Vergiftete Hoffnung

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Kapitel 3

Mit der Straßenbahn zum Flughafen zu fahren, obwohl ihr Hotel ganz in der Nähe eines Bahnhofes liegt, stellt sich als idiotischer Fehler heraus. Adam und Jo sind eine gefühlte Ewigkeit unterwegs und müssen bei ihrem Umstieg nahe des Camp Nou mit einem gläsernen Lift so tief in die Erde hinabfahren, dass Panik Jos Kehle zuschnürt. In den folgenden, nicht enden wollenden 32 Minuten tief im Verdauungstrakt der Stadt benötigt sie ihre ganze Energie dafür, einfach sitzenzubleiben, statt panisch schreiend durch den Waggon zu rennen. Eine junge Frau, die einige Stationen nach ihnen einsteigt, beginnt Sekunden später, heftig zu husten, erst fast verschämt, dann immer lauter, schließlich mit blutigem Auswurf in ihr Taschentuch. Jo schließt die Augen. Dies ist die Apokalypse. Ein Horrorvirus bedroht die Menschheit. Nur einige wenige haben es in dieses unterirdische System geschafft, doch eine der Kranken ist ihnen gefolgt und wird nun alle, die bis eben noch Hoffnung aufs Überleben hatten, anstecken.

Als Adam ihre Hand zart drückt, schreit Jo auf. Die Menschen in der Bahn reagieren darauf ebenso wenig wie zuvor auf die hustende junge Frau, die sich energisch an eine Haltestange klammert.

„Ich wollte dich nicht erschrecken.“

„Schon gut. Mir ist ein bisschen schwummerig.“

„Du sahst beim Frühstück schon nicht so gut aus.“

„Kaum eine Woche zusammen unterwegs, schon hast du dich an mir sattgesehen.“ Jo versucht ein Lächeln, es gelingt nur schief.

„Was, nein, so ein Unsinn, gar nicht.“ Adams Kuss trifft nur ihre Stirn, wie ein Streifschuss. „Jo, du bist total heiß.“

„Danke.“ Sie grinst. Ihr Kopf dröhnt.

„Nein, ich meine, natürlich, aber. Deine Stirn. Du glühst.“

Die Apokalypse. Jo schließt die Augen. So geht also alles zu Ende. Ihr ist zum Heulen zumute. Sie will zu Luca.

„Merkst du denn nichts?“

„Was?“

„Du hast Fieber, Jo. Ganz eindeutig.“

„Ich habe nie Fieber.“ Sie dreht sich grob aus seinem Versuch einer Umarmung. Alles fühlt sich falsch an.

„Wir müssen dir am Flughafen Medikamente besorgen.“

„Nein, müssen wir nicht. Es geht mir blendend.“

Jo sieht sich nach der hustenden Frau um, doch die muss in der Zwischenzeit ausgestiegen sein, ohne, dass sie es mitbekommen hat. Noch zwei Stationen bis zum Flughafen. Adam kramt in seiner Tasche nach Wasser und reicht ihr eine Flasche. Jo winkt ab und als er nach ihrer Hand greift, zuckt sie zurück und schiebt sie zwischen ihre Knie. Adams Blick, der irgendwo zwischen Irritation und Verletztheit changiert, ignoriert sie so gut wie möglich.

Mit der apokalyptischen Bahnfahrt ist das Drama noch lange nicht vorbei. Am Flughafen angekommen, stellen Jo und Adam fest, die S-Bahn-Haltestelle ist noch ein gutes Stück von ihrem Terminal entfernt. Um den provisorisch wirkenden Glasschlauch, der über die Straße führt, zu erreichen, müssen sie zunächst die Rolltreppe nehmen. Als sie auf die gemächlich schlängelnde Raupe zulaufen, stürzt vor ihnen eine ältere Frau, vom Gewicht ihres Koffers aus der Balance gebracht, die rollenden Stufen hinunter. Missmutig und wackelig auf den Beinen stapft Jo auf die Steintreppe nebenan zu und zerrt ihren Koffer knallend hinter sich her. Adam ist bemüht, Schritt zu halten. Als sie endlich das Gate erreichen, versucht er, sie mit einem Witz aufzuheitern, doch Jo zeigt keine Reaktion. Sie spürt, dass ihr Verhalten ihn irritiert, diese Seite kennt er nicht an ihr. Doch sie kann sich aus dem negativen Sog nicht befreien. Das Fieber jagt ihr die Gedanken durch den Kopf wie Flugpferde.

