Im Schatten der Dämmerung

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Wenn sie dann erschöpft und leicht mürrisch sich auf eine Pferdedecke fallen ließ, um sich zu sammeln, war Legarus zur Stelle. Er beanspruchte nicht ihre Kräfte, ebenso wenig zog sie sich bei ihm Verletzungen zu. Doch diese Übungen waren nicht minder ermüdend. Es waren banale Geistesübungen, doch Legarus verstand sich meisterhaft in den Künsten der Ablenkung. Dagegen fand sie jedoch schnell eine Abschottung und so schaffte sie es schließlich, unempfindlich für Störungen in ihrer Umwelt zu werden. Deswegen gab Legarus es nach einer weiteren erfolg­reichen Stunde auf, ihre Konzentration auf die Probe zu stellen und fuhr damit fort ihre Sinne zu schärfen.

Hier befand Asylma sich in ihrem Element. Abends, wenn die Sonne den Horizont sanft streifte, zogen sich die beiden zurück und setzten sich auf einen höher gelegenen Felsen oder an einen scharfen Abhang. Dort weilten sie und sogen die Landschaft in sich auf. Solange bis sie mit ihr verschmolzen. Zeit spielte nicht länger eine Rolle. Zufriedenheit durchströmte Asylma, wenn sie die Natur in ihrer Einzigartigkeit betrachtete. Die Formen, die die Natur erschafft, die Farben, mit denen sie spielt, sind Balsam für verletzte Seelen, die ihren inneren Frieden verloren haben. Zeit ist vergänglich und versucht man einen Moment festzuhalten so ist er einem schon beim Gedanken daran entwichen. Doch vermag die Harmonie des Augenblicks als Erinnerung gebündelt einem Faden gleichen. Einem, so rein wie das Licht der Sonne, so frei wie der Wind und so beständig wie Fels, Teil eines Bildgewebes der Ewigkeit und Schlüssel zu der inneren Truhe der Ausge­glichen­heit.

Der Junge mit dem Apfel

Der Junge rang um Atem. Die beiden Hünen waren ihm dicht auf den Fersen. Hastig blickte sich das Kind um. Es konnte in der engen Gasse aber keine Nische erspähen. Die Marktleute mit ihren Körpern hinderten den Jungen daran, schneller zu laufen. Seine Verfolger schienen sich davon weit weniger aufhalten zu lassen. Deutlich war ihr Geschrei zu vernehmen. Aufgeregt und um ihre Waren besorgt, beugten sich die meisten überstürzt über ihre Stände und bildeten einen kleinen Durchlass kurz nachdem sich der zehnjährige Junge durchgekämpft hatte. Seinen Verfolgern konnte es nicht schnell genug gehen. Mit ihrer Masse pflügten sie sich hindurch und liefen nicht wenige der Händler über den Haufen. Obwohl die beiden Männer für einiges an Wirbel in der Gasse sorgten, blieb es vergleichsweise still. Nur ihre Schreie und der Lärm umstürzender Gegenstände waren zu hören. Keiner der Händler wollte die Aufmerksamkeit der Wachsoldaten erregen. Sie beschränkten sich darauf, ihr Hab und Gut zu schützen und schweigend Umgestürztes aufzurichten und die Scherben mit stummen Flüchen auf den Lippen zusammenzukehren. Kunden, die sich über dieses rücksichtslose Geschubse aufregen konnten oder wagen würden, gab es in diesem Teil der Stadt ohnehin kaum. Denn für den offiziellen Markt waren diesen Händlern die Standgebühren zu hoch. Wer sich hierhin verirrte, besaß nicht mehr als seine Hoffnung. Diese war es auch die die Händler dazu veranlasste ihr Gerümpel feilzubieten – einen Wert besaß kaum einer der Gegenstände.

Das einzige, was für einen Kunden von Interesse gewesen wäre, hielt der Junge fest in seinen Händen und versteckte sich in seiner Jackentasche. Nicht nur deshalb rannte er, als ginge es um sein Leben. Er kannte sich in diesen Gassen aus. Sein ganzes Leben hatte er in dieser Stadt verbracht. Hastig warf er seinen Blick von einer Seite zur anderen. So viele Nischen kannte er, die ihn retten könnten. Doch eine jede war verstopft. Eigentlich war die Gasse viel zu eng für einen Markt. Doch die Not ließ viele Hindernisse überwinden. Kleine Karren versperrten dem Jungen jeden Fluchtweg.

