Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur

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I.1 Metamorphosen
I.1.1 Met. III 553–571OvidMet. III 553–571

Bevor die im 4. Buch beschriebene Geschichte von Athamas und Ino ausführlich erforscht wird, muss eine Textstelle über Pentheus analysiert werden, weil in dieser der Aiolide, ‚Onkel‘ des Sohnes von Agave, erwähnt wird1. Ovid präsentiert die ‚Eroberung‘ von ThebenTheben durch Dionysos und die Entgegenstellung durch König Pentheus.

In dieser Textstelle gibt es zwei Teile:

 α) Pentheus führt ein Selbstgespräch (553–561).

Agaves Sohn trägt seine Gründe vor, weshalb er gegen DionysosDionysos kämpfen will. Pentheus beklagt sich darüber, dass ein solcher Fremder wehrlos und ohne Heer2 in ThebenTheben ‚einfällt‘: Sed madidus murra crinis mollesque coronae / purpuraque et pictis intextum uestibus aurum (555–556). Deutlich ist der ironische und verächtliche Ton von Pentheus DionysosDionysos gegenüber: Dieser Gott habe keine Männlichkeit, wenn er das Haar mit Myrrhen salbt. In der Tat kommt BacchusBacchus bei Euripides3 aus Lydien, Frygien, Persien, das heißt, aus denjenigen orientalischen Gebieten, deren Männer für weibisch gehalten wurden. Die Begriffe mollesque coronae „sind oft ein mehr literarisches als kultisches Motiv, Zeichen des weiteren dionysischen Bereichs, der bacchantischen Ekstase, auch des Rausches“4. Diese Art von Kranz ist ein Zeichen von wenig Mannhaftigkeit, die purpurnen und goldenen Gewänder aber ein Zeichen von Reichtum und Luxus. Dazu kommt: Der Fremde ist nur ein Knabe; Ruiz de Elvira erklärt bezüglich des Wortes puero: „Baco es siempre tan joven que parece un niño“5.

Pentheus will allein, ohne Hilfe, den Eindringling entlarven: Er muss gestehen, dass er kein Gott ist, dass weder JupiterJupiter sein Vater ist noch seine Erfindungen heilig sind. Bömer erklärt, „in der Leugnung der Gottessohnschaft besteht (nach dem Vorbild des Euripides (Ba. 26ff. 45ff. und öfter) die Schuld auch der Minyas-Töchter (IV 3) und des Acrisius (IV 607ff)“6.

Der Ausdruck modo uos absistite ist ein „parenthetical remark addressed to tile crowd of the bans, whose opposition or disapproval the king recognizes here“7. Pentheus erwähnt Acrisius; dieser ist der Vater von Danaë, die Perseus von JupiterJupiter gebar; der König von Argos glaubte auch nicht, dass Perseus eine göttliche Herkunft hatte. Anderson8 erläutert, dass Ovid sich auf eine konkrete, aber nicht erhaltene Aussage über Acrisius bezieht, weswegen Bömer sich fragt, „ob diese Version eine Erfindung Ovids ist oder zur älteren Tradition gehört“9. Darüber hinaus deuten die Wörter uanum / numen auf Pentheus’ Verachtung für Bacchus. Agaves Sohn interpretiert die Wirklichkeit nicht richtig, weil er für Angst erachtet, was eigentlich Ehrfurcht ist: ThebenTheben fühlt sich nicht von Dionysos bedroht, sondern verehrt ihn als Gott.

 β) Pentheus wendet sich an seine Diener (562–571).

Der thebanische König greift ein: „The rhetoric changes into abrupt tyrannical commands“10. Pentheus schickt seine Diener aus, damit sie Dionysos suchen und verhaften. Wie Anderson richtig bemerkt, wird ein schneller, blinder und totaler Gehorsam gefordert. Bömer sagt, „bei Euripides ist die Situation, abgesehen von den durch das Drama bedingten Unterschieden, ähnlich“11: Ein Fremder (247) hat die Frauen der Stadt (215) aufgehetzt; Pentheus weiß es nur vom Hörensagen (233), aber er will ihn in Haft nehmen (239). Diese famuli sind Diener; Pentheus ist ihr dominus12.

Dann treten sein Großvater KadmosKadmos und sein ‚Onkel‘ Athamas samt dem Rest des Volkes Pentheus entgegen. Sie bekämpfen ihn mit den zwei von Pentheus’ verwendeten ‚Waffen‘: mit Worten (Monolog) und mit körperlicher Kraft (Festhalten). Das sollte das Handeln von Pentheus bremsen. All diese Bemühung ist frustra.

