Vom Salz in der Suppe

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Doch wurde das ab dem nächsten frühen Morgen sowieso unwichtig. Denn was wir an diesem Tag vom Morgengrauen bis zum Einbruch der Dunkelheit erlebten, da komme ich heute noch ins Schwärmen. (Und der Name »Sternstunde« ist ja im Buch leider schon vergeben.)

Da ging es vom Saaler Bodden hinter dem Darß, über Koppelstrom, Bodstedter- und Barther Bodden, dem riesigen Grabow in Richtung Rügen. Schließlich zur Linken an der Insel Bock, später der Südspitze von Hiddensee, dem Gellen, vorbei, weiter über den Kubitzer Bodden in den Strelasund hinein bis zunächst Altefähr auf Rügen (gegenüber von Stralsund).

So wie schon beim Müritzsee, so wären auch die Touren über die Boddengewässer einen extra Abschnitt wert. Trotzdem, ein paar besondere »Leckerlis« sollten schon sein.

Bemerkenswert an dieser Etappe, die ganze Tour von der Riesen-Kuhkoppel gegenüber Born bis Altefähr, etwa 65 Kilometer, absolvierten wir ohne einen Paddelschlag, bei idealem Wind nur mit dem Treiber bei anfangs leichten, über den Tag immer stärker wehendem Westwind.

Der östliche Teil des Darß, die Insel Bock und andere kleine Inseln waren schon damals bedeutende Naturschutzgebiete. Wir merkten davon, indem wir dort unversehens plötzlich in einer riesigen Herde von Wildschwänen fuhren. Kein ungefährliches Unterfangen, falls diese gerade Junge führen würden. Da wir nicht paddeln brauchten, ließen wir uns mucksmäuschenstill durch die Herde treiben und waren sowohl begeistert über das Erlebnis, doch auch etwas erleichtert, nachdem wir wieder aus der Herde heraus waren. Die allerdings hatte uns mit absoluter Missachtung gestraft.

An der Südspitze von Hiddensee, wo von der offenen See bereits recht hohe Wellen hereingerollt kamen, erhielten wir Besuch von einem Polizeiboot, die sich vergewissern wollten, dass wir keine »Dummheiten« vorhatten und wirklich nur in Richtung Stralsund wollten.

Später, irgendwo im Kubitzer Bodden, wurde plötzlich die Ostsee so flach, dass wir aussteigen und unser Boot im nur knöcheltiefem Wasser ziehen mussten. Nicht nur ein kurzes Stückchen, nein, es war eine richtige »Wasserwanderung«, diesmal im Wortsinn. Zur Rechten in der Ferne das Festland, zur Linken, auf Grund der Größe des Boddens, die (scheinbar) offene See. Irgendwann wurde das Wasser wieder tiefer, in der Ferne erkannten wir auch die Betonnung der Schiffahrtsrinne wieder und segelten nun bei straffem und immer stärker werdendem Wind und beängstigend hohem Wellengang (und ohne Seitenschwerter!) bis Altefähr, wo uns kurz vorm Ziel bei einer starken Bö sogar noch der Mast brach. Es mutete an, als wolle das Schicksal nach diesem wundervollen Tag noch mal zeigen, dass es auch anders könne. Doch ging bis auf den gebrochenen Mast, den wir später notdürftig reparierten, erstaunlicherweise doch noch alles gut und erschöpft und verbrannt aber glücklich bauten wir abseits vom Zeltplatz (wo sonst)Altefähr unser Zelt.

Ich habe später wiederholt versucht, jene »Wanderstrecke« in der Ostsee exakt zu lokalisieren. Es ist mir nicht zufriedenstellend gelungen, beziehungsweise blieb es immer widersprüchlich.

*

In Altefähr fand ein vorher fest geplanter Mannschaftswechsel statt, der an sich schon einen gewissen Höhepunkt der Reise darstellte. Höhepunkt nicht etwa, weil Uwe, der mir auf der Fahrt ein so toller Kumpel gewesen war, nun am nächsten Tag nach Hause fahren würde. Und zuvor hatte ich mit ihm noch den »Ersatzmann« vom Bahnhof abgeholt. Das Besondere dieses Wechsels bestand darin, dass es sich dabei weder um »Ersatz-« noch um »-mann« handelte, sondern um ein Mädchen (Marlies) unserer Seminargruppe, die später sogar meinen Familiennamen annahm und Mutter meiner zwei Töchter wurde. Doch weil das hier schließlich keine Familiengeschichte, sondern die Beschreibung einer außergewöhnlichen Reise werden soll, wird hier auf die weitere Ausschmückung dieser neuen Situation mit Details verzichtet.