„Haltet ihn.“ Schreie überschallten die Gasse.

Keiner dachte daran, sich zu bewegen.

Einer der Hünen riss in seiner Wut einen Karren um. Lange schepperten die rostigen und verbeulten Töpfe über die Pflastersteine.

Erschrocken blickte sich der Junge um. Sie waren näher als er es für möglich hielt – viel zu nah. Angst verlieh dem Kleinen neue Kraft. Er riss seinen Blick widerwillig nach vorne. Nur im letzten Moment konnte er einer Frau ausweichen. Panisch sprang er ein wenig zu weit zur Seite. Sein Mantel verfing sich an einem Widerhacken eines alten Karrens. Seine Manteltasche riss auf. Taumelnd lief er weiter. Doch schon nach wenigen Schritten verlor er zwei Äpfel aus seiner Tasche. Am ganzen Leib zitternd blieb er stehen. Starrte ungläubig auf die beiden Äpfel, die dabei waren unter einen Stand zu rollen. Blickte auf. Sah seine Verfolger. Blut schoss ihm in den Kopf und es wurde ihm heiß. Sein Herz schlug ihm gegen die Kehle. Hastig bückte er sich und griff nach einem der Äpfel. Erleichtert umfassten seine Finger die Frucht. Ein heftiger Tritt traf den Jungen in die Seite und er stürzte gegen eine Hauswand. Bewusstlos blieb er liegen, während der Apfel aus seiner schlaffen Hand rollte.

Der steinerne Spiegel

So wie in den vergangenen Wochen, so ging der alte Mann auch an diesem Morgen die dunklen Gänge hinunter. Selbst im schwachen Fackellicht war zu erkennen, dass er sich bei dem Gedanken unwohl fühlte, die Gesellschaft des Zwerges aufzu­suchen. Nicht, dass er sich in der Nähe der Wächter wohler fühlte. Doch die Angst, die er bei ihnen empfand, während sie ihn zu seiner neuen, ungewöhnlichen Arbeitsstätte begleiteten, hatte etwas Bekanntes an sich. Er wusste, dass er sie nicht mochte, ja, dass er sie fürchtete, fast mehr als den Tod selbst. Denn dieser würde ihm nicht mehr viel nehmen können. Doch wenn er bei dem Zwerg war, fühlte er eine andere Angst, eine, die er sich nicht erklären konnte. Kein Zittern brachte sie zum Ausdruck. Sie verweilte tief in ihm selbst, als wäre sie ein Schatten, der sich auf ihn legte. Dazu kam dieser finstere Ort, der für sich schon den Wunsch in ihm erweckte, weg zu wollen.

Doch das konnte er nicht, und das wusste er auch. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen und dem Wunsch von Thanatos, einem Berater des Rates der Acht Türme, sollte man besser entsprechen. Nicht, dass er sich großartig Belohnungen ausmalte. Nein, er wollte endlich Ruhe finden. Mehr wollte er gar nicht – einfach nur noch in Ruhe gelassen werden. Er fand, dass das nicht zu viel verlangt war, auch wenn er sich schon fast damit abgefunden hatte, dass es ein Traum bleiben würde.

So schritt er hinter den Wachen her, als freier Mann, wie er sich einreden musste, denn diese Umgebung wollte ihm ständig ein anderes Gefühl aufzwingen.

Scheinbar gelangweilt schritten die Wächter vor ihm her und lästerten über jene, die dem Dienst in dieser Nacht entgangen waren. Sie waren müde, und der Handwerker konnte an ihren langen Schritten – denen er kaum zu folgen vermochte – spüren, dass sie zügig nach oben und in ihre noch kalten Betten wollten.

Für ihn aber begann jetzt erst der Tag, mit vielen mühsamen Stunden, in denen er das Ebenbild eines Zwerges aus dem Stein hauen sollte. Genau so wie in den vergangenen Wochen, würde er kein Tageslicht zu Gesicht bekommen.

Auch deshalb klangen seine Schritte entmutigt und unsicher im Vergleich zu den festen Schritten der Wachen. Immer tiefer unter die Erde drangen die Geräusche, die an diesem Ort unheimlich verhallten und den armen Handwerker noch mehr ängstigten. Er war ein freier Mann und bald würde er mit seiner Arbeit fertig sein. Dann müsste er diesen unwirklichen Ort nicht mehr betreten. Das musste er sich ständig vorsagen, damit seine Füße ihm nicht den Dienst quittierten. So groß sein Unbehagen auch war, er durfte es nicht zeigen, nicht seine Arbeit unbeendet lassen, denn das wäre sein sicherer Tod – daran zweifelte er nicht einen Augenblick. Und vielleicht würde Thanatos gar Wort halten und beim Stadthalter ein gutes Wort einlegen, dass er zurück in seine Werkstatt durfte und nicht in diese Grotte verbannt blieb.