Wichtig ist aber, dass der Ratschlag von den männlichen Mitgliedern seiner Familie kommt13: „The females are in the mountains with other worshippers of Bacchus“14. Bömer meint, dass die Erwähnung seines Großvaters Kadmos fassbar ist, aber nicht die von Athamas: „Es ist kein Grund erkennbar, warum Ovid gerade den Athamas, der als Gatte der Ino (III 313) einer der Oheime des Pentheus ist, als den Mahner des Neffen besonders herausstellt; literarische Vorbilder gibt es dafür nicht“15. Möglich ist, dass Athamas, und nicht Echion, erwähnt wird, weil Ovid dem Leser die Figur des Bacchus ständig vor Augen halten will und Athamas zusammen mit seiner Frau Dionysos erzogen hat.

Auf jeden Fall hört Pentheus den Ahnen nicht zu; er gilt als der sterbliche Feind von Bacchus – HeraHera ist die unsterbliche Gegnerin – und er wird bald beweisen, wie sterblich er ist: Er wird durch und wegen Bacchus sterben. Der weise Ratschlag von Athamas und KadmosKadmos hat die gegensätzliche Wirkung: Die Worte der Verwandten erregen in Pentheus einen noch größeren ZornZorn (rabies). Modo homerico nennt Ovid als Beispiel den reißenden Bach, der ruhig zu Tal fließt, wenn seine Strömung nicht behindert wird, der aber gereizt wird und anschwillt, wenn er auf ein Hindernis stößt. Darum denkt Bömer, „die Wut wird nicht nur erregt, sondern auch noch gesteigert“16. Trotz des modo Homerico dieser Verse gehören sie aufgrund des Ausdrucks sic ego … | … uidi „grundsätzlich nicht zur epischen, sondern zur subjektiven Poesie“17.

Diese Textstelle ist sehr bedeutsam, weil sie ein neues Bild von Athamas darstellt; das des guten und weisen Beraters. Pentheus’ ‚Onkel‘ ist, wie auch sein Großvater18, der vernünftige Mann, der die Wirklichkeit erkennen kann und derjenige, der den Fehler seines Neffen richtig einschätzt. Er ist der Mann – Paradox des Lebens! –, der die Realität genau sieht. Er versucht zu verhindern, dass sein Neffe gegen den neuen Gott, der auch Athamas’ Neffe ist, kämpft, aber er schafft es nicht und seine Warnung macht Pentheus in seinem Zorn noch heftiger. Dies ist genau das Gegenteil dessen, was im nächsten Buch geschehen wird: Athamas hat den Sinn für die Wirklichkeit verloren und wird seinen Sohn LearchosLearchos töten. Der Unterschied liegt darin, dass Athamas’ furor von Anfang an so sein wird, dass niemand wagt, ihm zu widerstehen. Es scheint, dass Athamas als ‚Onkel‘ weiser ist denn als Vater; ähnliches wird Ovid über Ino in seinen Fasten sagen19.

I.1.2 Met. IV 416–562OvidMet. IV 416–562

Dies ist die wichtigste Textstelle der Metamorphosen und ein Grundpfeiler der erhaltenen Texte über den Mythos von Athamas; bei dieser Passage handelt es sich um Athamas’ WahnsinnWahnsinn und Inos SprungSprung.

Ovid präsentiert hier die I-L-M-Version. Dies ist nicht der einzige Moment, in dem dieser Dichter über Athamas’ Wahnsinn schreibt: Er kommt auch in den Fasten vor1. Allerdings sagt Anderson mit Recht, „Ovid’s version here of the destruction of Ino and her family differs considerably from the story he composes on the same subject in Fast. 6485 ffOvidFast. VI 485“2. In den Fasten gibt es z.B. keine Einzelheit von Learchos’ Tod und Ino begräbt seine Leiche. Darüber hinaus ist das Ziel in beiden Erzählungen ein ganz anderes, denn hier geht es um eine Geschichte von Metamorphose, in den Fasten aber funktioniert die Erzählung als „Vorgeschichte für seine Darstellung der Aitia im KultKult der Mater Matuta“3. Bernbeck zufolge präsentiert Ovid all diese Ereignisse in einer epischen Erzählung, denn „alle Einzelabschnitte werden als Handlung in der Zeit geschildert“4. Ovids zeitliche Vorstellung stimmt mit anderen Autoren, wie z.B. Nonnos, nicht überein.