Außer, dass wir versuchten, in den letzten zwei Urlaubswochen, nun in unmittelbarer Tuchfühlung zur Ostsee, noch etwas wie Urlaubsfeeling einzubauen. Soweit das eben unter den gegebenen Umständen ging.

Weiter ging es nun also mit »gemischter Mannschaft« durch den Strelasund südostwärts über die Hauptstationen Greifswalder Bodden, Peenestrom bei Wustrow, Achterwasser von Usedom bis schließlich in die Mündung der Penne bis zur Endstation Anklam. Jener Fluss, wo wir ja Wochen zuvor – damals noch mit Uwe – bei Demmin nach Norden in die Trebel abgebogen waren.

Besonders erwähnenswert auf diesem Abschnitt: Die Überfahrt über den riesigen Greifswalder Bodden. Bei hochsommerlichem Dunst und nahezu völliger Windstille fuhren wir, von der Rügenschen Seite aus kommend (Palmer Ort/​Zudar), etwa eine Viertelstunde ohne Landsicht, ehe im Süden, zwischen Dänischer Wiek und Lubmin, etwa in Richtung des Dorfes Vierow/​Gahlkow, in der Ferne Land auftauchte. Natürlich kann man so etwas im Paddelboot nur bei entsprechend ruhigem Wetter machen und bei normaler Sicht würde man das Land ja auch sehen. (Andernfalls hätten wir uns auf der Festlandseite von Stahlbrode aus, an der Insel Koos vorbei, in Richtung Lubmin an Usedom heranpirschen müssen.)

Anfangs im Peenestrom, später im Achterwasser von Usedom gab es noch ein paar Zeltprobleme unterschiedlichster Art. Zunächst hatten wir nach unserer »Hochseefahrt« noch einen nahezu idealen Zeltplatz unmittelbar am Strand des Greifswalder Boddens (Nähe Spandowerhagen). Dort erwartete uns ein majestätisch auf der Abbruchkante thronender Seeadler, der uns wohl erst als bedrohlich zur Kenntnis nahm und abflog, als wie uns im Boot aufrichteten, um an Land zu gehen.

Die absolute Einsamkeit, was Menschen betrifft, und das tete à tete mit dem Seeadler hatten wir dem dortigen Naturschutzgebiet zu verdanken. Was wir allerdings vorher nicht gewusst hatten, erst der Adler brachte uns auf die Idee. (Unliebsame Besucher hatten wir dadurch auch kaum zu befürchten.)

Dann aber wurde es am nächsten Tag im Peenestrom weniger angenehm und auch nicht ungefährlich. Denn nach langem, vergeblichem Suchen in total verschilften Ufern mussten wir irgendwo nördlich von Wustrow, weil es langsam dämmerte, notgedrungen mit einem winzigen, unverschilften Inselchen als Bleibe für die Nacht vorlieb nehmen. Auch diese »Handvoll« Erde, die da aus dem Wasser guckte, war jedoch so flach, dass wir, der schnell fahrenden und somit beängstigend große Wellen verursachenden Marineschiffe wegen, kaum ein Auge zubekamen. Hinzu kam, obwohl wir mückenmäßig einiges gewöhnt waren, aber einen solch massiven Angriff von ganzen Myriaden auf jedes Stück freie Haut, selbst durch die schnellstens angezogenen Trainingssachen hindurch, hatten wir noch nie erlebt. Und wenn nicht schon die Dämmerung hereingebrochen wäre, hätten wir garantiert vor den blutdürstigen Horden noch die Flucht ergriffen. Auch trug unsere Unkenntnis, in welchem Maße hier die Wasserstände schwanken könnten, dazu bei, dass wir den Morgen zur Weiterfahrt kaum erwarten konnten. Der nächste Tag sollte somit ein ganz ruhiger in der Nähe des Dorfes Ziemitz (Achterwasser/​Usedom) werden. Dorflümmels, die wohl glaubten, bei dem dort in der Wildnis zeltenden Pärchens irgendwelche »spektakulären« Beobachtungen machen zu können, verhinderten das jedoch. Zudem hätte unsere primitive Zeltbeleuchtung, die nur aus brennenden Kerzen bestand, dabei fast das Zelt abgefackelt. Die neugierigen »Lümmels« waren zum Glück nur Halbstarke oder noch Kinder gewesen, welche sofort, als ich wutentbrannt aus dem Zelt stürzte, die Flucht ergriffen. Sonst hätte wohl alles auch anders ausgehen können. Der Brandfleck wurde am nächsten Morgen notdürftig geflickt und dann nichts wie weg von diesem ungastlichen Fleck.