Der schlimmste von allen: Was, wenn sie abstürzt? Ihren Sohn niemals wiedersieht und mit der Frage zurücklässt, mit wem seine Mama da vom Himmel gefallen ist? Was wird Hans ihm erzählen? Wird er ihr Andenken zärtlich bewahren oder der Wut über den Betrug die Kontrolle über seine Erzählungen lassen? Plötzlich muss Jo an den Film „Stadt der Illusionen“ mit Kirk Douglas als rücksichtslosem Regisseur denken. Um in Ruhe mit einem Autor am Drehbuch seines Films arbeiten zu können, beauftragt Douglas einen anderen Mann, der Frau des Schriftstellers Gesellschaft zu leisten. Als der Autor nach Wochen das Drehbuch erfolgreich geschrieben hat und voll liebevoller Sehnsucht zu seiner Frau zurückkehren will, ist die zwischenzeitlich mit dem anderen Mann, in den sie sich natürlich verliebt hat, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Jo möchte losheulen, aber sie würgt die Tränen verzweifelt ab. Wie konnte sie nur ohne Luca und mit einer unheilvollen Kette aus Lügen im Rückspiegel ihrer Tage in diesen Urlaub fliegen? Was hat sie sich bloß dabei gedacht?

Adam kommt mit einem Becher, aus dem heißer Dampf aufsteigt, und einem Schokoriegel zurück. Jo hat gar nicht gemerkt, dass er nicht mehr neben ihr sitzt. Er hält ihr das Getränk hin.

„Ich kann jetzt keinen Kaffee trinken, Adam. Mir ist eh schon heiß. Und übel außerdem.“ Sie winkt ab.

„Das ist Tee.“ Adam lächelt verschwörerisch. „Mit einem Schuss Whisky. Das ist die beste Erkältungsmedizin.“

Jo schließt die Augen. „Danke.“ Ihre Stimme, ein Flüstern.

Adam setzt sich ganz nah zu ihr. Sie möchte von ihm abrücken, aber neben ihr endet die Bank und sie würde auf den Steinboden knallen. „Tut mir leid, dass es dir nicht gut geht.“ Sie nickt.

Als die Durchsage ertönt, ihr Flug habe zwei Stunden Verspätung, fängt Jo doch an zu weinen. Adams Versuch, ihren schüttelnden Körper in die Arme zu schließen, weicht sie aus und rennt los, um eine Toilette zu suchen. In der Kabine deckt sie die Brille mit mehreren Schichten dünnem Klopapier ab, auf denen sie sich erschöpft niederlässt. Ihr Handy zeigt eine neue Nachricht. Hans hat ein Foto geschickt, auf dem er mit Luca in die Kamera grinst. Obama klemmt mit missmutigem Gesichtsausdruck zwischen den beiden, Ohren aufgestellt, Schnurrhaare in Alarmposition. „Komm gut heim. Wir lieben dich!“ steht da, durchbrochen von unzähligen bunten Herzen. Darunter eine Sprachnachricht. Als Jo sie abspielt, purzelt Lucas Stimme aus dem Gerät, im Hintergrund hört sie Obama unwillig maunzen. „Mama, die Herzen sind alle von mir. Kommst du schnell zu uns nach Hause, bitte? Und du musst mich auch küssen, wenn ich dann schon schlafe.“ Pause. „Mama. Ich lieb’ dich. Tschüss!“

Jo heult hemmungslos. Sie will nichts lieber, als ihrem Kind eine Nachricht zurückzusprechen, aber sie möchte ihn nicht mit ihrer tränenschweren Stimme erschrecken. Also tippt sie zitternd: „Viel Verkehr heute. Wird leider später. Liebe dich auch, Cookie. Küsse euch und freue mich, bald daheim zu sein.“