Bevor diese Textstelle analysiert wird, muss man wissen, dass Ovid ein Meister der ‚Abweichung‘ ist: Er versucht die Erwartungen des Lesers zu überraschen, vor allem wenn es um einen Leser doctus geht, der die übliche Tradition dieses Mythos gut kennt. Hershkowitz bemerkt richtig: „A major deviation occurs in the way madness appears and is used in the Metamorfosis, in which ‘standard’ scenes of epic madness, such as that exhibited in the Athamas and Ino episode, are rare, while scenes where madness should occur but does not, such as the Ajax episode, are much more frequent“5.

Die Passage, die ausführlich auf den folgendenen Seiten untersucht wird, besteht im Wesentlichen aus Athamas’ und Inos Geschichte. Die letzte Szene, nämlich die der Versteinerung oder der Verwandlung in Tiere der sidonischen Gefährtinnen von Ino, findet sich in keiner anderen literarischen Quelle und wird in dieser Untersuchung als ein Anhang der echten Geschichte von Athamas und Ino gesehen. Die Haupttextstelle besteht aus verschiedenen Szenen.

 1’) Inos Prahlerei (416–419)

Bacchus hat in ThebenTheben triumphiert; Pentheus hat sogar sein Leben verloren, indem er zu verhindern versuchte, dass sich der neue Gott in der Stadt durchsetzte: Semeles Sohn wird in Böotiens Hauptstadt verehrt. Unmöglich zu übersehen ist die enge Verbindung bei Ovid zwischen Bacchus und Theben und, im Hintergrund, zwischen Bacchus und Ino; Theben ist zweifellos die Stadt des neuen Gottes.

In Bezug auf das Wort numen vom Ausdruck memorabile … | numen (416–417), der an das memorabile numen von Verg. Aen. IV 94VergilAen. IV 94 erinnert, muss man Acht geben, dass es Leseweisen gibt, die nomen statt numen haben6.

Bacchus ist der Sieger, Ino sein Herold. Sie wird beauftragt, die Heldentaten ihres göttlichen Neffen zu verkünden7. Damit richtet sie sich allerdings gegen ihren anderen Neffen Pentheus und ihre Schwester Agave, Pentheus’ Mutter. Anderson meint, „Ino is presented as guiltless“8, obwohl sie an Pentheus’ Tod9 mitgewirkt hat. Diese Beschreibung Inos verursachte beim Leser der Antike eine unterschwellige Furcht und Misstrauen: Ino sündigt aus ὕβρις10. Wenn man übermütig prahlt, man fühle kein Leiden11, löst dies die traurigen künftigen Ereignisse aus. Es sieht so aus, als ob Ino nicht klar sei, dass sie einer großen Gefahr ausgesetzt ist, aber „Ovid hat das Schicksal der Cadmus-Tochter Ino bereits III 313 kurz angedeutet“12. Der Wortschatz beider Erzählungen verknüpft sich eng, wie z.B. im Wort matertera (Met. III 313 – IV 417OvidMet. III 313 – IV 417) zu sehen ist.

 

 2’) Junos Schmerz (420–431)

Juno sieht Ino13. Bernbeck ist folgender Meinung: „Wie in der Aeneis (134ff, VII 286ff.VergilAen. VII 286) ist das die Einleitung zu einem Monolog, der gemäß der traditionellen epischen Technik in einem Entschluß gipfelt und den Anstoß für das kommende Geschehen gibt“14. In der Tat, nachdem sie Ino gesehen hat, spricht die Göttin mit sich selbst; möglicherweise deutet Ovid das berühmte Selbstgespräch Junos in Aen. I 37ffVergilAen. I 37 an, das genau mit den Wörtern haec secum15 beginnt. Im Gegensatz zum Geschehen in ThebenTheben erkennt JunoJuno Bacchus nicht und nennt ihn de paelice natus (422). Juno ist hassHasserfüllt, weil sie sich als vertrieben, machtlos und gedemütigt betrachtet.

Drei Gründe gibt es für Inos Hybris und Junos Bitterkeit:

 A) Inos Kinder: Das ist ein neues Motiv16, das man nicht aus Ovids Text herauslesen kann; es scheint aus Niobes Geschichte zu stammen.

 B) Athamas’ Ehe: Schwierig zu erkennen ist, worin der Grund der Hybris liegt17. Bömer18 selbst meint treffend, dieser Stolz auf ihre Kinder und ihren Mann „ist im allgemeinen kein strafwürdiges Vergehen“19.

