus ins Zentrum stellt, der als Wahrnehmungs-, Interpretations- und Handlungsmatrix fungiert und solcherart ein generatives Prinzip der Praxis bildet (vgl. Bourdieu 1979: 169f.; 1987: 103f.). Das Verhalten von Menschen kann sich dieser Vorstellung zufolge ohne direkte Kommunikation aufeinander abstimmen, indem sich die Habitusformen von Menschen aufgrund ähnlicher Lebensumstände und -bedingungen homogenisieren. Individuelles Handeln ist somit keineswegs rein subjektiv, es ist aber ebenso nicht ausschließlich an objektive Gegebenheiten gebunden, sondern folgt dem in der Lebenspraxis anhand der Erfahrungen gebildeten Alltagsverstand. Wissen ist in den Habitus als strukturiertes Prinzip inkorporiert und wirkt generativ als strukturieren-[31]des Prinzip. Als praktisches Wissen kommt es in Gesprächen weniger in den Inhalten als in der Form des Sprechens und Argumentierens zum Ausdruck.

Die Forschung schreibt den befragten Personen eine Expertise zu, die auf der ungleichen Verteilung von Wissen beruht und als Sedimentierung, Einlagerung und Verfügbarkeit von privilegierter Erfahrung gesehen wird. Dieses Wissen kann auch die Form eines abstrahierenden Wissens externer Spezialist*innen annehmen (etwa von Personen, die sich über Ausbildung, wissenschaftliche Betätigung, Literaturstudium oder distanzierende Betrachtung einen herausgehobenen Wissensstand über ein spezifisches Wissensgebiet – auch unabhängig von praktischen Erfahrungen – angeeignet haben). Dabei kann es sich um Spezialwissen oder um Reflexionswissen handeln.

Allerdings ist im Rahmen einer Studie zu entscheiden, welches Wissen man für das Verständnis des fokussierten sozialen Systems benötigt. Drei Typen von Expertisen, die sich durch eine zunehmend abstrahierende Distanzierung vom praktischen Handlungswissen im Untersuchungsfeld auszeichnen, lassen sich dabei unterscheiden (vgl. Froschauer/Lueger 2009a):

a)Die systeminterne Handlungsexpertise: Das Wissen dieser Gruppe ist vorrangig Erfahrungswissen, das aus der Teilnahme an Aktivitäten im untersuchten System entstammt (Primärerfahrung; z.B. alle Mitarbeiter*innen eines Unternehmens). In der Regel ist es als implizites Wissen in den Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen eingelagert. In der Ausformung darauf aufbauender sozialer Praktiken zeigt sich die soziale Differenzierung in verschiedene Handlungsfelder und deren Zusammenspiel, weshalb diese Expertise für das tiefere Verständnis der Logik des Untersuchungsgegenstandes und zur Produktion neuer Erkenntnis unverzichtbar ist. Das Wissen der feldinternen Expert*innen ist extrem heterogen, weil auf Subjektebene die Sedimentierung von Erfahrungen durch den jeweils spezifischen lebensweltlichen Hintergrund und durch subjektive Relevanzstrukturen bedingt ist (z. B. Sozialisation, Positionierung in einer Organisation, privates Umfeld). Diesen feldinternen Expert*innen der Praxis wird im Forschungszusammenhang deshalb kein Laienstatus zugewiesen, weil nicht deren Alltagswissen relevant ist, sondern ihr Sonderwissen, das für erfolgreiches Handeln in spezifischen Bereichen sozialer Systeme erforderlich ist.