Zurück im Wartebereich am Gate, kann sie Adam zunächst nicht finden. Kurz glaubt sie, er habe sich einfach aus dem Staub gemacht. Aber er ist noch da, wenn auch nicht mit allen Sinnen: In ganz verrenkter Pose liegt er auf der Sitzbank über ihren Taschen und schnarcht laut. Sein vollkommen friedlicher Gesichtsausdruck steht in totalem Gegensatz zu seinem verknoteten Körper. Dass er völlig ungerührt von ihrem persönlichen Drama einschlafen kann, ärgert Jo, auch wenn sie weiß, wie idiotisch das ist. Unsanft schiebt sie seine Beine zur Seite, um neben ihm zu sitzen. Sein linker Fuß verhakt sich im Griff ihrer Reisetasche, der rechte knallt auf die Fliesen, wo er ihren Teebecher trifft. Fasziniert beobachtet Jo, wie der Schuh durch die warme Lache rutscht, als führe er ein Eigenleben. Adam schläft davon unbeeindruckt weiter.

Die Zeiger der Uhr drehen unendlich langsam ihre Runden übers Ziffernblatt. Der Flug am benachbarten Gate konnte mittlerweile starten und die Halle ist deutlich leerer. Jo rechnet aus, bis wann sie spätestens abheben müssten, um zeitlich nicht in die Nachtruhe am Frankfurter Flughafen zu kommen. Der Gedanke daran setzt ihre Panik erneut in Gang. Zwei, drei Stunden Verspätung kann sie zuhause immer mit den angeblichen Zuständen auf französischen Autobahnen erklären, sollte sie aber erst am nächsten Morgen vom Flughafen wegkommen, dann bricht ihr Lügengebäude zusammen, bevor sie die Chance hat, Hans die Wahrheit zu sagen. Sie bittet einen Gott, von dessen Existenz sie nicht vollständig überzeugt ist, mit stummen Lippen, dass er ihr die Chance lässt, selbst reinen Tisch zu machen – mit Hans ebenso wie mit Adam. Und versucht dabei, die Tatsache zu verdrängen, dass sie sich dafür erst darüber klarwerden muss, was sie selbst eigentlich will.

Ob sie mit Hans vielleicht ebenfalls ein paar Tage wegfahren soll, nur sie beide? In den letzten Monaten haben sie vor allem Alltag miteinander erlebt, zu dritt in ihre kleine Wohnung gepfercht. Und bevor Adam in ihr Leben gestolpert ist, waren ihre Versuche, auch Momente mit Hans alleine zu erleben, sicher intensiver. Vielleicht könnte ihr eine romantische Auszeit zu zweit helfen, zu erspüren, wohin ihr eigener Weg von hier führen soll – und Luca könnte in diesen Tagen zu seinem Vater, der sie ohnehin ständig nervt, weil er mehr Zeit mit ihm verbringen möchte. Just während ihrer Tage in Barcelona konnte er den Sohn allerdings nicht nehmen, weil er bis Ende nächster Woche selbst verreist ist – also ausgerechnet in den Herbstferien seines Kindes. Was sie schon wieder reichlich typisch findet, aber das ist ein ganz anderes Thema. Zu viele Männer in ihrem Leben. Jo seufzt.

Das Handy vibriert, doch Jos Hoffnung, noch eine Nachricht ihres Sohnes erhalten zu haben, bestätigt sich nicht. Stattdessen leuchtet ein Name vom Display, den sie in ihrer Wut und Enttäuschung vollkommen aus ihren Gedanken verbannt hatte: Finn. Sie holt tief Luft. Dieser Tag scheint ihr keine Pause zu gönnen. Finn Ringer, der aufgehende Star am Himmel von Mainz 05. Der sein Coming-out mithilfe ihres besten Freundes Jonas geplant hatte. Was sein Berater nicht zulassen wollte, weshalb Jonas sterben musste. Finn, der danach nicht den Mut besessen hat, öffentlich zu machen, wie er lebt und liebt, sondern weiterhin mit einer jungen Frau am Arm zu offiziellen Terminen erscheint. Finn, der sie angefleht hat, sein Geheimnis nicht zu verraten. Finn, auf den sie eine solche Wut hat, dass sie manches Mal schon aus dem Stadion gegangen ist, wenn sein Name im Kader auftauchte, was immer häufiger der Fall ist. Sie knirscht unmerklich mit den Zähnen. Kurz ist sie versucht, die Nachricht zu löschen, doch dann siegt ihre berufliche Neugierde und sie öffnet missmutig das digitale Kuvert.