 C) Die Erziehung einer Gottheit: Dies ist das echte Motiv von Junos ZornZorn und Inos Prahlerei. Bernbeck denkt, dass Ovid mit der Reihenfolge der Gründe und ihrer Bedeutsamkeit spielt: „Erst danach nennt er die Motive für Junos Zorn, dazu noch in der umgekehrten Reihenfolge ihrer Bedeutsamkeit“20.

Bömer zufolge „läßt sich auch das Verhalten der Ino nicht mit dem der Niobe vergleichen (VI 146ff. OTIS 322f.)“21, weil, obwohl Juno sich so brutal verhält wie im Fall von Leto, Ovid hier nur die Ungerechtigkeit der Götter, Wächter der universellen Ordnung, zeigen und den Zorn der eifersüchtigen Juno betonen will. Bömer hat Recht: Ino preist Bacchus und beleidigt Juno nicht22.

Jupiters Frau beklagt sich laut und deutlich über dieses letzte Motiv: Bacchus ist Junos echter Schmerz23. Die Göttin zählt die schon erfüllten Heldentaten von Bacchus, den sie nie nennt24, auf: Die Verwandlung der maionischen Schiffer25 (Met. III 582–691OvidMet. III 582–691); Pentheus’ Tod durch seine Mutter Agave (Met. III 511–581OvidMet. III 511–581); den WahnsinnWahnsinn der drei Minyaden (Met. IV 1–54OvidMet. IV 1–54). Sie klagt über viele ungerächte Schmerzen: Es sieht so aus, als ob Jupiters Frau nur die Macht zu weinen hätte26. Bömer meint, „die Klage über die eigene Machtlosigkeit und die stärkere Macht der anderen (posse, potentia, potestas) gehört als Topos zu Reden dieser Art, speziell zu Reden der Iuno“27. Aber Junos Charaktereigenschaft ist nicht nur von hilflosem Weinen geprägt, sondern auch von zielstrebigem Handeln.

Dann spricht JunoJuno einen Schlüsselsatz für die Entwicklung der Passage aus: ipse docet quid agam28 (426). Und was sonst hat Bacchus bis jetzt gemacht, als Kadmos’ Tochter, den Minyaden und den tyrrhenischen Piraten den WahnsinnWahnsinn zu schicken? Wenn es einen Zweifel gab, verdeutlicht Juno selbst ihr Ziel: die Macht des furor zu verwenden (427). Nach Ovid scheint es, dass der Wahnsinn als Bestrafung mit Bacchus geboren wurde und diese Figur den anderen Göttern zeigt, wie sie diese Macht für ihren Vorteil nutzen können. Auffällig ist, dass Ovid nur für den Wahnsinn von Agave, nur für den Tod von Pentheus das Wort furor29 verwendet; für die anderen Fälle verwendet Ovid das Wort insania, indem er den von Cicero vorgeschlagenen Unterschied30 ignoriert. Zum anderen erinnert der Stachel von Vers 430 (stimulus) eher an Io. Die Folgen des furor hat Juno an Pentheus gesehen. Die Frage stellt sich, warum Ino hinter Agave nicht her sein sollte. Bernbeck fragt sich, ob die verborgene Andeutung auf Agave auf den zukünftigen Tod eines der Kinder von Ino hinweist, und er erläutert: „Das wäre ja mehr eine StrafeStrafe für den Sohn als für Ino!“31. Meiner Meinung nach ist es eine deutlich größere Bestrafung für eine Mutter, ihre Kinder unbewusst zu töten, als wenn sie selbst von fremder Hand umgebracht würde.

Merkwürdig ist, dass das letzte Wort von Junos Rede Ino ist. Anderson sagt, dass dies bewirkt, „both to make the speech more sinister and to tease the audience’s familiarity with myth“32. Ovid bezeichnet den Zustand Ios als Wahnsinn, die als erste Sterbliche unter dieser Krankheit33 zu leiden hatte; das lateinische Verb stimulo übersetzt das griechische Verb οἰστράω. In Bezug auf cognata … exempla (430), beteuert Haupt, „in freierer Fassung des Gedankens ist adjectivisch gesetzt, was eigentlich durch den substantivischen Genetivus cognatarum oder sororum auszudrücken war“34. Dieser Forscher erklärt, dass der Ausdruck ire per exemplum bzw. exempla alicuius heißt „seinem Beispiel folgen“35.

Hier gibt es eine Textvariante: In der Handschrift P steht furoribus – diese Leseweise ist m.E. treffend –; das heißt, dass man auf griechisch διὰ μαινῶν verstehen sollte. Die Handschrift N aber bringt sororibus. Dasselbe passiert im Vers 471: furores BMF2gHP (τὸν ̓Αθαμάντα ταῖς μανίαις ἐφελκύσασθαι): sorores NH.