Tibur achtete nicht großartig auf seinen Weg. Er ließ sich hinterher treiben und so war er nicht wenig überrascht, als die Wächter auf einmal stehen blieben. Waren sie schon da? Der Weg war doch sonst länger gewesen. Waren sie auch nicht. Die Wachen waren in mitten eines in der Finsternis verschwindenden Ganges stehen geblieben.

„Eines noch sollten wir dir sagen“, begann einer der Wachen mit einer kräftigen, leicht mürrisch klingenden Stimme – er war doch müder, als sein gespannter Brustkorb es verraten wollte. „Du wirst heute allein hier unten sein. Wir müssen gleich zurück und es wird keine Ablösung kommen. An diesem Morgen trifft König Triton bei uns ein, und er lässt eine Versammlung einberufen. Alle Soldaten müssen erscheinen – ohne Ausnahme alle. Es heißt er will uns von der neuen Welt erzählen, von dem Frieden, den er uns allen versprochen hat. Solange wird keiner dir helfen können.“

Der Handwerker war verwundert, wie viele Worte der Soldat verwendete, um es ihm zu erklären. Noch sonderlicher fand er, dass es schien, als täte er es nur ungern.

„Wir werden dir den Zwerg vorsichtshalber fesseln“, erklärte der andere Soldat mit belegter Stimme. Dieser hatte dem Schlaf mit ein paar kräftigen Zügen aus einem Weinschlauch widerstehen wollen.

„Danke“, schluckte der Handwerker kräftig, da ihm noch unwohler bei dem Gedanken wurde, den Tag mit dem Zwerg zu verbringen.

Dabei beließen es die Wachen und kehrten dem ausgemergelten Mann den Rücken zu und schritten in unvermindertem Tempo den Gang hinunter.

An der ungeliebten neuen Arbeitsstätte ließen die Wachen den Handwerker vor der rostigen Gittertür stehen. Sie eilten hinein, um den wehrlosen Zwerg mehr als es gebührte zu fesseln. Auch wenn sich der Zwerg über diese Behandlung wunderte, so ließ er seine Muskeln schlaff und widersetzte sich nicht dem Bemühen der fast doppelt so großen Wachen. Hier zu entkommen war völlig ausgeschlossen. Die Genugtuung aber, dass sie seine Kraft brechen konnten, wollte er ihnen nicht geben.

 

Wie angekündigt ließen die Wachen den Handwerker mit dem Zwerg allein und verschlossen die Gittertür sorgsam, während der Zwerg wie üblich starr in den Raum blickte.

So wie der Steinmetz den Zwerg das erste Mal positioniert hatte, war dieser wortlos und ohne die geringste Regung verharrt. Während die Statur die Züge des Zwerges annahm, fragte der Mann sich allmählich, wer von beiden eigentlich aus Stein war.

Mit dem Wunsch seine Arbeit so schnell wie möglich zu beenden, begab sich Tibur gleich an seinen Auftrag. Anfangs war es ihm schwer gefallen sich mit der Figur des Zwerges anzufreunden, doch inzwischen hatte er sich an die Merkmale gewöhnt, die diese Rasse ausmachte, und so ging er mit der gleichen Selbstverständ­lich­keit an das zu bearbeitende Objekt, wie er es bei Menschen tat. Nur eines war anders – und es war ihm schon einige Male aufge­fallen – er musste sich eingestehen, dass es ihm Freude bereitete in die Züge des Zwerges einzutauchen und somit irgendwie auch dessen Volk verstehen zu können. Denn für einen guten Bildhauer reichte es nicht, das Offensichtliche in den Stein zu hauen. Selbst, wenn man es schaffte, eine Figur zu erschaffen, die dem Original glich wie ein Tropfen dem anderen, so konnte es dennoch sein, dass es einen nicht berührte, da die Seele fehlte. Eines faszinierte Tibur besonders, und das war das steinerne Ausharren des Zwerges, das er versuchte in die Nachbildung mit einfließen zu lassen.