 

„Jo, ich weiß, bin nicht dein Lieblingsmensch. Aber brauche deine Hilfe. Ist nicht für mich selbst. Hier stimmt was nicht mit einem Spieler. Mehr will ich übers Handy nicht sagen. Können wir uns sehen? Am besten gleich morgen? Wann? Wo? Finn.“

Jo bläst Luft durch ihre Zähne. Der hat ja Nerven. Sich mit so etwas ausgerechnet an sie zu wenden. Denkt er, dass sie auch mit ihrem Auto aus der Kurve fliegen und künftig den Engeln beim Kicken zuschauen möchte? Sie spürt, dass die Wut sich in ihr ausbreitet wie ein Flächenbrand und löscht die Nachricht nun doch. Als sie aufschaut, wird gerade ihr Flug auf dem Gate-Display angezeigt. Das Boarding beginnt in 15 Minuten, ihre Maschine wird die letzte sein, die heute noch den Flughafen von Barcelona verlässt. In einer wilden Mischung aus Erleichterung und Schreck fährt Jo aus ihrer verknoteten Sitzposition hoch und schüttelt Adam unsanft.

„Wach auf. Wir fliegen nach Hause. Adam. Es geht los.“

Er dreht sich im Aufwachen von Jo weg und rubbelt die müden Augen mit zwei Fäusten, wie ein kleiner Junge. Dann nimmt Adam seinen nassen Schuh in der Teelache wahr und der Blick, mit dem er sie bedenkt, ist nicht gerade freundlich. Stumm greift er nach seinem Rucksack und reiht sich, ohne auf sie zu warten, hinter den anderen Passagier*innen ein. Jo starrt ihm nach. Natürlich weiß sie, mit der kalten Schulter reagiert er auf ihr seltsames Verhalten vorhin und es wäre eigentlich an ihr, sich zu entschuldigen. Stattdessen nimmt sie das Ventil dankbar an, welches er ihr unbewusst für die Wut auf sich selbst, die Verspätung und Finn bietet und bleibt wie ein bockiges Kind so lange auf ihrem Platz sitzen, bis Adam bereits im Flugzeug verschwunden ist. Am liebsten würde sie ihm ganz aus dem Weg gehen, aber ihr bleibt nichts anderes übrig, als sich zu ihm zu setzen und diesen Flug irgendwie hinter sich zu bringen. Er scheint jedoch auf ihre Gesellschaft ebenso wenig Lust zu haben. Als sie bei ihrer Sitzreihe ankommt, stellt er sich schlafend, was er anschließend während des ganzen Fluges beibehält.

So hoch sie in den vergangenen Tagen unter der spanischen Sonne geflogen ist, so tief stürzt Jo in diesen zähen Stunden im Flugzeug emotional ab. Es ist, als hätte jemand ihren Glücksstecker gezogen. Zwar fühlt das Erwachen sich an wie die gerechte Strafe für ihre monatelangen Lügen und Heimlichtuereien, dennoch kann sie ihre Wut auf Adam nicht kontrollieren. Über den Wolken schwört sie sich in der lautlosen, dunklen Nacht, ihn nach diesem Tag niemals wiederzusehen. Es war ein Fehler, sich auf diese Geschichte überhaupt einzulassen, das sieht sie nun ganz deutlich. Eine Flucht aus ihrem Alltag voller Verpflichtungen und vor der Angst, Hans vollständig in ihr Leben und das ihres Kindes zu lassen. Ein Flirt mit dem Leben, das sie als Mutter schon vor Jahren aufgegeben hat. Ein Hirngespinst. Nichts von Dauer. Ende. Aus.