Schließlich könnte Junos Rede in drei Teile gegliedert werden, wie Bernbeck andeutet; jeder Teil entspricht der Struktur von Junos Selbstgesprächen in Aeneis.

 a) „Zuerst ein Abschnitt, der auf die bestehende Situation Bezug nimmt“36. Der Leser wird an die Ursache von Junos Bitterkeit erinnert, und ihre Klage steht im Text klar und deutlich; die rethorischen Fragen und die Anrufungen sind üblich. Dieser Teil fehlt in den Metamorphosen.

 b) „Dann eine Reihe von mythologischen Beispielen für den Triumph einer Gottheit über ihre Feinde“37 (Met. IV 422OvidMet. IV 422OvidMet. IV 422–425–425). Alle Beispiele bei Ovid beziehen sich auf dieselbe Figur: Bacchus. So rechtfertigt Jupiters Frau ihre Rache an dem Gott. Diese Beispiele haben hier auch ein anderes wichtiges Ziel, nämlich die Erzählung in den Metamorphosen zu bestätigen.

 c) „Zuletzt ein Abschnitt, in dem Juno aus den Beispielen die Schlußfolgerung für die gegenwärtige Lage zieht“38 (Met. IV 426–431OvidMet. IV 426–431). Juno spricht aus, wie Recht und Gerechtigkeit näher bei ihr stehen als in den erwähnten Beispielen, in denen die Protagonisten befriedigt wurden.

 3’) Der Besuch in der Unterwelt (432–480).

Der römische Dichter präsentiert in dieser Textstelle verschiedene Szenen wie in einem Theaterstück, wo die unterschiedlichen Phasen einer TragödieTragödie bzw. eines Dramas auf einer Bühne dargestellt werden: Zunächst geht es um die handelnden Personen und die Ursache der Beleidigung. Als nächstes folgt die Entwicklung der Handlung, wobei jede Szene schroff abbricht (der Vorhang fällt). Die Handlung beginnt mit Junos Reise zur Unterwelt, fährt fort mit Tisiphones Besuch in Athamas’ Haus; Athamas’ Jagd; Inos FluchtFlucht und SprungSprung. Der letzte Teil bringt die Lösung des Dramas mit Inos und Melikertes’ DivinisierungDivnisierung. Als Anhang wird die Metamorphose der sidonischen Frauen, Inos Gefährtinnen, erzählt.

Der Leser befindet sich in der zweiten Szene der Entwicklung. Dieser Akt ist völlig anders als Allektos Episode in Aen. VIIVergilAen. VII; Hershkowitz sagt es sehr deutlich: „Whereas Allecto is summoned to JunoJuno in the Aeneid, Juno goes to Tisiphone in the Metamorfosis“39. Die Innovation spielt eine herausragende Rolle, denn eine olympische Göttin besucht die Unterwelt; das ist eine ungeheure literarische Revolution. Bömer behauptet, „die Unterweltsszene innerhalb der Athamas-Ino-Geschichte darf trotz mancher durch die Sache gegebener älterer Vorbilder und Parallelen mit großer Wahrscheinlichkeit als eine Erfindung Ovids gelten“40. Sogar in diesem letzten Fall beruft sich Ovid auf eine sehr alte griechische Tradition, die die Unterwelt und den Verstand von Personen, vor allem wenn dieser gestört war, verknüpfte. Padel glaubt, „underworld and mind are parallel habitats, therefore, of Madness, Erinyes, black dreams“41. Dies ist die Verbindung zwischen der Innenwelten der Menschen.

Ovid bricht plötzlich Junos Überlegungen ab und präsentiert dem Leser eine uia. Auf Worte folgen Taten. „Bei Ovid bricht der Monolog einfach ab“42, im Gegensatz zu Vergil43, bei dem es eine Formel gibt, um einen Monolog zu beenden. Dieser Weg führt zur Tiefe des Auernus44. Anderson schreibt: „Ovid begins a brief ecphrasis, in the formulaic manner, with est + noun“45. Dieser Pfad steht im Widerspruch zu dem, der in der ersten Ekphrase zum Himmel führt: est uia sublimis (MetOvidMet. I 168. I 168). Die Eibe wird erwähnt, denn ihre tödlichen Beeren „had a poetic association with the Underworld“46 . Darüber hinaus galten ihre Früchte in der Antike als giftig47, während die dunkle Farbe ihrer Blätter die Unterwelt andeutete. Die Einführung des Auernus in der Geschichte bricht nicht nur Junos Selbstgespräch ab, sondern auch die Erzählung Ovids über Athamas und Ino: Der Leser muss lernen, Geduld zu haben.