Es war eine Sache zu versuchen, dem Stein aufzuzwingen, die weichen Züge einer Frau anzunehmen, doch nun sollte er diese unzerbrechlichen Züge des Zwerges zum Ausdruck bringen. So schnell er auch von hier verschwinden wollte, so war er dennoch nicht bereit, seine Arbeit übereilt zu beenden. Es war seine Faszination, die ihn mit dieser Kunst verband, die ihn den Ort um ihn herum vergessen ließ. Es gab so viel, was er in den Stein legen musste, um diesem einen Wesen gerecht zu werden. Selbst seine anfängliche Angst vergaß er gar. Das Gesicht des Zwerges war so reich, dass er immer wieder seinen Blick auf dessen Gesicht ruhen ließ. Einzig dem Zauber dieser harten und doch seltsam warmen Züge erlegen.

Tibur war beinahe selbst von seiner Handfertigkeit überrascht und erstaunt, wie viel von dem Zwerg bereits in dem Stein weilte.

„Wer ist sie?“, störte plötzlich eine dunkle Stimme die Stille und riss den Mann aus den tiefen Gedanken, in die er versunken war.

Der alte Mann brauchte eine Weile, bis er realisierte, dass der Zwerg eben gesprochen hatte. Zumal er dessen Stimme noch nie vernommen hatte. Tibur war so in seine Leidenschaft vertieft gewesen, dass er vergessen hatte, dass er nicht allein war. Das Schweigen des Zwerges war so selbstverständlich geworden und dessen Regungslosigkeit so vollkommen, dass nichts vermuten ließ, dass dieser lebte oder überhaupt jemals gelebt hatte. Es waren zwei steinerne Zeugen gewesen, mit denen er diesen Raum und seine Tage teilte. Eine fertige Statur und eine, die er dabei war zu erschaffen. Aber eine davon erlaubte sich auf einmal zu sprechen.

Tibur starrte auf den Mund des Zwerges, darüber verwundert, dass dieser sich bewegt haben sollte. Doch er konnte erkennen, dass auch der Zwerg ihn beobachtete.

„Wer ist sie?“, fragte der Zwerg erneut und seine Stimme war frei von jedem Groll. „Das Mädchen, dessen Statue ich sah?“, ergänzte der Zwerg, als er merkte, dass Tibur ihn entgeistert anstarrte, als würde dieser ihn zum ersten Mal sehen.

Tibur wunderte sich darüber, dass der Zwerg seine Sprache so gut sprach, auch wenn sie einen eigenartigen, aber nicht unangenehmen Nachklang hatte. Doch was ihn vom Antworten abhielt, war die Frage selbst.

In Gedanken glitt er zurück in sein zugewiesenes Atelier, zog mit zittrigen Händen das Tuch von dem Tisch und enthüllte die Büste. Dort stand sie und schenkte ihm ein trauriges Lächeln, ein letztes, bis in alle Ewigkeit.

Der Meißel lag ruhend in der Hand des Mannes und wieder war der Zwerg vergessen. Der Zwerg seinerseits wartete geduldig und betrachtete den Mann mit seinen kleinen dunklen Augen. Abermals erkannte er die Schwere, die auf diesem lastete.

„Ostara“, sagte der Mann, als er sich erinnerte, dass ihm eine Frage gestellt worden war. Doch er sah nicht zu dem Zwerg, sondern irgendwohin in den Raum, dorthin wo die Öllampen nicht hinleuchten wollten. „Meine Tochter!“ Er sprach mehr zu sich, als dass er noch an den Zwerg dachte. Dieser war für ihn verschwunden, so wie es alles in letzter Zeit für ihn war. Mehr als sein alterndes Leben hatte er nicht mehr und so reiste er ständig in eine andere Welt, in seine Vergangenheit, oder einfach nur einen Traum – so recht konnte er das nicht länger unterscheiden.

Der Gefangene betrachtete Tibur und fragte sich, welche Wunden er dort berührte.

„Aber warum ist sie so traurig?“, fragte der Zwerg und seiner fremdartigen Stimme haftete etwas Mitfühlendes an.

Tibur blickte langsam zum Zwerg hin und ein mattes Fragment eines Lächelns zog wie ein Schatten über sein Gesicht.

„Sie war das glücklichste Kind, das ich jemals sah. Nie habe ich sie ohne ein Lachen in ihren blauen Augen gesehen. Sie war stets zufrieden und fand etwas, woran sie sich erfreuen konnte.“ Der Mann erzählte und sprach doch nur leise zu sich selbst. Als würde er sich an eine Geschichte erinnern, die ihm als Kind erzählt worden war.