Am Flughafen in Frankfurt verabschieden Jo und Adam sich kühl und umständlich voneinander, dann steigt er in die S9 nach Wiesbaden und sie in die Regionalbahn, die sie zurückbringt nach Mainz, zu ihrem Kind, in ihren Alltag. Den immer noch glühenden Kopf an die kühle Scheibe des Zuges gelegt, beobachtet Jo ihre eigenen Tränen, ganz so, als hätte sie mit der Person in der Spiegelung oder deren Kummer nichts zu tun.

Kapitel 4

Jo wird davon wach, dass ihre Nase kitzelt. Als sie sich ins Gesicht greift, um daran zu kratzen, landet ihre Hand in Obamas weichem Fell. Der seufzt theatralisch und dreht sich so auf den Rücken, dass Jo keine Luft mehr bekommt unter seinem dicken Pelz.

„Puffel, I love you too, aber lass mich bitte am Leben.“

Der Kater reagiert mit einem empörten Schlag nach ihrer Hand, als sie sich erdreistet, ihn von ihrem Gesicht zu heben. Sie tastet im Halbdunkel nach dem Kissen neben sich, es ist leer. Vermutlich ist Hans bereits zur Arbeit gegangen.

Jos Magen krampft sich zusammen. Das Chaos der letzten Wochen trifft sie schmerzhaft. Adam. Hans. Luca. Adams Hände. Hans, der eine ganze Woche alleine mit ihrem Kind verbringt. Luca, der Erstklässler, der letzte Nacht unter müden Lidern in ihre Küsse gemurmelt hat, wie sehr er sich freut, sie wiederzusehen. Hans, der für sie gekocht hatte, Spaghetti Arrabiata, obwohl er selbst kein scharfes Essen mag. Dazu Merlot aus bauchigen Gläsern und viele Fragen zum Workshop, den sie angeblich in der letzten Woche in der Bretagne besucht hat. „Sportjournalismus heute“, sie hat ihm die Infoblätter gezeigt im Vorfeld. Erklärt, wieso es wichtig für sie ist, sich weiterzubilden auf dem Gebiet.

Weniger, weil sie das inhaltlich nötig hätte, als um zu beweisen, sie hat die neue Stelle nicht als Trostpflaster gegen den Tod ihres besten Freundes bekommen, sondern, weil sie das kann, was der Posten erfordert. Nur deswegen ist Sportchef Dave Wright auf sie zugekommen und hat ihr reichlich überraschend angeboten, Jonas’ Nachfolgerin im Sport zu werden. Was Jo zunächst vollkommen absurd erschien, dann aber schnell sympathisch wurde, so dass sie das Angebot schließlich annahm. Seit Saisonbeginn begleitet sie die 05er nun nicht mehr nur als Fan, sondern befasst sich auch journalistisch noch intensiver mit dem Verein und hat in der kurzen Zeit bereits festgestellt, wie sehr ihr die Aufgabe liegt.

Die Lüge war eine leichte gewesen. Hans hatte selbst angeboten, eine Woche bei Luca zu bleiben, damit Jo sich in dem Workshop weiterbilden konnte. Was sie ursprünglich auch wollte – bis die Geschichte mit Adam immer weiter ins Rollen kam und der eine Woche Auszeit in Barcelona vorgeschlagen hatte. Warum sie darauf eingegangen war, das funkt jede Faser ihres Körpers ganz deutlich, doch gerade versucht Jo, sich einzureden, was für ein vollkommener Blödsinn die ganze Geschichte gewesen ist. Und dass sie abgeschlossen sein muss, keine Fortsetzung mehr haben wird, in ihrer Vergangenheit liegt, unumstößlich.