Interessant ist Bernbeck zufolge der Vergleich mit Vergil: „An die Stelle der epischen Erzählweise Vergils, der auf die übersichtliche Darstellung des Handlungsablaufs größte Sorgfalt verwendet und ihn gleichsam an einem nie abreißenden Faden weiterverfolgt, tritt bei Ovid ein sprunghaftes Nacheinander zweier unverbundener Szenen“48. Der Forscher hält diesen Abbruch für wenig episch. Anderson stellt auch beide Autoren gegenüber und besteht auf der verschiedenen Sichtweise Ovids hinsichtlich Vergils: „Instead of showing this strange world through the visitor’s eyes and feelings (as Vergil did with Aeneas), Ovid reduces the interest of the setting to its effect on the newly dead“49.

Der Pfad zur Unterwelt hat bei beiden Autoren dieselben Züge, nämlich: Steilheit – Dunkelheit – Ruhe – Schatten – Bleiche – Winter – Dornen – Unwissenheit. Dieser Weg beginnt mit dem Styx, einem kleinen Bach, der nur Nebel verursacht50. Dies ist der einzige Fluss der Unterwelt.

Überzeugend ist Padels Assoziation zwischen den Wildbächen der Unterwelt, der Dunkelheit und dem Wahnsinn: „In the mind which answers to Hades’ rivers is the dark inner flow of passion“51. Dieser Fluss „receives an epithet usually reserved for the calm, ‚dead‘ waters of the Cocytus“52, nämlich iners; auf dieser Linie bleibt auch Bömer, der erklärt: „Das Epitheton iners widerspricht der klassischen Vorstellung von den Wassern der Styx … und bezieht sich in Wirklichkeit auf den Kokytos, der zusammen mit dem Pyriphlegethon als ein Arm der Styx genannt wird (seit Hom. OdHomerOd. X 514. X 514) und in den Acheron fließt“53.

Der Weg aber ist nicht menschenleer. Eine große Menge von Manen, von Bildern54 läuft zur riesigen stygischen Stadt. Da sie neu sind, heißt das, dass sie diese Pfade nicht kennen und nicht wissen, wohin sie gehen müssen. Bernbeck kritisiert den Ausdruck simulacra functa sepulcris: „Diese Wortverbindung ist logisch nicht ganz einwandfrei“55, denn man begräbt tote Körper und nicht ihre Schatten. Haupt meint, Ovid beziehe sich auf jene, „die die Bestattung durchgemacht haben“56. Bömer interpretiert ihn folgendermaßen: „Totenseelen, die das Grab hinter sich gebracht haben“57. Meiner Ansicht nach handelt es sich nur um eine Metapher für Personen, die ihre Trauerfeier schon bekommen haben; dieser Meinung ist auch Anderson58. Übertrieben ist m.E., dass Bernbeck in Bezug auf diesen Ausdruck und den von umbrae recentes (434) schreibt: „Ovid hat in beiden Ausdrücken die epische Stilhöhe verlassen“59; Bömer übt Kritik an Bernbeck und beteuert „seine Ausführungen über die di Manes als ‚den unsterblichen Rest von Verstorbenen’ sind falsch …, bei Verg. a. O. sind die manes fere i. q. ‘ossa’ (Thes. VIIIPlutarchThes. VIII 299,50ff.)“60.

 

Nachdem Ovid den Pfad beschrieben hat, beschäftigt sich der Dichter mit dem Ziel der Reise, nämlich der Stadt von Auernus, denn „die eigentliche Unterwelt stellt Ovid als eine Stadt dar“61. Es scheint, dass es für diese Darstellung kein früheres Muster gibt62. Bömer meint, „die Epitheta niger … und ferus … sind in den Vorstellungen von der Unterwelt (Pforte, Palast, Reich u. dgl.) austauschbar“63. Nach Bernbeck „ergibt sich ein Tartarusbild ohne allen Schrecken und Schauder“64; diese Behauptung ist m.W. falsch, weil Ovid nicht den Anspruch hat, den Leser zu erschrecken, sondern Junos Reise zur Unterwelt darzustellen. Vielleicht hat dieser Forscher diese Hölle mit der christlichen, die ja Angst und Erschütterung verursacht, verwechselt. Die klassische Unterwelt ist eine Wohnung, ganz anders als die auf der Erde, aber darum nicht besser oder schlechter, weil man die Schatten mit den leibhaftigen Personen nicht vergleichen kann. Dieses Wort Dis „ist zusammengezogen aus diues, wie der griechische Name (Beiname des Αἵδης) Πλούτων von πλοῦτος stammt“65. Haupt fügt hinzu, dass der Reichtum, den die Erde dem Menschen gewährt, in der Antike eine den Menschen vom Hades geschickte Gabe war66.

