Im Schatten der Dämmerung

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Ungestört passierten sie die Ruine. Brontes stieg von Naskur und übergab Legarus die Zügel. Mit sich selbst zufrieden ging er auf die herrenlosen Pferde zu, bestieg eines und nahm ein weiteres bei den Zügeln.

Mit einem breiten Grinsen überholte er Legarus und führte ihn westwärts der Mauer entlang zu Asylma.

Asylma versteckte sich hinter einem kleinen Busch nicht unweit vom Spalt und lehnte sich erschöpft gegen die Stadtmauer. Beide waren erfreut sie unversehrt wieder zu sehen. Mit seinem neu gewonnenen Elan ritt Brontes voraus, doch dann zog er erschrocken die Zügel. Das Pferd reagierte nervös, weil es sich noch nicht an seinen neuen Reiter gewöhnt hatte. Legarus schloss auf und verengte besorgt seine Augen. Asylma war nicht allein. Im Spalt lag ein Soldat. Seine Kehle war durchgeschnitten. Der Schrecken stand ihm noch im Gesicht. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, war diesem armen Kerl nicht einmal die Zeit geblieben, irgendeinen vernehmlichen Ton von sich zu geben. Asylma hatte ihn soweit nach vorne gezogen, dass er den Spalt vollständig verstopfte und seine ausgestreckten Arme verhinderten, dass er zurückgezogen werden konnte.

Mit diesem Bild vor Augen verging Brontes das Grinsen. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Sein Mund öffnete und schloss sich mehrmals, bevor er anerkennend nickte.

„Du scheinst einiges auf dem Kerbholz zu haben, junges Fräulein“, meinte Brontes und zwinkerte ihr freundlich zu. Asylma quittierte diese Bemerkung mit einem etwas frechen Grinsen. Legarus musste erst einen Kloß herunterschlucken und versuchte sie zu tadeln. Er stellte sich dabei aber so wenig überzeugend an, dass sie es mit einem Achselzucken überspielte.

Der Aufbruch

„Wir können hier nicht verweilen“, meldete sich der Schmied wieder zu Wort. „Sie werden unseren Spuren folgen!“ Er überlegte kurz. „Du hast gesagt du möchtest nach Osten in die Berge?“ Auch wenn seine Stimme fest und überzeugend klang, so war doch ein leiser Hauch von Zweifel zu vernehmen. Ihm fiel seine Unsicherheit auf und so fuhr er entschlossener fort. „Dann sollten wir nach Norden in den Wald. Kommt, lasst uns reiten!“ Er zog an seinen Zügeln und lenkte sein Pferd nach Norden.

Legarus hatte nichts dagegen einzuwenden. Ohnehin wollte er diesen Weg einschlagen. Er blickte zurück. Etwas stimmte hier nicht, doch auch darauf fehlte ihm eine Antwort.

Für Asylma war das Pferd zwar zu groß, doch sie schlug sich gut. Ohne Hilfe schaffte sie es in den Sattel und ihrer Haltung war anzusehen, dass sie schon oft geritten war. Sie war auch die erste die Brontes im zügigen Galopp folgte. Sie waren zwar entkommen, aber konnten sicher sein, dass Brandolf sie nicht so einfach davonkommen lassen würde. Was immer seine Absicht gewesen war, er würde versuchen sie einzuholen. Und sei es nur, um seine Macht zu untermauern. Aber was war sein Plan? So sehr sich Legarus einreden wollte, dass es bloß Zufall war, es ergab einfach keinen Sinn. Warum wollte Brandolf sie festnehmen und woher wusste er, wer er war? Und wer hatte Brontes gewarnt? Alles war so schnell gegangen und bei dieser Flucht wirkte nicht allein ihr Glück und auch nicht Brontes' Geschick. Warum brauchten die Verfolger so lange um sich zu formieren? Warum hatten die Soldaten an der Ruine ihre Stellung verlassen?

Der Boden raste unter ihnen hinweg. Nur die harten Hufschläge durchbrachen die trügerische Stille, während die ersten noch zarten Wiesenblumen unter ihrem Gewicht knickten. Doch diese Idylle schmeckte Legarus gar nicht. Weit hinter ihnen sah er eine mächtige Staubwolke aufsteigen. Ein beunruhigendes Gefühl bemächtigte sich seiner. Dinge gerieten ins Rollen, die nicht mehr aufzuhalten waren. Fragen quälten ihn, Fragen, deren Antworten nur noch mehr Fragen aufwarfen. Seine tiefsitzenden Sorgen, drängte er zurück, da er sich nun dringenderen Problemen widmen musste.