Der Zwerg fühlte sich unwohl, dass er diese nie geheilte Wunde mit frischem Blut füllte und wollte den Mann nicht allein in seiner Trauer lassen. „Welcher Krankheit ist sie erlegen?“ Der Zwerg wollte nicht, dass der Mann in sein leidendes Schweigen versank.

„Krankheit?“ Tibur war verwirrt und wieder verzerrte ein Lächeln sein Gesicht, doch diesmal nährte es sich nicht aus einer längst vergangenen unbesorgten Zeit und so hatte sein Ausdruck etwas Unheimliches an sich haften. „Der Krankheit der Menschen“, sprach er weiter und sah den Zwerg diesmal direkt an.

Tiefe Falten durchzogen die Stirn des kleinen gefesselten Mannes und sagten mehr als Worte es tun könnten.

Der Handwerker lächelte dem Zwerg traurig zu und begann von Neuem dessen Bildnis in dem großen Stein zu verewigen.

Es dauerte eine Weile bis sich die Falten auf der Stirn des Zwergs zurückzogen, doch ganz wollten sie nicht verschwinden. Kleinere Splitter sprangen vom Stein ab und wieder klang es mit jedem Schlag, als würde eine riesige Uhr die Zeit abzählen. Und lange Zeit war, außer dieser Uhr, nichts zu hören.

„Was wünschst du dir?“ Es war der Zwerg, der erneut sprach.

Tibur ließ in Gedanken seinen Meißel sinken und die Uhr verstummte. Wieder sah er den Zwerg nicht an, schien aber eine Weile über die Frage nachzudenken. Doch als er seine Arbeit erneut aufnahm, hatte er kein Wort gesprochen. Nur seine Schläge waren fester und die Miene hatte eine seltsame Mischung aus Leere und einer unergründlichen Finsternis angenommen. „Nichts“, stieß er hervor und fuhr prüfend über das steinerne Gesicht vor ihm.

„Und was ist mit Freiheit?“, meinte der Zwerg, dem die Antwort des Mannes nicht gefiel.

Erneut unterbrach dieser seine Arbeit. „Damit sie mir genommen werden kann?“ Tibur schüttelte leicht den Kopf. „Nein danke!“ Abermals wollte er seinen Meißel ansetzen, überlegte es sich dann aber anders. „Glaub mir, ich habe genug verloren, als dass ich noch irgendetwas besitzen wollte.“ Er versuchte den Zwerg mit einem Lächeln zu überzeugen. Doch das gelang ihm nicht im Mindesten.

„Du gibst dein Leben auf? Du lässt deine Frau im Stich, wo sie doch auch den Verlust ihrer Tochter zu beklagen hat?“ Der Zwerg mischte sich in Dinge ein, die ihn nichts angingen. Doch er ärgerte sich zu sehr darüber, dass ein Mensch sich so hängen ließ, sodass er sich darum nicht scherte.

Tibur sah auf und die Finsternis war wie aus seinem Gesicht verbannt. Selbst dessen Trauer konnte der Zwerg nicht mehr erkennen. Stattdessen war etwas wie Mitleid in dessen Zügen aufgetaucht. Aber das konnte sich der Zwerg noch weniger erklären. Er verstand es auch nicht, denn eigentlich hätte der Mann nun wütend sein müssen, ihn anschreien, ja, er hätte sogar verstanden, wenn dieser aufgesprungen wäre und ihn geschlagen hätte. Doch nichts davon tat dieser.

„Sollte ich irgendwann ins Reich der Toten gelangen, so werde ich mich bei ihr entschuldigen, dass ich sie allein ließ“, versuchte der Mann zu lächeln, doch sein Schmerz verzerrte es zu einer traurigen Grimasse.

Abermals zählte die Uhr die quälend langen Sekunden ab, während die beiden schwiegen.

Der Zwerg betrachtete weiterhin den Mann, doch dieser hatte schon lange nicht mehr aufgeblickt, um seine Statur abzugleichen. Er sah den Zwerg nun so klar vor seinem geistigen Auge, dass er diesen nicht mehr brauchte. Oder er war mit seinen Gedanken ganz wo anders und sorgte sich nicht darum, wie das Gesicht aussah, das er nun formte.