b)Die feldinterne Reflexionsexpertise: Diese Expertise bezieht sich über das Handlungswissen hinaus auf größere Zusammenhänge (Primär- und Sekundärerfahrungen; z. B. Außendienstmitarbeiter*innen als Schnittstelle zwischen Unternehmen und wirtschaftlich relevantem Umfeld, Mitglieder des Betriebsrats als Vermittlungsinstanz, Akteur*innen im unternehmensrelevanten Umfeld). Dieses Wissen entwickelt sich in erster Linie dort, wo Akteur*innen auf die Berücksichtigung der Sichtweisen anderer Personen angewiesen sind und in ihren Interaktionen immer wieder systeminterne und -externe Grenzen überschreiten. Weil Personen mit Reflexionsexpertise an Schnittstellen sozialer Systeme [32]agieren, sind sie meist aufmerksame Beobachter*innen des systemspezifischen Kontextes, weil sie die verschiedenen (auch widersprüchlichen) Anforderungen und Teilperspektiven zu einem Ganzen zusammenfügen müssen. Dieses Wissen ist daher stärker relational geprägt, reflexiver und abstrakter als konkretes Handlungswissen. Explizierbar ist dieses Wissen vor allem, wenn die offizielle Sicht eines sozialen Systems angesprochen ist, es unterliegt aber vielfach Thematisierungsschranken, insbesondere wenn die Person mit widersprüchlichen Interessen oder Erwartungen zwischen den verschiedenen Bereichen konfrontiert ist.

c)Die externe Expertise: Diese Gruppe verfügt über fundiertes theoretisches Wissen über den Gegenstandsbereich, den sie von verschiedenen Seiten und in verschiedensten (intra- und interdisziplinären) Facetten beleuchten kann (z. B. Volkswirt*innen als Expert*innen über die Entwicklung des Arbeitsmarkts in einem Wirtschaftssektor, Organisationssoziolog*innen). Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, dieses Reflexions- und Sonderwissen in die Forschungsarbeit zu integrieren. Im Forschungsprozess kann es zur Planung beitragen, bei der Ausarbeitung spezifischer Kontextannahmen helfen und im Nachhinein als Kontrastmaterial für die Ergebnisse dienen. Externen Expert*innen mit wissenschaftlich abstrahiertem und systematisch produziertem Sonderwissen kommt in interpretativen Analysen sozialer Systeme eine eher randständige Bedeutung zu, weil ihnen vielfach praktisches Erfahrungs- bzw. Handlungswissen abgeht. Eine solche Expertise reproduziert primär das bereits verfügbare Wissen, kann aber das Augenmerk auf interessante und ungeklärte Aspekte richten oder eventuelle blinde Flecken bewusst machen.

 

Mit Forschungsgesprächen lassen sich zwei wichtige Erkenntnisbereiche abdecken: Vordergründig wird der kommunikative Zugang zum Feld gesucht, wobei Beschreibungen und Begründungen als Ausdrucksgestalt für die zugrundeliegenden Selektionsmechanismen des untersuchten Systems dienen. Darüber hinaus werden Mitglieder eines sozialen Systems als feldinterne Expert*innen mit spezifischen Forschungssettings konfrontiert: In diesen müssen sie selbst initiativ werden (z. B. angeregt durch offene Fragen) und demonstrieren ihre spezifischen Handlungskompetenzen als Sonderform der Expertise, indem sie zumindest partiell die Organisierung des Forschungsprozesses übernehmen (siehe das Beispiel in Abschnitt 2.4).

Das in sozialen Systemen gehandhabte Erfahrungswissen ist ein sozial angeeignetes Wissen, das die internen Differenzen zwischen Personengruppen spiegelt. Die Aussagen in Gesprächen repräsentieren folglich die systemspezifische Wissensverteilung, die zugleich Grund und Folge systeminterner Kooperationsbeziehungen und Grenzziehungen ist.

Die bisherigen Ausführungen strichen jene Anforderungen heraus, die bei der Durchführung und Analyse von Expert*innengesprächen in einem interpretativ orientierten Forschungsdesign zur Analyse sozialer Systeme von zentraler Bedeu-[33]tung sind. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass die Aktualisierung der jeweiligen Expertise spezifische verfahrenstechnische Vorkehrungen der Erhebung (z. B. Fokussierung auf spezifische Expertisen) und Interpretation erfordert. Darüber hinaus entfaltet sich die Leistungsfähigkeit von Forschungsgesprächen erst im Kontext einer adäquaten Forschungsorganisierung.