„Brontes siehst du die Anhöhe dort?“

„Ja“, rief der Schmied in Legarus' Richtung, da der Wind und die harten Hufschläge die Verständigung fast unmöglich machten. Hinzu kam, dass ihre neu erlangten Rösser sich nur widerwillig zu diesem mörderischen Tempo hinreißen lassen wollten. Nur instinktiv wollten sie mit Naskur Schritt halten.

Legarus drehte seinen Körper nach hinten und vertraute darauf, dass Naskur die Richtung beibehielt und auf den Weg achtete.

„Reitet dorthin, und wenn das Gelände leicht abschüssig wird siehst du nordwestlich einen Pfad der in den Wald führt. Folge ihm bis du einen befestigten Graben durchqueren musst, dann dringe an einer lichten Stelle in den Wald und gehe quer zum Pfad etwa tauschend Schritt. Dort findest du eine Hütte. Übernachtet dort. Ich werde in der Nacht zu euch stoßen.“

„Was hast du vor?“ Brontes gefiel es nicht, dass sie sich trennen sollten.

„Der Boden ist trocken. Sie brauchen nur unserer Staubwolke zu folgen. Bis zum Abend werden sie diese nicht verlieren, selbst wenn sie nicht mit uns Schritt halten würden. Ich werde eine andere Spur legen, der sie folgen können.“

„Das schmeckt mir nicht“, hielt Brontes widerwillig dagegen.

„Ich folge euch bis zur Anhöhe, aber lasse mich zurückfallen.“

Brontes reagierte nicht darauf.

„Vertrau mir. Sie werden mir folgen.“

„Das macht mir ja Sorgen.“

„Sollten sie mich einholen werden sie es bereuen.“

Brontes wollte Legarus nicht allein der Gefahr aussetzen.

„Tue es für Asylma“, redete Legarus ihm ins Gewissen.

Brontes wandte seinen Blick zur Seite. Sein Brummen war wegen der harten Hufschläge nicht zu hören und auch sein darauf folgendes Nicken, war wegen dem Galopp nicht zu erkennen. Er spornte sein Pferd an und dieses zog widerwillig an Naskur vorbei. Legarus sprach Asylma Mut zu und versprach ihr, bald wieder bei ihr zu sein. Ihre Augen waren feucht, aber das mochte auch dem Wind geschuldet sein. Nur ihr Blick mit dem sie Legarus folgte, als dieser sich langsam zurückfallen ließ, zeigte wie wenig es ihr gefiel. Legarus gab ihrem Pferd einen kräftigen Klapps auf das Hinterteil und so überwand dieses schnell die Lücke die zu Brontes entstanden war.

Brontes rief Asylma zu sich, da er sie nun lieber neben sich wusste. Auch er sprach ihr Mut zu und feuerte sie beide zu mehr Eile an. Je schneller sie ritten, umso schneller konnte Legarus ihnen folgen. Für den Moment war das alles, vorauf sich Brontes konzentrierte.

Immer zu drehte er sich nach hinten. Nachdem sie die Anhöhe hinter sich gelassen hatte, konnte er die Staubwolke ihrer Verfolger nicht mehr sehen. Legarus war etwa hundert Schritt hinter ihnen und drehte leicht von ihrem Weg ab. Brontes wusste nicht recht, ob seine Augen ihm einen Streich spielten, aber er wurde den Eindruck nicht los, dass Legarus für einen Reiter mächtig viel Staub aufwirbelte.

„Komm, bald haben wir es geschafft“, spornte Brontes sie ein letztes Mal an. Mit neuer Zuversicht hielt er auf den Wald zu. Je eher sie vom Horizont verschwanden, umso besser. Er drehte sich kein weiteres Mal um. Erst als er den Wald betrat, überzeugte er sich, dass von ihren Verfolgern noch nichts zu sehen war. Noch hatte keiner von ihnen die Anhöhe erreicht. Aber lange würde es nicht mehr dauern, denn die Wolke, die sie verriet war nicht mehr weit entfernt.

Brontes ließ die Pferde in einen zügigen Trab auslaufen. Die Erde war hier feuchter und sie würden so keine weit sichtbare Fahne hinterlassen. Er konnte jetzt nur hoffen, dass sie sich täuschen ließen, denn wenn nicht, wäre es einfach, sie einzuholen und sie hinterließen im Waldboden Spuren. Doch zumindest in dieser Hinsicht machte sich Brontes rasch keine Sorgen mehr, als er die zahllosen anderen Spuren sah.