„Es war keine Krankheit, oder?“, fragte der Zwerg nach einer langen Pause. Sein schlechtes Gewissen war deutlich heraus­zuhören, genauso, wie auch zu hören war, dass er mit dem Mann mitfühlte. Obwohl er in diesem Gefängnis seinen Tod finden sollte, so schmerzte ihn doch mehr die Vorstellung, was dieser Mann durchgemacht hatte, dass dieser all seine Hoffnung und Wünsche aufgegeben hatte.

Obwohl dem Handwerker nicht klar war, warum er sich einem Zwerg anvertrauen sollte, tat er es. Irgendwie schien ihm dieser Zwerg auf einmal menschlicher als alle Menschen, von denen er in letzter Zeit umgeben war. Er konnte es dem Zwerg nicht einmal übelnehmen, dass er seine Neugierde auslebte. Irgendwie – trotz dieser direkten Fragen – überwog das Gefühl, dass es dem Zwerg nicht darum ging, alles zu wissen, sondern es zu verstehen. Er hörte, dass der Zwerg sich wirklich sorgte – so seltsam dies selbst in seinen Gedanken klang.

„Die Krankheit der Menschen“, wiederholte er, was er schon gesagt hatte. „Macht und Gier. Auch wenn ich bis heute nicht weiß, warum man meine Tochter töten wollte. Sie haben es einfach getan. Jene, die schreien, dass sie für unsere Freiheit kämpfen. Aber die will ich nicht, nicht für diesen Preis!“

„Wer hat sie getötet?“ Der Zwerg schuf einen seltsamen Bann, in dem Tibur endlich aussprechen sollte, was so schwer auf ihm lastete. Er war sich deutlich bewusst, dass es seit Menschen­gedenken kein so tiefes und von der Geschichte ihrer Völker unbelastetes Gespräch zwischen einem Menschen und einem Zwerg gegeben hatte. Doch es gab etwas, was sie verband. Es war eine Reise. Der Mensch war offensichtlich durch die Hölle geschritten und nun in einer endlosen Leere gefangen. Der Zwerg seinerseits sollte schon bald seine letzte Reise antreten. Zu verlieren hatten beide nicht mehr viel. Auch hoffen taten sie nicht. Beide nicht – auch wenn der Zwerg seinem menschlichen Gegenüber genau dies vorwarf – denn der Zwerg hatte schon seit Tagen sein Schicksal völlig verdrängt. Ohne dass der trauernde Mann dies bemerken konnte, hatte der Zwerg Tibur genau beobachtet – von der Stunde an, da dieser mit seiner Arbeit begann, bis dass er wieder in seine Grotte über ihnen verschwand.

„Die Soldaten“, antwortete der Mann kurz, als wäre es selbstverständlich und entschwand gleich wieder in seine tiefen Gedanken.

„Aber warum?“, konnte und wollte der Zwerg es nicht verstehen.

„Es heißt es gäbe für alles einen Grund. Aber den dafür kann ich nicht finden.“ Der Mann fuhr sich mit zitternden Händen durch sein auf einmal noch älter wirkendes Gesicht. „Einfach tot.“ Wieder sprach er wie zu sich selbst. „Sie haben sie einfach umgebracht. Ohne Grund. Ohne eine Erklärung abzugeben.“ Wieder und wieder spielten sich in seinem Kopf die finsteren Tage ab. „Ich bin nach Hause gekommen. Und da lagen sie. Alle beide. Tot.“ Er vergrub sein Gesicht in seinen sehnigen Händen, als wollte er seine Tränen verbergen – doch es kamen keine. Sie hatten seinen Körper bereits alle verlassen – er war leer. Ohne Hoffnung, ohne Tränen. Nicht einmal Wut erfüllte ihn. Nur eine tiefe Trauer, die ihn daran hinderte, aus seinem Leben auszu­brechen. Er war im Körper aus einem anderen Leben gefangen. Wie ein Geist, der seinen Tod vergessen hatte, wanderte er umher, machte seine Arbeit, aß und trank, doch leben tat er nicht mehr. Alles was ihn noch in dieser Welt festhielt, war der Wille, die Erinnerung an seine Tochter – sein ganzer Stolz – und an seine über alles geliebte Frau zu wahren.

Er war zu einer lebenden Erinnerung geworden – ebenso, wie seine Steine. Und genauso fühlte er sich auch. Kalt und schwer.

 

„Aber weiß euer König nichts davon? Warum unternimmt er nichts?“ Ehrliche Verwunderung erschütterte Almar.