Die zahllosen Zugänge der Stadt symbolisieren die Öffnung der Unterwelt für alle Menschen: Der Tod hat mit niemandem ein Problem, er nimmt alle auf. Bömer erläutert: „die Unterwelt hat für alle Platz, Hades ist πολυδέκτης“67. Dies ist ein Begriff, der von den Griechen kommt und von alters her gebräuchlich ist. Das Bild des MeerMeeres verstärkt die Idee, dass die Stadt neue Bewohner von überall her aufnimmt, dazu kommt noch ihre riesige, ausgedehnte Geräumigkeit. Genau wie das Meer trotz allen Wassers der darin mündenden Flüsse nie voll sein wird, so wird auch die Stadt der Unterwelt von den Schatten der Toten nie angefüllt sein68. Unmöglich ist, hier nicht an die berühmte Coplas a la muerte de su padre (25–31) von Jorge Manrique zu erinnern:

Nuestras vidas son los ríos

que van a dar a la mar

que es el morir;

allí van los señoríos

derechos a se acabar

y consumir;

allí los ríos caudales,

allí los otros medianos

y más chicos,

allegados son iguales,

los que viven por sus manos

y los ricos.

Natürlich stimmt Ovid mit dem letzten Teil der Strophe überhaupt nicht überein: Der Tod kann im Moment seines Erscheinens alle gleich machen, in seinem Königreich aber nicht.

Dann werden die Einwohner der Stadt dargestellt; die Schatten ohne Körper, ohne Blut, ohne Knochen. Die Leere ist der wichtigste Wesenzug des Todes; es sieht so aus, als gäbe es etwas, aber es gibt nichts. Dem Wort exsangues (443) steht die Beschreibung von Tisiphone entgegen: Nicht nur in ihrer Kleidung (blutbefleckter Mantel) und in ihren Komplementen (blutige Fackel), sondern auch im Gifttrank – überall gibt es Blut. Es ist das Leben und die sich von Blut nährende Macht des Bösen.

Aber leer oder nicht, jeder muss die Pflicht weiter erfüllen, die er auch auf der Erde hatte. Die Rangordnung wird streng respektiert, sogar im Jenseits. Der Tod macht alle ohne Ausnahme im Moment seines Erscheinens auf der Erde gleich; in seinem Königreich bleibt alles, was es war. Bömer erklärt, „es ist eine alte, seit der Nekyia bekannte und verbreitete Auffassung, daß der Tote in der Unterwelt den Beschäftigungen nachgeht, die er auch im Leben ausgeübt hat“69. Und Haupt denkt, Ovid „folgt auch Platon“70 in dieser Ansicht. Ovids Text ist überhaupt nicht revolutionär. Der Ausdruck imi tecta tyranni (444) „is clever, but hardly a subversive allusion to Augustus“71; Augustus lebte eigentlich nie in einem Palast, denn die Domus Augustana et Flauia auf dem Palatin wurden von seinen Nachkommen erbaut. Bömer erläutet, „das wäre wenigstens endlich einmal ein handfester Affront gegen den Kaiser“72 und sicher ist, dass Ovid kein Problem mit dem ‚Pater Patriae‘ haben wollte.

Juno setzt sich in Bewegung. Wie Bernbeck richtig sagt, unterbricht die Beschreibung der Unterwelt die Handlung unserer Geschichte: „Für volle 15 Verse bleibt der Leser im Unklaren, was Juno tut und was mit Ino geschieht“73. Zum ersten Mal beschreibt ein Schriftsteller den Besuch einer olympischen Gottheit in der Unterwelt; bis jetzt hatten entweder nur die Boten der Götter oder die Helden diesen Wohnort betreten. Dies ist m.W. die wichtigste Neuerung von Ovid in Bezug auf Homer und Vergil: Beide lassen einen Helden (Odysseus – Aeneas) zur Unterwelt hinabsteigen; Ovids Text übertrifft alle, denn er lässt eine Göttin – und was für eine Göttin, Jupiters Frau! – die Unterwelt betreten. Ovid spricht eine deutliche Botschaft aus: Um das Übel zu provozieren, muss man die Grenze der ‚Normalität‘ überschreiten.