Allerdings führte dies zu einem anderen Problem, denn Legarus sollte recht behalten. Wider seiner Erwartung war tatsächlich viel Bewegung auf den Straßen. Zum Glück machten die Soldaten viel Lärm, und so gelang es den beiden rechtzeitig von der Straße zu verschwinden und tief genug in den Wald vorzudringen, bevor eine reichlich bewachte Karawane vorbeizog. Vier massive Karren wurden von je vier Pferden gezogen, und so langsam wie sie sich fortbewegten, mussten sie reichlich schwer sein.

Asylma zitterte am ganzen Leib. Brontes fiel es allerdings erst auf, als der Trupp fast vorbeigezogen war.

„Ach Herrje“, wurde sich Brontes besorgt ihrer Angst bewusst. Er strich ihr über den Rücken. „Komm her!“ Er drückte sie fest an sich, als sie sich nicht beruhigte. „Die können dir hier nichts tun.“

Asylma vergrub ihr Gesicht in seiner Brust. Selbst der Klang der sich entfernenden Rüstungen und das Gegröle setzten ihr noch zu und es dauerte eine Weile bis ihr Körper ihr wieder ganz gehorchte.

„Mistkerle sind das“, meinte Brontes schließlich als sie sich nach einer längeren Pause zurück auf die Straßen wagten. Der Schmied ließ Vorsicht walten, da er sich gleichermaßen vor einer Nachhut fürchtete, wie auch davor, dass ihre Verfolger sich doch für den Waldweg entschieden hatten. Doch zumindest das war nun unwahrscheinlich.

Doch eine gewisse Anspannung wollte Brontes nicht mehr loslassen. Aufmerksam achtete er auf jedes Geräusch, da er nicht wusste, aus welcher Richtung die größere Gefahr drohte, da er jede Begegnung vermeiden wollte. Auch deshalb ritten sie nun noch langsamer, auch wenn die Dämmerung einsetzte, und er die Stelle, die Legarus ihm genannt hatte, noch nicht gefunden hatte.

Brontes störte sich an ihrem Schweigen, weil er Asylma allzu gern Mut zugesprochen oder sie abgelenkt hätte, doch er wollte nicht unachtsam werden, und so blieb ihm nur festzustellen, wie Asylma in sich zusammengesackt neben ihm her ritt. Wirklich ängstlich kam sie ihm nicht vor, nur unbeschreiblich nieder­geschlagen und teilnahmslos. Dass sie sich auf einer Flucht befanden, war ihr kaum anzumerken.

 

Mit dem schwindenden Licht des Tages fand Brontes endlich den mit Steinplatten ausgelegten Graben und bog mit Asylma in den Wald. Wegen der tiefhängenden Äste stiegen sie ab und führten ihre Pferde an den Zügeln. Trotz der Beschreibung war es nicht leicht die gedrungene Hütte zu finden, da sie sich in einer Mulde versteckte und fast vollständig von Gestrüpp überwuchert war.

Brontes untersuchte ihre Satteltaschen, doch fand dort bei weitem weniger als er erhofft hatte. Die beiden Decken gab er Asylma, die diese dankbar annahm. Auch das bisschen Essen reichte er ihr, auch wenn es keine Mahlzeit ersetzen konnte.

„Nein?“, fragte Brontes als Asylma den Kopf schüttelte.

„Wir teilen!“, entschied sie und versuchte den Kanten Brot in zwei zu reißen.

„Lass nur, ich habe reichlich Reserven“, meinte Brontes und rieb sich über seinen leicht gewölbten Bauch. Asylma schüttelte energisch den Kopf.

„Ich will nicht alleine essen“, erklärte sie entschieden, bevor erneut Tränen ihre Wangen nässten. Sie reichte ihm den Kanten zurück, damit er ihn brach. Ihre Hände waren kalt und nach dem langen Ritt kraftlos.

„Aber du musst essen“, versuchte es Brontes erneut.

„Ich habe schon die zwei Decken“, argumentierte sie, während sie ihre Tränen ignorierte. Ihr Blick machte deutlich, dass sie in diesem Punkt nicht nachgeben wollte.

Brontes brummte und setzte sich neben Asylma.