Die Schritte, die leise ins Zimmer tapsen, erkennt Jo sofort als die ihres Sohnes. Sie weiß, wie gerne Luca sie weckt und schließt ihre Augen daher fest, um ihm die Gelegenheit zu geben. Auch durch die geschlossenen Lider nimmt sie wahr, wie sich das Licht im Schlafzimmer verändert, weil die Vorhänge geöffnet werden. Sie runzelt überrascht die Stirn. Seit wann schafft es Luca, die selbst zu bewegen? Der Duft, der sie trifft, ist eine Mischung aus allzu Vertrautem. Lucas Kinderatem, Kaffee, frisch gebrüht, feuchtes Papier und Hans’ Rasierwasser. Jo hört flüsternde Stimmen, schielt aus einem Auge ins helle Licht und schaut in zwei erwartungsvolle Gesichter. Ihr Herz macht einen frohen Sprung.

„Hase! Ich dachte, du bist im Präsidium?“

Hans strahlt, stolz auf seinen Coup. „Nee. Morgen ist doch Feiertag und ich habe heute frei genommen. Muss erst am Mittwoch wieder hin. Wir haben also zwei Tage zu dritt.“

Er beugt sich zu ihr und sein Kuss ist frei von Beiläufigkeit und Alltag. Es ist ein Kuss, den sie gerne ausbauen würde, was aber natürlich mit dem erwartungsvoll dreinschauenden Luca in ihrer Mitte nicht möglich ist. Hans drückt ihre Hand und zwinkert ihr zu und Jo erinnert sich dunkel, dass sie letzte Nacht eingeschlafen sein muss, während er in der Küche den Tisch abgeräumt hat. Kurz hatte sie da noch davon geträumt, sich an ihn zu drängen, wenn er zu ihr ins Bett kommen würde, ihn zu sich zu ziehen, mit Küssen zu bedecken, anzufassen, in sich zu spüren – dann hat der Schlaf sie mit sich fortgezogen. Nun bedauert sie das.

„Mama, hier ist deine neue Ahzett!“ Luca legt die nassgeregnete Allgemeine Zeitung auf ihrer Brust ab und lässt sich mit lauten Küssen in sie fallen. Jo spürt ihren Nacken rebellieren unter seiner Ruppigkeit, verkneift sich aber einen Tadel und streichelt seine wilde Haarpracht. „Dich müssen wir bald mal wieder zum Friseur bringen, Cookie!“

„Nee, Mama, das trägt man heute so.“

„Ach was, ist das so? Das musst du deiner alten Mutter erklären!“ Sie kitzelt ihn unter den Achseln, Luca strampelt und schreit.

„Mama, nicht, dein Kaffee!“ Seine nackten Füße stehen in der Luft und er bemüht sich sichtlich, sie nicht in Richtung des Nachttischs und in ihre Tasse abstürzen zu lassen.

„Kein Kaffeefußbad?“ Sie zieht ihn weiter ins Bett und mit einem lauten Schnaufen lässt ihr Sohn die Füße auf die Decke fallen.

„Mama, du bist uuunmöööglich!“ Er kichert und Jo bedeckt sein Gesicht und den blonden Schopf mit Küssen.

„Ich habe dich so vermisst, Cookie.“

„Mama. Ich bin kein kleines Kind mehr.“

„Ach nein? Du kommst mir aber noch ganz schön kurz vor.“

„Aber ich hab’ nicht einmal geweint, weil du weg warst. Hans sagt, ich war ganz schön erwachsen.“ Stolz richtet er sich auf.

„Du warst wirklich super, Luke. Komm, lass uns mal Frühstück machen, dann kann Mama in Ruhe den ersten Kaffee trinken und in der Zeitung schauen, was die 05er in ihrer Abwesenheit gemacht haben, okay?“ Er zieht den Jungen mit sich.

„Luke?“ Jo schaut skeptisch von einem zum anderen.

„Skywalker!“, rufen die beiden wie aus einem Mund. Jo erinnert sich vage, dass sie einen Star-Wars-Marathon zusammen machen wollten – offenbar hat der also stattgefunden.

Der Kaffee schmeckt nach Zuhause. Jo nippt vorsichtig, genießt dabei die Wärme in ihren Händen und den Geruch, der dampfend aus der Tasse aufsteigt. Die ersten beiden Seiten der Zeitung sind durch den Regen völlig verklebt. Sie schüttelt den Sport aus dem hinteren Teil und streicht die Seiten glatt, als er in ihren Schoß fällt. In diesem Moment klingelt ihr Handy auf dem Nachttisch.