Tibur, der seinen Meißel festhielt als wäre dieser alles, was er noch hatte, lachte dunkel auf und ein Schauer durchfuhr den Zwerg. Nicht weil er Angst bekam, sondern weil er den Schmerz fühlte. Beinahe hoffte er, er wäre nun auf der Folterbank. Dort wusste er, dass jeder Schmerz irgendwann ein Ende haben würde. Aber jenen einen, den er in der Stimme des eigentlich Fremden vernahm, hatte etwas Unvergängliches an sich haften.

„Der ist der Schlimmste von allen!“ Seine Stimme wollte ihm den Dienst verweigern.

„Aber dient ihr nicht alle eurem König? Ihr kämpft für ihn und schwört ihm Eide.“ Die Verwunderung ließ Almar nicht los. Er konnte nicht begreifen, was hier vor sich ging. Er kannte seine Königin und wusste, dass er dieser blind vertraute, er sie sogar liebte – so wie man eine Königin nun einmal liebte. Warum sollte das beim König der Menschen anders sein?

„Ja wir sterben für ihn. Und wegen ihm. Der Tod ist alles, was dieser König kennt.“ Wut fand ihren Weg in die Stimme des Mannes.

„Aber dann bist du ein Verräter, wenn du so von deinem König denkst“, meinte Almar besorgt, da er diesem Mann nichts so Böses zutrauen wollte. Denn seinen König musste man nun einmal lieben und achten. So hielt es jeder Zwerg. Die Königin der Zwerge war manchmal hart, aber ihre Entscheidungen dienten einzig dem Volk. Jeder Zwerg achtete ihre Worte, denn nur so konnte Frieden herrschen. Auch wenn die Menschen versuchten den Krieg in ihr Land zu bringen. Aber unter den Zwergen selbst herrschte Frieden.

„Verräter?“ Wieder lachte der Mann dunkel auf, auch wenn sein Lachen diesmal bei Weitem nicht mehr so viel Kraft besaß. „Verräter.“ Der Alte hauchte das Wort in das kalte Gefängnis. „Er ist der Verräter. Er hat uns alle verraten!“ Sein dunkler Blick, der ziellos in die Schwärze führte, vollendete, was er an Worten unausgesprochen ließ.

Wieder betrachtete Almar den völlig reglosen Steinmetz, und viele Fragen eilten durch seinen Geist. War es vielleicht nicht so, wie er gedacht hatte? Waren die Menschen doch nicht alle gleich?

So oft hatte die Königin ihnen gesagt, dass diese Lang­ge­wachsenen ein rachsüchtiges Volk wären, dass sie alles für sich beanspruchten. Aber diese Vorstellung wollte nicht zu diesem Mann passen.

„Was hast du gegen die Zwerge? Warum willst du sie töten?“, wagte Almar die Frage, auch wenn er Tibur nun vielleicht daran erinnerte, dass sie doch eigentlich Feinde waren.

Tibur aber sah verwirrt auf und beäugte den für seine Augen Kleingewachsenen.

„Gegen die Zwerge?“, wiederholte er die Frage, als würde er sich über diese seltsame Frage wundern. „Nichts“, entgegnete er und schüttelte erstaunt den Kopf. „Was soll ich gegen sie haben. Du bist der erste, den ich sehe.“

„Aber warum greift ihr uns denn an?“, wollte Almar verbittert wissen.

„Wir euch? König Triton sagt, ihr würdet uns in Hinterhalte locken und ohne Vorwarnung töten“, sprach der Mann sein Wissen aus, doch ohne, dass es für ihn von Belang wäre. „Wenn wir nicht Acht geben, würdet ihr das Reich von Momos bald überrennen.“

Wütend über diese Lüge verharrte der Zwerg mit verengten Augen und stierte nun ebenfalls in eine dunkle Ecke.

So schwiegen sie beide, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Nicht einmal die Uhr der verhallenden Schläge zählte noch die Zeit.

„Würdest du deinen König verraten?“, fragte der Zwerg leise, ohne von seiner Ecke weg zu sehen.

Es brauchte eine Weile, bis Tibur aus seinen Gedanken aufwachte. „Du meinst, ob ich ihn töten wollte?“, änderte er die Frage, da ihm die Formulierung mit Verrat nicht gefiel.

Almar ließ ein kurzes Grollen in seiner Kehle aufsteigen, um zuzustimmen.