„Ich warte noch bis ich ein kleines Feuer anzünde.“ Rasch war es um das letzte Licht geschehen. „Du kannst aber ruhig schon schlafen.“ Asylma saß dicht an den Schmied gelehnt und so spürte er wie sie erneut den Kopf schüttelte. „Aber du bist doch sicher müde.“ Ein Achselzucken war ihre einzige Antwort. „Versuche es wenigstens, ich passe auch auf. Morgen werden wir sicher früh aufbrechen.“

Sie drückte sich fest an ihn und er legte unbewusst seinen Arm um sie. „Erzähl mir etwas von dir“, versuchte sich Asylma vor dem Schlafen zu drücken.

Brontes sah zu ihr herab, konnte ihr Gesicht in der Dunkelheit aber nicht mehr erkennen.

„Ich wüsste nicht, was“, dachte er nach einer Weile laut. Asylma zuckte leicht mit einer Schulter, sagte aber nichts.

Brontes hielt sie weiterhin im Arm, während sie im Dunkeln saßen. Eine Weile hingen beide eigenen Gedanken nach. Allmählich wurde der Schmied sich bewusst, auf was er sich eingelassen hatte. Er wunderte sich, warum er Legarus nur so leicht Glauben geschenkt hatte. Schließlich war Legarus mit all seinen Namen zu einem Mythos geworden, und das was er ihm verraten hatte, war nurmehr eine Legende, aber eine die jedes Kind zu hören bekam. Es war die Hoffnung, die diese Geschichten nährte und wahrscheinlich war es auch die Hoffnung, dass all die Ungerechtigkeit bald ein Ende erfahren sollte, warum er so bereitwillig gefolgt war. Und in Lasyla hielt ihn nichts mehr. Überall, wo er hinsah, wühlten ihn schlechte Erinnerungen auf, und verdrängten jene, an die er sich erinnern wollte.

Irgendwann wurde ihm wieder bewusst, dass Asylma in seiner Umarmung an ihm lehnte, und er wollte das Schweigen verdrängen.

Langsam begann er von seinem früheren Leben zu erzählen. Davon, wie er mit seiner frisch verheirateten Frau nach Lasyla gezogen war, da er der Willkür seines alten Stadtherren entkommen wollte. Lasyla versprach, ein Idyll für Handwerker zu sein, und so war es auch gewesen. Er arbeitete hart, aber sie waren glücklich, und bald kam ihr Sohn zur Welt. Brontes erzählte nur von den ersten Jahren, nur von den Momenten, an die er sich gerne zurück erinnerte. Manchmal musste er leise für sich lachen und schwelgte dann für eine Weile und schwieg.

Asylma fiel das nicht einmal auf, und irgendwann schlief sie im Sitzen ein. Als Brontes es merkte, legte er sie vorsichtig hin und deckte sie so gut es ging zu. Er stand auf und versuchte Feuer zu machen, wurde sich aber seines Fehlers bewusst, da er im Dunkeln Schwierigkeiten hatte, alles Notwendige zu finden. Mehrfach stieß er gegen etwas, und fluchte tonlos, da er Asylma nicht wecken wollte. Als es ihm schlussendlich gelang, wärmte er sich die Hände. Sein Blick war zur Seite gewandt. Asylmas Gesicht war von dem schwachen Schein des Feuers erhellt. Ihr Schlaf war unruhig. Sie drehte sich von einer Seite zur anderen und immer wieder durchfuhr sie ein Zucken.

Langsam wurde Brontes' Kopf schwer und sank auf seine Brust.

Plötzlich war ein Wiehern zu hören und Brontes schreckte aus seinem leichten Schlaf auf. Die Pferde waren unruhig. Rasch stand er auf und griff nach einem Knüppel, den er sich zurecht gelegt hatte, und stellte sich hinter die Tür.

Draußen hörte er Schritte. Kleine Äste brachen als der Fremde vor die Türschwelle trat.

„Brontes ich bin es. Sorge dich nicht“, meinte Legarus noch bevor er nach der Tür griff, um sie zu öffnen.

Brontes ließ den Knüppel sinken und sein Herzschlag beruhigte sich.

„Ich hätte keinen Besseren finden können, um auf das Mädchen Acht zu geben“, flüsterte Legarus als er eintrat und klopfte Brontes beruhigend auf die Schulter. „Brandolfs Truppe ist in eine andere Richtung unterwegs. Wahrscheinlich haben sie die Suche inzwischen eingestellt.“

Brontes glaubte nicht, dass Legarus wirklich dieser Meinung war, aber trotzdem nickte er.