Gespräche nehmen (neben der teilnehmenden Beobachtung) als unmittelbare Kommunikation zwischen Forscher*innen und Personen aus der interessierenden Lebenswelt eine Schlüsselstellung in qualitativen Studien ein. Grundsätzlich kann dieses Gesprächsmaterial drei Funktionen erfüllen:

a)Genaue Deskription eines bestimmten Phänomens (auch im Vorfeld oder in der Folge quantitativer Analysen):

Dies ist wichtig, um ein Phänomen genau abgrenzen und in seiner Vielfalt darstellen zu können. Zudem eignen sich deskriptive Interviews zur Analyse der Vielfalt der Perspektiven bezüglich eines sozialen Phänomens und zur Analyse der spezifischen Arten von Beschreibungen. Insbesondere in der explorativen Forschungsphase sollte dieser Funktion besondere Beachtung geschenkt werden.

b)Die Inspektion eines sozialen Phänomens in seinem Kontext bzw. im Zusammenhang mit anderen Phänomenen, seine Entwicklung, Stabilisierung und Veränderung im Verlauf der Zeit:

Über die Deskription hinaus können hier Faktoren herausgefiltert werden, die zum Verständnis der Struktur und des Prozesses des Phänomens beitragen. Dabei werden die Erklärungsmodelle von Mitgliedern der untersuchten Systeme erkundet und mit den tatsächlichen Operationsweisen des Systems verglichen. Im Zuge dessen lässt sich ergründen, wie bestimmte Ordnungsmuster zustande kommen, sodass die darin auftretenden Phänomene als sinnvoll gelten können, und welche Gründe das System veranlassen, sich so zu organisieren, dass es bleibt, wie es ist. Dieser Materialtyp wird in der vorliegenden Arbeit besonders berücksichtigt und spielt in der Hauptforschungsphase eines Forschungsprozesses eine wichtige Rolle.

c)Die Reflexion bestimmter Thematiken und die Generierung neuer Sichtweisen zu diesen:

Interviews, die solches Material produzieren, werden zumeist in Aktionsforschungen, partizipativer Forschung, Beratungsprojekten oder familientherapeutischen Prozessen zu Interventionszwecken eingesetzt. Dabei greifen Inspektion und Intervention permanent ineinander. Als Sonderform von Gesprächsmaterial bleibt dieser Aspekt hier ausgeklammert, weil er weniger zur Analyse als vielmehr zu Veränderungen in Systemen beiträgt (etwa im Kontext von Beratungsgesprächen). Es sei aber an dieser Stelle auf die ausführlichen theoretischen und praktischen Darstellungen zur rekursiven Informationsschöpfung von Deissler (1986) verwiesen.

[34]Die drei Funktionen gehen stufenweise ineinander über, indem die Inspektion eine beschreibende Verständigung voraussetzt und Reflexion der genauen Untersuchung im Rahmen der Inspektion bedarf. Von der Beschreibung bis zur Reflexion erhöht sich der Komplexitätsgrad von Gesprächen, wobei auch die Anforderungen an die Interpretation höher werden. Im Fall eines deskriptiven Interviews ist noch eine reduktive Zusammenfassung der manifesten Inhalte möglich (etwa eines Expert*innengesprächs; siehe die Themenanalyse in Abschnitt 5.4; oder die Zusammenfassung des manifesten Inhalts, ohne diese zu interpretieren; siehe Abschnitt 5.5). Inspektive und reflexive Gespräche dagegen bedürfen aufwendiger Analyseverfahren (siehe Abschnitte 5.1, 5.2 oder 5.3).