Nun war klar, dass der nächste Platz wohl der diesjährig letzte sein würde. Und anstatt, wie zunächst geplant, dafür Lütow oder Görmitz, beides noch recht weitab der Ostsee, anzusteuern, wurden wir noch mal »ganz mutig«. Und so ging es direkt auf das kleine Halbinselchen bei Loddin, unmittelbar auf der Boddenseite hinter Koserow, Kölpinsee und Ückeritz zu. Und obwohl unser Platz gar nicht besonders gut versteckt lag, sogar mit einem »eigenen« kleinen Sandstrand aufwartete, der wohl auch manchen Spaziergänger (oder Schlimmeres) hätte anziehen können, ging alles gut und wir hatten noch ein paar abschließende Erholungstage an der »richtigen« Ostsee. Und mit der 60 Meter hohen Steilküste des Streckelberges dazu noch an einer der spektakulärsten Stellen der ganzen Insel. Eine Stelle, die mich bereits in jüngeren Jahren schon einmal so fasziniert hatte und an die ich Jahrzehnte später unversehens nochmals unter völlig anderen Umständen erinnert werden sollte. (Geschichte »Niagarafälle«) Und wenn wir nachmittags oder abends von der Ostsee zurückgewandert kamen, fanden wir am Zelt nicht nur alles unversehrt vor, sondern wir wurden auch durch keinen unerwünschten, eventuell sogar uniformierten Besuch beglückt.

Nach diesen geruhsamen letzten zwei, drei Tagen, ging’s dann noch mal quer über das Achterwasser in Richtung Peenemündung und noch ein paar Kilometer den Fluss »bergauf« bis Anklam, wo wir bereits in dunkler Nacht am dortigen Bahnhof die auch in diesem Jahr wieder ereignisreiche Tour beendeten.

Damit war das eigentliche Ziel, die völlige Durchquerung der DDR im Faltboot, im Prinzip »abgearbeitet« gewesen.

Doch hatte das vorausgehende Kartenstudium ja ergeben, dass es da noch eine andere Möglichkeit gäbe. Zwar wären mit den damaligen Möglichkeiten nicht die Boddengewässer erreichbar, doch bis in den Rostocker Hafen würde man, wenn alles gut ginge, auch kommen können? So die Idee!

***

Und so ging es im Folgejahr zum dritten Mal los. Diesmal wieder mit jenem Klaus, der schon die zweite Hälfte des ersten Jahres (Stichwort: Treffpunkt Genthin) unverwüstlich absolviert hatte und sich durch neue in Aussicht stehende Unwägbarkeiten wohl nicht abschrecken ließ.

 

Wie bereits kurz erwähnt, ging es auch wieder in Waren an der Müritz los. Diesmal jedoch durch die komplette »Herzkammer« des Wassersports, über Kölpin-, Fleesen-, Malchower- und Petersdorfer See bis zum Plauer See.

Auf dem Plauer See schafften wir sogar, was uns bisher erspart geblieben war:

Als wir, quasi als Einstand zur diesjährigen Tour, mal wieder segelten … kenterten wir! Hatten wir sogar unsere Supertour über die Boddengewässer vom Vorjahr erfolgreich ohne die Seitenschwerter des Bootes gemeistert, (Die hatten wir aus Platz- und Gewichtsgründen dieses Jahr gar nicht mitgenommen), so erschien uns das auf den »doch nur« Binnenseen erst recht nicht notwendig. Wo wir doch auf dem Saaler Bodden und im Strelasund regelrechten Sturm »ohne« bestanden hatten. Profis wissen, dass nicht die Stärke des Windes, sondern die Konstanz seiner Richtung das Wichtigste dabei ist. Und genau deshalb meist Binnenseen oft tückischer sind als offene See. Leider kenterten wir nach einer extrem starken Bö am Westufer nördlich von Plau, während unser Zelt (natürlich wieder »schwarz«) am Ostufer in der Nähe von Zislow stand, was alles nicht einfacher machte. Später dann, nachdem ein Motorboot unser umgekipptes Boot (zusammen mit uns im Wasser schwimmend) ein Stück geschleppt hatte, hingen hernach dafür neben den nassen Sachen auch Ausweis und Geldscheine auf der Leine. Und der Fotoapparat war natürlich im Eimer. Es wurde später der billigste, für uns gerade noch erschwingliche Ersatz (Pouva Start) gekauft, um wenigstens ein paar Bilder zur Dokumentation der Fahrt zu haben. (Natürlich nur schwarz/​weiß und in „Papierkorbqualität“.

Auch diese Lektion des Kenterns hatte gesessen! Geldscheine mussten wir jedenfalls nicht wieder auf der Leine zum Trocknen aufhängen.

Der weitere Weg vom Nordwestufer des Plauer Sees mit Ziel Damerower See war wieder nur mit Fuhrwerk ein paar Kilometer (über das Dorf Karow) per Landstaße zu bewältigen.

Als Ausfluss dieses Sees fungiert hier die Mildenitz, ein ganz reizendes Paddelflüsschen durch zum Teil bezaubernde Landschaften. OK, einige Brocken mussten da auch bewältigt werden, wie die Umgehung eines kleinen Kraftwerkes (Zülow) und anderes. Aber sonst, für Genusspaddler empfehlenswert. (Für Neugierige als Stichpunkte: Goldberger-, Dobbertiner-, Sternberger See.)

Unmittelbar nach der Mündung der Mildenitz in die Warnow kommt mit dem so genannten Warnowdurchbruch ein richtiges Stückchen Wildwasser. Nicht direkt gefährlich, doch der vielen spitzen Steine und Felsbrocken wegen, aufpassen muss man schon.

Auch die Warnow ist – über die Städtchen Bützow (Schiefer Kirchturm) und Schwaan bis schließlich nach Rostock – ein recht angenehmer, unproblematischer Wanderfluss.

Da unsere Urlaubszeit zu Ende ging, wir aber noch ein paar Tage unmittelbar in Ostseenähe verbringen wollten, machten wir (doch wieder) … eine Nachtfahrt. Zuvor, da hatten wir schon eine normale Tagestour seit dem Warnowdurchbruch hinter uns, gingen wir in Bützow noch mal richtig essen und dann ging’s los. Die Warnow, hier ohne jegliche Nebenarme oder zu durchfließende Seen, erlaubte das. Alles ging gut und kurz nach Sonnenaufgang sahen wir bereits die Silhouette von Rostock auftauchen.

Nun wurde es spannend. Wenn man uns hier schnappte, wäre das zwar nicht schön, jedoch so kurz vor dem Ende auch nicht mehr allzu tragisch. Als einzige Möglichkeit zum wilden Zelten im Grenzbereich war uns auf der Karte das äußerste Ostende des Breitlings erschienen. Doch um dahin zu gelangen, müssten wir irgendwie quer über die drei Hafenbecken des Rostocker Überseehafens paddeln. Ob das gut gehen würde?

Schon näherten wir uns auf dem Breitling dem ersten Hafenbecken. Zuvor registrierten wir den Farbumschlag des Wassers von trüb-braun zu grünlich-klar. Wir fuhren in Salzwasser! (Und probierten das natürlich auch mit dem Finger!) Um uns herrschte ein unerhörter Hafentrubel, jede Menge Schiffe und Barkassen – und wir mittendrin. In der Ferne die gewaltige Kabelkrananlage der Warnow-Werft. Ich berührte mit dem Paddel die Stahlhaut eines 10.000-Tonners (das war damals viel), amüsiert schauten Matrosen von oben auf uns herab. Dann das zweite Hafenbecken, dann der Ölhafen. Auf der anderen, der nördlichen Seite sahen wir sogar Kriegsschiffe der NVA liegen. Nichts passierte. Unglaublich! Das kann doch nicht sein, dass uns kein »Offizieller« von irgendeiner Behörde gesehen hatte? Vielleicht waren die auf solch »Verrückte«, die dort im Faltboot zwischen Hochseeschiffen herumgurkten, gar nicht vorbereitet?