„Wann brechen wir auf? Noch im Dunkeln?“

„Hier sind wir für den Augenblick sicher. Wir sollten alle versuchen zu schlafen. Es kommen lange Tage auf uns zu. Wenn wir erst durch offene Gegenden reiten, werden wir drei auffallen, und wer immer nach uns sucht, wird von uns hören.“

„Wie sieht dein Plan aus?“

„Vier oder fünf Tage werden wir uns noch größtenteils in Waldstücken bewegen können. Während der Zeit sollten wir uns mit allem versorgen, was wir später benötigen. Danach halten wir geradewegs auf die Berge zu.“

„Und du kennst den Weg zu den Elfen?“

„Ich werde ihn finden, wenn wir soweit sind“, meinte Legarus und klang dabei, als wäre das seine geringste Sorge.

Bei Tagesanbruch nutzten sie die Gelegenheit sich Reserven anzulegen. Der Wind hatte gedreht und in den nächsten Tagen würde wohl Regen zu ihrem treuen Begleiter werden.

Brontes wich nie weit von Asylma und versuchte sie auf Trapp zu halten, damit sie nicht viel Zeit zum Nachdenken hatte.

„Wir könnten aufbrechen, doch in einer Stunde wird es bereits dunkel werden“, meinte Legarus als sie alles zusammengetragen hatten. „Aber weit werden wir nicht kommen, also sollten wir die Nacht noch in der Hütte verbringen.“

„Ich denke, eine solche Gelegenheit werden wir nicht noch oft haben“, bekräftigte Brontes Legarus' Aussage.

„Es gibt vielerorts solcher Verstecke, aber sie werden von Abtrünnigen und Wilderen genutzt und ich möchte unser Glück nicht zu sehr herausfordern. Für den Moment sollten wir unbemerkt bleiben, auch wenn die wenigsten uns etwas tun würden – aber sie würden reden.“

Asylma äußerte sich nicht, ließ sich nur vor dem kalten Kamin auf ein Stück Holz fallen auf der ihre Decke lag.

Legarus und Brontes wechselten einen nachdenklichen Blick. Schließlich nickte der Schmied.

„Asylma, komm, wir gehen nach draußen.“

Das Mädchen gehorchte willenlos und stand auf. Brontes ging in den Wald hinein und suchte nach einem passenden Ast, während Asylma im folgte.

„Dieser junge Baum sollte passen“, meinte Brontes zufrieden und tatenfreudig. Mit einer kleinen Axt bearbeitete er den jungen Stamm und ließ Asylma ihn dann von Seitentrieben säubern und auf ihre Körperlänge kürzen.

„Hier ist noch einer“, gab Brontes kund, als er einen weiteren passenden Stamm ausfindet gemacht hatte.

Asylma blieb zitternd stehen und ließ die Axt fallen. Ihr wurde bewusst, was der Schmied vorhatte.

„Was ist los“, wollte Brontes erstaunt wissen, als er sah wie Asylmas Gesicht alle Farbe verlor. „Du brauchst keine Angst haben.“

Asylmas Lippen zitterten nur, und sie blieb wie leblos stehen. Plötzlich rannen erneut Tränen hervor.

„Es ist nicht das erste Mal, dass du trainierst?“

Asylma schüttelte den Kopf und ließ den Blick sinken.

„Dein Vater war auch ein Söldner?“

Asylma antwortete nicht.

„Er hat es dir beigebracht?“

Ein schwaches Nicken war zu erkennen. „Er“, begann sie und verlor die Stimme. „Er kam eben erst zurück um auf dem Feld zu...“ Ihre Stimme versagte nun vollständig.

„Vertrau mir, es wird dir gut tun, wenn du deine Wut aus dir lassen kannst.“ Er nahm ihr die Axt ab und stellte den zweiten Stab fertig. Asylma blieb stehen und versuchte erfolglos ihre Gefühle zu ordnen.

Der Schmied stellte sich vor Asylma und forderte sie auf, Stellung einzunehmen. Sie bewegte sich, als wäre ihr Körper derjenige eines Fremden. Mehrmals schlug Brontes ihr mit dem ersten Hieb den Stab aus der Hand, bevor sie endlich beherzter zugriff. Tränen trübten ihr die Sicht, doch nach einer Weile kam ihre Wut hervor und schenkte ihren Schlägen mehr Kraft.

Die Verfolger

Der Boden unter ihnen wurde steiniger und die letzten großen Waldflächen lagen bereits hinter ihnen. Größere Städte suchte man hier auch vergebens und es wirkte eher wie ein vergessenes Stückchen Land. Über weite Strecken zogen sich lange Weiden, und von Zeit zu Zeit sahen sie in der Ferne eine Ansammlung von ein paar Bauernhöfe, wo einige wenige versuchten dem kargen Boden etwas abzutrotzen.