„Was zur Hölle?“ Jo betrachtet ungläubig die Nummer. Es ist Finn. „Du traust dich ja was“, murmelt sie hinter zusammengebissenen Zähnen und lässt das Handy weiter klingeln.

Auf den Sportseiten überfliegt Jo die Berichte zu den anstehenden WM-Qualifikationsspielen gegen Nordirland und Aserbaidschan. Sie kann es nicht konkret begründen, aber die Nationalmannschaft interessiert sie aktuell kein bisschen. Schade, dass deren Spiele der Bundesliga gerade eine Pause verordnen, sie wäre gern mit Luca ins Stadion gegangen am Wochenende. So müssen sie sich eine Woche gedulden, dann steht ein Heimspiel gegen den Hamburger SV an. Wenigstens mal wieder eine ausverkaufte Partie. Sie seufzt und erschrickt, als im nächsten Moment ihr Handy piepst. Finn hat ihr eine Nachricht auf die Mobilbox gesprochen.

„Hey Jo.“ Pause „Darf ich dich überhaupt so nennen?“ Nervöses Lachen. „Es. Ich würde wirklich gerne mit dir sprechen.“ Sie kann ihn atmen hören, es klingt schwerfällig. „Schau, ich weiß, dass du auf mich nicht gut zu sprechen bist. Aber es geht nicht um mich. Jemand, der sie verdient hat, braucht deine Hilfe. Bitte melde dich doch mal bei mir. Du bist der einzige Mensch, der mir einfällt.“

Wütend schnaubt sie durch die Nase. Vor einem Jahr war Jonas der einzige Mensch, der ihm eingefallen ist. Und was hat das ihrem besten Freund gebracht? Den Tod. Was bildet sich dieser kleine, überbewertete Kicker eigentlich ein, sie mit seinem Schwachsinn zu belästigen? Das Handy piepst erneut. Eine SMS.

„Hast du die Nachricht abgehört?“

„Fick dich, Finn. Lass mich in Ruhe“, tippt Jo wütend.

„Okay, fair.“

„Was weißt du denn über Fairness?“

Finn Arscholch schreibt.

Online.

Online.

Finn Arscholch schreibt.

Online.

„Gib mir fünf Minuten.“

„Wieso sollte ich?“

Finn Arscholc h schreibt.

Online.

Finn Arscholch schreibt.

Jo muss lachen. Nicht, weil sie Finn statt des Nachnamens in ihrem virtuellen Telefonbuch ein „Arschloch“ verpasst hat, sondern, weil sie beim Abspeichern seiner Nummer offenbar so neben sich stand, dass sie das Wort falsch geschrieben hat. Dann ploppt ein Foto im Chat auf: ein schwarzer Jugendlicher mit neugierigen Augen, im roten Trikot der aktuellen Saison des 1. FSV Mainz 05.

„Sagt er dir was?“

 

„Nein. Sollte er?“

„Das ist Ugonna Okorie.“

„Okaaay.“

„Er ist in Schwierigkeiten.“

„Und warum ist das mein Problem?“

Finn Arscholch schreibt.

Online.

Finn Arscholch schreibt.

Am Küchentisch schlägt Luca laut und vernehmlich sein Messer auf den Rand seines Tellers. „Maaaamaaa. Es gibt Früüüühstück.“ Jo lässt das Handy ohne einen weiteren Blick aufs Bett sinken und verlässt das Schlafzimmer. Sie hat keine Lust, sich mit Finn und dem, was ihn beschäftigt, auseinanderzusetzen. Wie dumm von ihr, dass sie seine Nummer nicht schon vor Monaten gesperrt hat, dann könnte er sie jetzt einfach nicht erreichen. Sie beschließt, das nach dem Essen nachzuholen, um die Verbindung zwischen sich und dem Spieler zu kappen. Denn Finn kann sie mal kreuzweise. Und Ugonna, dings, unbekannterweise auch.