„Ich habe in den letzten Monaten oft darüber nachgedacht. Nur leider sind meine Arme nicht stark genug. Zu viele Wachen.“ Er lachte ein schweres, trauriges Lachen. „Und es ist er nicht allein! Es sind die Soldaten, die machen was sie wollen und König Triton und viele Stadthalter schauen bei allem zu und halten die Hand auf. Bald wird es bei uns so sein, wie in den anderen Reichen auch. Das ganze System ist krank.“

Almar war wie von einem Schlag getroffen. Er hatte die Frage gestellt, um seine abwegige Vorstellung zu verwerfen. Doch nun hatte der Mann sie bestätigt. Wie konnte man seinen König nur so wenig achten – ihn sogar verraten. Diese Menschen waren wahrlich finstere Wesen, hatten vor nichts Respekt. Kein Wunder, dass sie alle Zwerge umbringen wollten. Seine Königin hatte recht behalten, sie müssten sich gegen die Menschen erheben, oder sie würden warten, bis der Tod sie alle ergriff.

Tibur lachte laut auf. Er war in seinen Gedanken weitergelaufen. „Sie würden mich sogar als Held feiern“, meinte er und lachte müde auf, als er es sich vorstellte.

„Sie?“, fragte der Zwerg angewidert. Gab es denn ganze Gruppen von Verrätern unter diesen Menschen? Und schlimmer noch – waren sie auch noch stolz darauf?

„Sie?“, wiederholte Tibur, da ihm die Frage von Neuem seltsam vorkam. „Alle die nicht irgendwie im Sold des Königs stehen“, erklärte der Mann, als könnte er nicht begreifen, wie einer das nicht wissen konnte.

Der Gefangene verfiel dem Schattenspiel der Öllampen. War denn alles falsch, was er zu wissen glaubte?

„Wollt ihr denn keinen Krieg? Mit den Zwergen meine ich?“ Der Zwerg fürchtete sich vor seinen eigenen Worten.

„Krieg? Den haben wir so schon genug. Dafür brauchen wir die Zwerge nicht.“

„Aber, wenn die Zwerge euch nun angreifen? Würdet ihr sie töten?“, wagte es Almar nach einer Weile die Stille zu stören.

Langsam begann der Mensch den Zwerg für verrückt zu halten. Was der sich alles einfallen ließ. „Glaubst du etwa, wir würden nicht unser Leben verteidigen?“

„Und wenn wir euren König töten?“, verfeinerte der Gefesselte seine Frage.

„Wenn du es bloß versuchst, so werde ich dich mit meinem Leben beschützen. Auch wenn das nicht viel wert ist.“ Er lachte, als würde er Gefallen an dieser Vorstellung finden. „Aber du müsstest das ganze System stürzen.“

Schwere Gedanken belasteten den Zwerg und das anfänglich steinerne Gesicht zeigte deutlich die Spuren seiner Sorgen.

„Und die anderen? Euer Volk?“

Der Mann sah auf und lachte dem Zwerg zu. Das erste Mal trug dieses Lachen deutliche Spuren von Freude. „Du würdest zahlreiche Verbündete finden. Nur traut sich keiner mehr gegen seine Handlanger aufzubegehren. Er hat zu viele, die von seiner Herrschaft profitieren, zumindest hier in der Hauptstadt und in den anderen Städten sieht es wohl ähnlich aus. Aber ich wüsste nicht, was die anderen Reiche dann täten. Aber vor allem wären deine Verbündeten ebenso nutzlos wie ich, da sie den Umgang mit Waffen nicht gewohnt sind.“

Schweigen. Einzig die Flammen der Öllampen bewegte sich noch, und mit ihr tanzten die Schatten wie ein dünner Schleier, der niemanden warmhalten konnte.

„Und was...“, der Zwerg hielt inne, da er Angst bekam es auszusprechen. Auf einmal spürte er Hoffnung und er fürchtete den Moment, da sie ihn verlassen würde. Er wusste nur zu gut, dass dieses Gefühl nicht lange währen konnte. „Was, wenn ich dich fragen würde, ob du mich hier herauslässt?“, wagte er es dann doch.

Der Mann schaute den Zwerg verwundert an, zuckte dann aber mit den Schultern.

„Warum nicht, aber ich habe keinen Schlüssel.“

Der Zwerg schluckte kräftig, weil er es für unmöglich gehalten hatte, dass dieser Fremde ihn befreien würde. Doch dann verzerrte Almar sein Gesicht zu einem frechen Grinsen. „Du glaubst doch nicht, dass man einen Zwerg in einem Gefängnis aus Stein halten kann, wenn ein Meißel im gleichen Raum ist.“

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