Sie konnten es nicht überall vermeiden, gesehen zu werden, denn abseits der Wege zu reiten, würde nur noch mehr Aufsehen erregen. Beängstigend viele Soldaten zeigten Präsenz, und es war nicht immer ersichtlich, in welcher Mission sie unterwegs waren. Gleich zweimal in der vergangenen Woche mussten sie Reißaus nehmen, und sie konnten ihre Verfolger nur mit Mühe abschütteln. Es war offensichtlich, dass sie nach drei Reitern Ausschau hielten, doch trennen wollten sie sich auf keinen Fall. Und so blieb ihnen nur die Flucht nach vorne. Sie verlangten sich und den Rössern alles ab, mit dem Wissen, dass noch eine lange Reise vor ihnen lag.

Nach einigen Tagen mit frühlingshaft schönes Wetter waren über Nacht erneut dunkle Wolken aufgezogen. Gegen Mittag brachen sie auf und die Luft kühlte sich rasch ab, während die fleißigen Bienen, die die ersten aufblühenden Mondviolen und Veilchen bestäubten, das Weite suchten. Sie hatten früh aufgesattelt, doch auch jetzt saßen sie nicht ab, sondern trieben ihre Pferde zur Eile an. Sie mussten den Vorsprung ausbauen. Die Reise war beschwerlich, der kalte Regen durchnässte ihre Kleider und das Wasser lief nur so an Reiter und Tier herunter. Doch zumindest würde der Regen helfen ihre Spuren zu tilgen.

Asylma und Brontes sprachen viel miteinander, während Legarus schweigend nebenher ritt. Der Schleier, der ihn seit ewigen Zeiten umgab, spann weiterhin seine sich windenden Fäden, die jene vergessenen Geheimnisse festhielten, die ihn zu einem verfolgten Jäger machten.

Brontes und Asylma tat es allerdings gut, jemanden gefunden zu haben, mit dem sie belanglos reden konnten. Brontes entpuppte sich als großartiger Erzähler. Er kannte Geschichten, Legenden und Mythen und ebenso wusste er viel über Pflanzen und Tiere. Er war aber verwundert, wie viel auch Asylma bereits wusste. Doch ein Grund dafür lernte Brontes nach und nach kennen. Asylma ließ sich schnell für alles begeistern, was sie noch nicht wusste. Wann immer sich eine Gelegenheit bot, hinterfragte sie was Brontes und manchmal auch Legarus ihr erzählte. Dabei schöpfte sie aus einer schier unerschöpflichen Quelle neue Fragen, mit denen sie ihren Horizont erweitern wollte. Brontes ließ es sich nicht nehmen, den Wissensdurst mit ausschweifenden Erklärungen zu stillen. Dabei überraschte der Handwerker seine Gefährten mit einer unglaublichen Wortgewandtheit. Auch vermochte er Wahrheit und Legende so unzertrennlich mitein­ander zu verweben, dass sie nahtlos ineinander übergingen. So verging Kilometer für Kilometer, Tag für Tag, während sie allmählich in höhere Gebiete ritten und die Weiden immer mehr Felsen und trockenen Gebüschen weichen mussten. Das Wetter klarte glücklicherweise zusehends auf und es gab nur noch kurze Schauer. Die weite hellgrüne Ebene wechselte in ein spärlich bewaldetes Hochplateau, um schließlich in einer fruchtlosen steinigen Landschaft zu enden.

Nun waren es auch nicht mehr unzählige umhersurrende Insekten, sondern vereinzelte Adler, die den Himmel für sich beanspruchten und stolz ihre Kreise enger zogen, um dann mit tödlicher Präzision ahnungslose Mäuse zu fangen.

 

„Schau“, meldete sich Brontes zu Wort und zeigte auf einen dunklen Punkt unter der noch steigenden Mittagssonne. Es war ein kleiner unbedeutender Punkt am Himmel. Langsam wuchs er, während er auf sie zuflog. Er war beinahe über ihnen, bevor sie die Konturen eines mächtigen Steinadlers erkannten.

Obwohl in großer Höhe seine Umrisse neben den letzten Wolkenresten klein und unbedeutend erschienen, erkannte Asylma dennoch die Kraft, die von diesem Tier ausging. Der König der Lüfte streckte seinen braun gefiederten Kopf nach unten, zog seine Flügel fest an den Körper und schnellte wie ein Pfeil gen Erde. Sein Sturzflug war kurz, sein Erscheinen überraschend und nur ein leises ersticktes Quieken erfuhr der erstarrten Maus bevor sie, vom Adler getragen, sich zu ihrer letzten Reise gen Himmel aufmachte.