Juno kommt in ‚die den Göttern verbotene Stadt‘, weil sie ein klares Ziel hat: Athamas und Ino den WahnsinnWahnsinn zu schicken. Bernbeck erklärt, warum Juno so deutlich die Erwartungen des Lesers übertrifft: „Als unsterbliche Wesen und Inbegriff des Lebens haben die Götter nichts mit der Welt der Toten gemein, und daher erscheint es unvorstellbar, daß sie das Reich des Todes betreten könnten“74. Darüber hinaus stellt die Unterwelt nicht nur eine Art von den Göttern ‚verbotener Stadt‘ dar, sondern diese müssen sogar vermeiden, in Kontakt mit den Göttern der Unterwelt zu treten: AtheneAthene betritt das Haus des NeidNeids nicht (Met. II 766–767OvidMet. II 766–767) und Ceres kann den Hunger nicht begleiten (Met. VIII 785OvidMet. VIII 785)75.

Letztlich liegt Ovids Wagemut in der Reise zur Unterwelt selbst, nicht im Gespräch mit den Erinnyen. In der Tat präsentiert auch Vergil Juno, indem sie mit Allekto direkt spricht, ohne Mittelsperson; JunoJuno aber steigt nicht zur Unterwelt hinab, sondern sie ruft Allekto von der Erde aus, damit die Rachegöttin aus dem Tartaros heraufkommt. Für die Römer konnte keiner der superi in die infera hineingehen. Allerdings waren allen die mit der Unterwelt verknüpften Beinamen von Juno und JupiterJupiter bekannt; Bömer erklärt, „wo [wir] im römischen Bereich etwa Iuno inferna oder Iuppiter Stygius begegnen (II 261), handelt es sich um poetische Konstruktionen oder Vorstellungen der Griechen“76. Nach ihm hatten die Griechen seit Aristophanes’ Die Frösche kein Problem damit, dass ein olympischer Gott in die Unterwelt ging.

Der Anlass der Reise wurde von Ovid selbst ausgesprochen: odia et irae (448). Der HassHass führt unabänderlich zur Hölle. Bömer beteuert, „odia et irae werden hier ohne Rücksicht auf philosophische Differenzierungen (Cic. Tusc. IV 21CiceroTusc. IV 21 odium ira inueterata: Chrysipp. Frg. 397f. SVF III 96fChrysipposFrg. 397f. SVF III 96f von Chrysippos .) poetisch zu einem Hendiadyoin, dem die inhomogene, vielleicht nur äußerlich zur Vermeidung der Synaloephe gewählte Verbindung (IV 341) von Plural und Singular einen besonderen Reiz verleiht“77. Junos Anwesenheit in der Unterwelt ist die fabelhafte Weise, die Ovid gefunden hat, um die ‚Größe‘ des Hasses von JunoJuno zu zeigen: Sie ist zu allem fähig, um ihr Ziel zu erreichen, sogar den Weg und den Ort zu betreten, die kein anderer olympischer Gott vor ihr betreten hatte. Schließlich entspricht die Reise von Jupiters Gemahlin in die Unterwelt dem Maße ihres Hasses und ihres Zorns: Die sind so groß, dass sie die kosmische Ordnung zu brechen wagen.

Daraufhin bereitet Ovid den Leser auf Junos Rede vor, und zwar durch aufeinander folgende Geräusche von Stimmen, die ihre Ankunft hervorruft. Zunächst ächzt die Schwelle, wie auch Charon seufzte, als Aeneas in das Boot stieg78. Im Gegensatz zu den Schatten der Toten ist Juno nicht gewichtlos. Mit diesem Bild vergleicht Ovid zwei Szenen: genau wie sich die Schwelle der Unterwelt unter Juno bog, so werden Ino und Athamas’ Flügeltore aus Ahorn vor dem Erscheinen von Tisiphones erblassen. Der Unterschied liegt darin, dass die Erinnyen die Göttin erkennen, aufstehen und Juno entgegengehen; Ino und Athamas aber fliehen entsetzt vor Tisiphone.

Dann bellt Kerberos79 mit seinen drei Mäulern einstimmig80. Merkel zieht die Lektüre von λ3 hinzu: simul. Bei Vergil spielte Kerberos eine bestimmte literarische Funktion: Die Sibylle musste ihn durch eine Honigtorte und mit Zauberkraut ablenken81; bei Ovid, „hat der Vorgang … keine dramaturgische Bedeutung, Iuno nimmt auch von den tres latratus keine Notiz“82. Es sieht so aus, als ob dieses Bild ein Tribut an die Tradition sei83. Zuletzt ruft Juno die Erinnyen.