Gut, wir waren nicht böse, dass uns kein Polizeiboot eines Besuches für würdig befand. Doch hätten wir uns das Zurechtlegen einiger hanebüchener Ausreden da auch sparen können. So paddelten wir, was die Arme hergaben, um möglichst schnell aus dem Sichtbereich irgendwelcher Grenzer zu gelangen oder deren Aufmerksamkeit vielleicht doch noch zu erregen.

Endlich schien uns die Luft wieder »rein« zu sein. Am äußersten östlichen Ende des Breitlings, sogar noch ein Stück weiter in Richtung Markgrafenheide (Radelbach/​Radelsee), inmitten von stark verschilftem Ödland sowie kaum überschaubarer ebenso öder, künstlicher Aufspülflächen suchten wir einen Platz für unser Zelt. Alles Land dort lag nur wenige Zentimeter oberhalb der Wasserlinie. Auf einem Stück, scheinbar ein paar Zentimeter höher gelegen, versuchten wir es dann, traten das allgegenwärtige Schilfgras breit und errichteten, so gut es ging, unsere letzte Bleibe. Einsamkeit pur! Wenn uns hier etwas passierte, niemand würde uns je in dieser Einöde finden. Erschöpft und übermüdet nach der Nachtfahrt und den etwa 90 km der Gesamt-Tagesstrecke war uns zunächst alles egal und wir fielen mitten am Tag erst einmal in einen tiefen Schlaf.

Wir hatten vom Zelt aus etwa je einen Kilometer Richtung Norden bis zum Strand nach Markgrafenheide und etwas mehr nach Osten zu einer urigen Dorfkneipe. Zuvor allerdings ging's vom Zelt aus zunächst stets erst einige hundert Meter durch das Schilfdickicht, wo man anstatt auf Wege oder wenigstens auf Trampelfpade mehr auf Intuition und Gefühl setzen musste.

Leider setzte dann während unserer ohnehin letzten Urlaubstage mehrtägiger Regen ein und nahm uns somit alle Sorgen für Planungen irgendwelcher letzter Unternehmungen ab. Und die genannte Kneipe war als »Rettungsanker« auch nicht das Wahre. Eher ein gewagtes Unterfangen, das bei nächtlicher Heimkehr kaum ohne nasses Schuhwerk ablief. besonders wenn dabei der schilfige Sumpfgürtel nicht das einzige Schwankende war.

Doch hatten diese misslichen Umstände der letzten Tage auch ihr Gutes: Machten sie doch den Abschied leichter.

***

Das waren die Hauptstationen meiner Wasserwanderzeit. Es kamen zwar noch ein paar weitere, kleinere Touren danach, doch keine war so spektakulär oder hatte diesen gewissen »Charme« wie diese beschriebenen drei, um hier mit aufgenommen zu werden.

Danach hatte das Schicksal anderes mit mir vor.

Weshalb besondere Geschichten, die deutlich über den Rahmen einer »normalen« Reise hinausgehen, erst etwa dreißig Jahre später zu verzeichnen sind. Nun allerdings in ganz anderer Form und an teilweise recht fernen Ecken der Welt.

Mecklenburger Wasserwege


CHINA

Pechvogel oder Glückspilz – das ist hier die Frage!

Nach der Wende in Deutschland – etwa dreißig Jahre nach meiner Faltbootzeit – bedachte das Schicksal mich, inzwischen deutlich jenseits der Fünfzig, mit einer besonderen Art von Aufmerksamkeit. Die meisten meiner Kollegen kommentierten die überraschende Neuigkeit mit einem bedauernden: »Das arme Schwein, der muss …«, nur wenige andere meinten dazu: »Der Glückspilz, der kann …«