Sie ritten schweigend weiter.

„Was hältst du davon?“, wandte sich Brontes nach einer Weile an Asylma.

Asylma, die in ihren Gedanken woanders schweifte, brauchte etwas länger, bevor die Frage bei ihr ankam.

„Wovon?“

„Dass der Adler die Maus getötet hat!?“

„Er musste sie töten. Das ist die Natur! Sonst hätte er verhungern müssen.“ Sie zögerte keine Sekunde.

„Warum glaubst du, dass er Hunger hatte? Er hätte sie auch aus Spaß töten können. Nein?“

„Nein, Tiere tun das nicht!“

„Aber Menschen …?“

Es begann ihr zu dämmern, worauf er hinauswollte und suchte nach einer passenden Antwort.

„Ja, aber …“

Brontes unterbrach sie und vervollständige an ihrer statt.

„… das ist etwas anderes. War es das, was du sagen wolltest?“

Asylma fühlte sich völlig falsch verstanden und stotterte etwas Unverständliches.

Ein Kribbeln bahnte sich einen Weg durch ihren Magen. Doch Brontes' Ton klang versöhnlich, als er von Neuem ansetzte.

„Ich glaube nicht wirklich, dass das deine Gedanken waren. Aber ist es doch die Antwort, die einem jene geben die schon Boten des Todes waren.“

Asylma schwieg.

Brontes zügelte sein Pferd und Asylma tat es ihm gleich. Er hielt sie fest am Arm und blickte ihr mit der gut gemeinten Strenge eines Vaters in die Augen. Der Blick war fesselnd, ebenso seine feste Stimme, die jede Spur von dem ansonsten mitschwingenden Humor verloren hatte.

„Es werden Tage kommen, in denen du tötest, um zu leben und solche, in denen du tötest, weil du glaubst, töten zu müssen. Doch bedenke eines, du tötest nicht den Soldaten, sondern den Ehemann, den Vater!“

Asylma schwieg.

„Ich habe gesehen, dass du schnell mit dem Messer bist. Bereit zu töten. Doch das erfordert weder Mut noch Weisheit!“

Der Bann zwischen ihren Augen löste sich, als er an ihr herabblickte. Sein Gesicht zeigte wieder die gutmütigen, sanften Züge, die so unpassend zu seinem ansonsten stählernen Körper waren. Aber dennoch blieb er nicht weniger ernst.

„Ich werde dich lehren, dass dein Mitgefühl schneller ist als dein Instinkt und dein Verstand schärfer als dein Messer. Du kannst töten und dennoch verlieren, genauso aber verschonen und siegreich sein.“

Sie ritten eine Weile nebeneinander her.

„Macht ist nicht der Lohn des Tötens, sondern Leben die Gabe der Weisheit.“

Brontes sah sie mit fragenden Augen an, doch Asylma blieb weiterhin stumm.

„Ich kannte deinen Vater!“

Nun war es Asylma deren Augen, jene Brontes suchten und einmal gefunden so fixierten, als versuchten sie ein Geheimnis zu lesen, das tief in ihnen wohnte und nie durch Worte den Weg in die Welt finden konnte.

Sie wollte reden. Sie suchte jemanden mit dem sie über ihre Eltern reden konnte. Und jetzt wo sie einen gefunden hatte, blieb sie stumm. Unfähig ihrer Freude oder Trauer Worte zu schenken, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Die kleinen Perlen rollten auf ihren weichen Wangen herunter und zerrannen an ihren Lippen. Es waren nur wenige Tränen, doch diese waren voll von Gefühlen, die sich mit ihnen den Weg ins Freie suchten.

Ihr Mund öffnete sich mehrmals, während der Wind sanft durch ihr Gesicht streichelte und die nun nicht mehr fließenden Rinnsale trocknete. Die Sonne schien hell, als wollte sie Licht in die finstersten Windungen ihrer Seele bringen. Die Erde schluckte jedes Geräusch, und so herrschte absolute Stille, als würde die Natur selbst darauf warten, dass Asylma sich öffnete.

Langsam formten ihre blassen Lippen Worte. Zunächst stürzten sie brüchig hervor.

„Kanntest … du ihn … gut?“

„O ja. Wir waren zusammen aufgewachsen. Er war immer der Stürmischere von uns beiden.“

„Und warum … habe ich dich nie bei uns gesehen?“

„Du warst noch ganz klein, als ich das letzte Mal bei euch war …“

„Aber warum …“

„Warum ich nicht wiedergekommen bin? – Die Zeit. Sie ändert alles. Zu viele Dinge waren geschehen, grausame Dinge.“

Asylmas Augen drohten abermals überzulaufen und so ertranken ihre Fragen in ihrer Kehle.

„Eines musst du wissen: es zählt nicht nur, was man verloren hat, sondern auch das, was man noch hat!“

Legarus, der merkte, dass Brontes, mit seinem Versuch der Aufmunterung kläglich scheiterte, schaltete sich dazwischen: „Egal wie finster und kalt die Nächte sind, es wird immer einen Ort geben, an dem ein Licht für dich brennt, und immer wird ein warmes Herz für dich schlagen.“

Legarus ließ seine Worte verhallen, bevor er mit seiner sonnengegerbten Hand eine einzelne Perle auf ihrer Wange auffing und mit sanfter Stimme und mitfühlendem Blick weiterfuhr: „Du hast verloren, was nicht zu ersetzen ist, gesehen, was nicht zu beschreiben ist, gehört, was nicht zu ertragen ist, und dennoch lebst du. Du lebst und bist frei! Frei zu hoffen, frei zu lieben. Du musst lernen los zu lassen – loszulassen, aber nicht zu verdrängen, noch zu vergessen.“

„Für jeden kommt die Zeit, wenn man gehen muss. Doch wenn die Zeit gekommen ist, ist es dennoch immer zu früh. Nur die Liebe allein kennt keine Zeit. Sie lebt ewig, aber auch nur dort, wo sie Einlass findet.“

Brontes und Legarus verloren sich in ihren Reden. Mit jedem neuen Satz, den sie immer wieder länger als den vorigen spannen, verloren sie mehr den Hang zur Realität. Versuchten sie zunächst Asylma Mut zuzusprechen, so war es bald schon ein Wettdichten und Philosophieren.

Die Wirkung aber hätte nicht besser sein können. Asylma gewann ihr Lächeln zurück und Wärme fand den Weg in ihr Herz. Es waren nicht die Worte, die sie trösteten, nicht das Gebärden der Freunde, die ihr Kraft schenkten, sondern das Gefühl, nicht allein zu sein. Es war nicht wichtig, wie die beiden sie zu trösten versuchten, wichtig allein war, dass sie es versuchten. Denn in einer Freundschaft zählen nicht die Ergebnisse, sondern das Bemühen, nicht die Worte, sondern das Gefühl.

Auch wenn es eine Flucht war, so bedeutete es Asylma viel in Gesellschaft des geheimnisvollen Legarus und dem redseligen Schmied durch Feld und Flur zu reiten. Wenn der frische Frühlingswind mit ihren Haaren spielte, und die Wolken rätselhafte Figuren über die Erde huschen ließen, dann erinnerte sie sich an die zahllosen Ausflüge mit ihrem abenteuerlustigen Vater, der sie viel über die Natur lehrte. So versank sie bei jeder Spur eines bekannten Tieres, die dieses in dem teils lehmigen Boden hinterlassen hatte, in Geschichten, die sie einst gehört hatte.

Erst in der dritten Woche verringerten sie ihr Tempo und genehmigten sich und ihren Rössern öfter Verschnaufpausen. Auch wenn sie sich mehr Zeit nahmen, war es für Asylma dennoch wenig erholsam. Brontes nahm sich weiterhin ihrem Training an. Er zeigte ihr zu Beginn jeder Lehrstunde neue Stellungen, wie sie ihr Schwert halten sollte, und auf was sie beim Gegner achten musste. Wenn sie dann aber ihre beiden Holz­schläger einsetzten, wurde Asylma flau zumute, denn der von ihr liebgewonnene Schmied, zeigte dann keine Gnade mehr. Brontes war zu Beginn überrascht, wie gut sie bereits war, aber dann wurde er sich nochmals bewusst, welches Leben auf dem Land geführt wurde. Es war einfach zu gefährlich, wehrlos zu sein. Doch das machte es für Asylma nun nicht leichter. Eher das Gegenteil war der Fall. Er drosch förmlich auf sie ein, nutzte Deckungsfehler aus, um ihr einen Hieb gegen die Seite zu platzieren. Zwar bremste er den Schlag im letzten Moment ab, doch mit der Zeit gab es keine Stelle die Asylma nicht schmerzte. Aber auch sie nutze jede Gelegenheit auszuteilen. Es lenkte sie ab, da ihr keine Zeit blieb über etwas anderes nachzudenken.

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