Diese widersprüchlichen Empathiebekundungen bezogen sich auf die unverhoffte Meldung, dass ich für meine Firma einige Jahre nach China gehen »sollte«, um dort einen neuen Betriebsteil aufzubauen und den bereits bestehenden zu modernisieren. Gut, jenes »sollte« ist nicht ganz korrekt. Denn ich hatte ja tatsächlich ein gewisses allgemeines Interesse an einer neuen Herausforderung bekundet. Wenn auch ziemlich verhalten und zaghaft. Wahrscheinlich wollte ich nur ein Zeichen an die Vorgesetzten in Frankfurt senden, weil es ja im Konzern immer mal in verschiedenen Ländern interessante Projekte gab. Etwa in der Form: »Vergesst für neue Projekte nicht mögliche Kandidaten eurer kleinen sächsichen Tochterfirma«, oder so ähnlich. Das allerdings im festen Glauben, für ein »so großes Rad« wie das Chinaprojekt, selbst gar nicht in Frage zu kommen. Dafür gab zu viel andere, zweifelsohne geeignetere Ingenieure und damit Kandidaten im weltweiten Pool des Konzerns. Und außerdem war für das Chinaprojekt anfangs zunächst nur von einigen Wochen als »Projektbegleitung« mit nur gelegentlichen Kurzbesuchen vor Ort die Rede gewesen. Als es später konkret wurde, hörte sich allerdings alles anders an. Da wurde neben der Anzahl der Millionen an Investitionen nur noch über die Anzahl von Jahren, die für das Projekt veranschlagt würden, diskutiert und dass dafür eine ständige Anwesenheit vor Ort erforderlich sei. Allerdings – Schreck lass nach! – war ich dabei namentlich recht fest im Gespräch. Und kein Wort mehr von früher gehandelten anderen Kandidaten. Und das trotz meines damals miserablen Anfänger-Englisch! Aber, so die peinigende Frage, konnte ich nun noch einen Rückzieher machen? Da blieb mir wohl nur die Wahl zwischen Kneifen vor der Aufgabe oder Kneifen vor den moralischen und praktischen Folgen eines Rückziehers. Letzteres schien mir am Ende wohl das schlimmere Übel zu sein. Und wäre das nicht auch »irgendwie« eine Riesenchance? So begann ich nun, sowohl bei Tag als auch des Nachts, alles für mich und meine Familie schönzureden. Und wohl auch, um mir selbst Mut zu machen.

Und so ging es also – nach vielen, vielen schlaflosen Nächten, dennoch auch mit einem gewissen Kribbeln im Bauch, wie man es etwa vor einem ersten Rendezvous verspürt – im Frühjahr 1995 ab ins Reich der Mitte.

*

Nun ist es mittlerweile nicht mehr außergewöhnlich, dass Ausländer in dem riesigen Zukunftsmarkt China in irgendeiner Mission zu tun haben, auch mehrere Jahre dort leben. Kein Grund also, deshalb einen solchen »Aufriss« zu machen.

Das Außergewöhnliche meiner Situation war, dass ich dort allein, sowohl ohne Familie als auch ohne andere europäische Kollegen, »nur« zusammen mit einem chinesischen Team tätig sein sollte. Wobei dieses »nur«, wie ich bald merkte, wirklich nur in Anführungsstrichen eine Berechtigung hatte. Denn es war ein tolles Team, in dem ich von vornherein, kein »ihr« und »ich«, sondern, im Guten wie im Schlechten, nur ein »wir« praktizierte. So wie ichs Jahrzehnte als »sozialistischer Leiter« gewohnt gewesen war. Und woran ich bei allen Verständigungshürden (jedes gesprochene Wort ging nur über die Dolmetscherin) auch nach Jahren noch gern zurückdenke. Hinzu kam, dass ich »Oldie«, der in der Schule nur Russisch gelernt hatte, seit einiger Zeit begann, mir mühevoll mehr oder weniger selbst Englisch beizubringen. Dort in China würde ich aber mit dieser Sprache meinen Job tun müssen. Und der war nun wirklich nicht »ohne«. Denn es ging dabei nicht »nur« um den Aufbau eines Werkes, sondern dazu gehörte auch die Mitarbeiterschulung, die Organisation von Qualitätskontrolle, die Suche und Auswahl geeigneter Maschinen und Rohstoffe in China und im Ausland bis zum Probelauf und Leistungsnachweis. Für einen Weltkonzern war diese Entscheidung, einen »Ossi« mit einer solchen Mission zu betrauen, damals eher unüblich. Insbesondere derartige Aufgaben konzernweit (und damit weltweit in vielen Ländern) als Bausteine zum Karriereaufbau vor allem für junge Leute allgemein begehrt waren. Zu dieser Altersklasse konnte ich mich jedoch beim besten Willen nicht mehr zählen. Und sicher wurde das auch nur deshalb erwogen, weil mein künftiger chinesischer Chef auch vom Frankfurter Mutterkonzern stammte und er damit deren primäre Vertrauensperson war. (Was sich allerdings für mich als nicht so toll herausstellte.) Vielleicht hatten sich die Herren in Frankfurt auch gedacht, dass ein früherer »sozialistischer Leiter« am besten mit den Verhältnissen im kommunistischen China zurechtkommen müsste? Was immer dazu sonst noch beigetragen haben mag, als »Unfähigkeitsbescheinigung« war die Auswahl wohl dennoch nicht zu verstehen.

 

Egal, was, wie und warum, es ging also los. Und diese Situation, allein am anderen Ende der Welt, stellte nicht nur für den Job, sondern auch für die persönliche Psyche eine besondere Herausforderung dar. Man musste wohl dafür auch ein bisschen »speziell gestrickt« sein, um sich auf ein solches Abenteuer einzulassen. Hinzu kam, angesichts der Vielfalt der Aufgaben, der ständige Spagat zwischen den örtlichen Gegebenheiten in China und den mitunter recht »linearen« und unflexiblen Erwartungen und Sichtweisen der Mutterfirma in der Heimat.

Und was selbst für mich anfangs höchst unsicher schien, wurde dennoch ein voller Erfolg (und ist es bis heute). Dafür sorgte vor allem mein chinesisches Team aus ungemein fleißigen Arbeitern, ehrgeizigen und einfallsreichen Technikern und Ingenieuren zusammen mit meiner Dolmetscher-Assistentin. Der Betrieb wurde eine Art »Vorzeige-Joint venture«, der bereits nach wenigen Jahren die entsprechenden Gewinnanteile bei der deutschen Mutterfirma ablieferte.

Und es wurde, trotz mancher unvorhersehbaren Turbulenzen und Überraschungen, insgesamt wohl auch zum mentalen Gewinn für mich persönlich und meine künftige Weltsicht.

In dieser Zeit und danach entdeckte ich zudem auch das Schreiben als Hobby, weshalb nach meiner Rückkehr ein absolut authentisches und freimütiges Buch über mein Leben in China entstand. (S. 282)

Zu diesem Buch über meine Chinazeit zählen auch die zahlreichen Reisen im Lande. Deshalb sollen wenigstens drei dieser Reisen, die unter dem Motto: Der Weg ist das Ziel thematisch zum vorliegenden Buch passen, hier mit Eingang finden und durch ein paar spezielle Episoden abgerundet werden.


Entgegen von oft gehörten Vorurteilen über die Begrenzung der Bewegungsfreiheit habe ich in China im Prinzip machen können, was und wann ich wollte. Außer den Begrenzungen, die technischer oder organisatorischer Art waren, habe ich dort gehen, fahren oder fliegen können, wie es mir beliebte und wie es meine Möglichkeiten zeitlich zuließen. Ein fantastisches Gefühl von Unabhängigkeit, was im Wesentlichen auch für den beruflichen Teil zutraf. Denn im Rahmen der Agenda der Mutterfirma war es meist mir überlassen, was ich wann und wie mit meinem chinesischen Team machte. Die Hauptsache, die Erfolgsmeldungen kamen pünktlich nach Frankfurt.

Nach Feierabend und an Wochenden durchstöberte ich mit dem Fahrrad selbst entlegendste Dörfer der Umgebung meiner Stadt Zibo/​Shandong und ließ mich dort als wai guo ren (Ausländer) bestaunen. »Kaum zu glauben, ein Ausländer hier und allein und mit dem Fahrrad?« Zum anderen flog ich an alle möglichen Ecken des Riesenlandes und lernte so China, seine Menschen und deren Kultur recht intensiv kennen.

Und obwohl ich auch bei diesen Reisen meist allein war, gab es nie eine wesentliche Panne, falls man bereit ist, die teilweise abenteuerlichen Begleiterscheinungen der folgenden Geschichten nicht als Panne zu betrachten.

Bei den Vorbereitungen meiner Fernreisen in China hatte ich in meiner Dolmetscherin und Assistentin Guo Li (voriges Bild) stets eine einfallsreiche Unterstützung beim Besorgen von Tickets oder Hotelzimmern, was ich aus Sprachgründen allein gar nicht geschafft hätte und weshalb ich sie auch bald zum Spaß »My private travel agency« nannte.

Chinesische Mauerimpressionen