Transformativer Realismus

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Kapitel 2
Kostenreduzierung verschärft die Nachfragekrise

Trotz phänomenaler technologischer Fortschritte wächst die Produktivität nicht schnell genug. Ob sich die Hoffnungen, dass die Vierte Industrielle Revolution einen ähnlichen Wachstumsschub generieren könnte wie ihre Vorgänger, jemals bewahrheiten, steht in den Sternen.

Bis dahin gilt es, im immer härter werdenden globalen Wettbewerb um Marktanteile zu bestehen. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, drücken die Unternehmen ihre Preise. Das setzt jedoch voraus, dass sie ihre Kosten verringern können.

Um die Arbeitskosten zu drücken, wurden die Gewerkschaften geschwächt oder zerschlagen. In den angelsächsischen Ländern, wo dieses Union Busting am weitesten fortgeschritten ist, sind die durchschnittlichen Reallöhne in den letzten 40 Jahren kaum gestiegen, während die Einkommen der Spitzenmanager sich verzehnfacht haben. Um die Herstellungskosten zu senken, wurden zudem im großen Stil Produktionsstätten in Länder mit billigen Arbeitskräften verlegt. Die Globalisierung der Arbeit übt indirekt Druck auf die Löhne in den alten Industrieländern aus. Die Furcht vor Arbeitsplatzverlusten treibt selbst progressive Volksvertreter in die Defensive. Auch in Deutschland haben Agendareformen und Lohnzurückhaltung die Reallöhne der unteren 40 Prozent der Arbeitnehmer gesenkt.

Die Strategie der Kostenreduzierung hat auch eine ideologische Dimension. Marktradikale sehen im Gemeinwohl nur Standortnachteile, in Löhnen nur Kosten und in Staaten nur erstickende Bürokratie. Der Wettbewerb mit den neuen Standorten in Osteuropa und Fernost lieferte den Marktradikalen den passenden Knüppel: Wenn wir unsere Anbieter nicht von allen Gemeinschaftsaufgaben entlasten, dann gehen sie – oder werden gefressen! Entsprechend munitioniert gingen neoliberale Reformer mit der Abrissbirne durch den staatlichen Regelungsrahmen.

Unter dem Schlachtruf der Standortsicherung wurden den Unternehmen ihre Beiträge zum Erhalt der Gesellschaft und der Umwelt erlassen. Steuern für die Reichen wurden gesenkt, Wohlfahrtsstaaten zurechtgestutzt, und die Risiken des Lebens – von Arbeitslosigkeit bis zu Krankheit – auf die Individuen abgewälzt. Begründet wurden die Kürzungsorgien mit den hohen Kosten für Gesundheitsversorgung und Renten in alternden Gesellschaften. Doch die eigentliche Motivation zeigte sich deutlich bei den Sozialtransfers im engeren Sinne. Umverteilt wurde fortan nicht mehr von oben nach unten, sondern von unten nach oben.

Die Reduzierung der Kosten macht zwar die Angebotsseite wettbewerbsfähiger, schwächt jedoch zugleich die Kaufkraft ihrer Kunden. Mit jeder Null- und Sparrunde vertiefte sich also das Nachfrageproblem, was die neoliberalen Strategen zu immer weiteren Kürzungen der Kosten anstachelte. In dieser Abwärtsspirale aus massivem Wettbewerbsdruck, sinkenden Löhnen, schrumpfender Kaufkraft und fallenden Preisen sind die entwickelten Volkswirtschaften bis heute gefangen.

Die digitale Automatisierung könnte diese Entwicklung weiter verschärfen. Kommt es tatsächlich zu technologischer Arbeitslosigkeit, wie das John Maynard Keynes befürchtet hatte, verschärft sich das Nachfrageproblem weiter. Ob der Welt tatsächlich die Arbeit ausgeht, oder ob die durch Roboter und Algorithmen ersetzten Arbeitsplätze an anderer Stelle neu entstehen, ist hoch umstritten. Die einen skizzieren düstere Zukunftsszenarien von einer Welt ohne Arbeit. Die anderen entgegnen, die Angst vor dem technologischen Fortschritt sei so alt wie dieser selbst. In der Vergangenheit hätten Automatisierungsschübe langfristig immer zu mehr Beschäftigung geführt. Ob weiter im großen Stil menschliche Arbeit durch Maschinen ersetzt wird, hänge weniger von den neuen technologischen Möglichkeiten ab, sondern eher von politischen und wirtschaftlichen Anreizstrukturen. Wo und wie viele neue Jobs entstehen, entscheide sich durch die Geld-, Steuer- Industrie-, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik. Die entscheidenden Stellschrauben blieben demnach in menschlicher Hand. Die Wahrheit könnte in der Mitte liegen: Auch wenn die digitale Ökonomie auf lange Sicht neue Arbeit schaffen sollte, ist wohl kaum zu vermeiden, dass es in der Übergangszeit zu massiven Verwerfungen auf den Arbeitsmärkten kommen kann. Und schon die Befürchtung, den Arbeitsplatz zu verlieren, wirkt sich hemmend auf die Konsumnachfrage aus.

Aber werden diese Stellschrauben zur Linderung der Nachfragekrise überhaupt genutzt? Um die Volkswirtschaften auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zu führen, müsste die Nachfrage durch Umverteilung stabilisiert werden. Bislang lassen die Multimilliardäre jedoch keinerlei Willen erkennen, die Volkswirtschaften durch Vermögenseinbußen zu stabilisieren. Sämtliche Versuche, die Finanzmärkte zu regulieren, die Staatsfinanzen durch Vermögenssteuern zu konsolidieren oder die Reallöhne zu steigern, scheitern daher regelmäßig am Veto der Reichen und Mächtigen. Und der Rückbau der Sozialsysteme, die Steuergeschenke für die Reichen und die Zerschlagung der Gewerkschaften gehen unvermindert weiter. Ob eine Biden-Regierung einen Kurswechsel gegen den Willen der Superreichen durchsetzen kann und will, ist offen. Die Chancen dafür stehen denkbar schlecht. Die jahrzehntelange Unterdrückung der Nachfrage zur Stärkung der Angebotsseite hat zu einer beispiellosen Konzentration von Vermögen und Macht an der Spitze der Gesellschaft geführt. Die digitale Automatisierung ersetzt nun Arbeiter durch Maschinen, also Kapital. In der politischen Ökonomie des digitalen Kapitalismus verschieben sich also die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit weiter zuungunsten der Lohnabhängigen. Auch in Deutschland legt ein nüchterner Blick auf diese gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nahe, dass die politischen Schalthebel zur Stabilisierung der Nachfrage ungenutzt bleiben dürften. Die strukturelle Nachfragekrise des Kapitalismus dürfte sich also weiter verschärfen.

Kapitel 3
Die Zugänge zu den neuen Märkten werden beschränkt

Wenn Staat und Bürger nicht genügend Einnahmen haben, bleiben nur drei Möglichkeiten, um die Konsummaschine am Laufen zu halten. Entweder der Staat oder seine Bürger verschulden sich bis über beide Ohren – den ersten Weg sind die Südeuropäer gegangen, den zweiten die Angelsachsen. Oder man zapft die Nachfrage anderer Volkswirtschaften an. Das ist die Strategie der Exportökonomien in Nordeuropa und Ostasien.

Die Suche nach neuen Märkten führt die Exporteure bis in die entlegensten Winkel der Erde. Neue kaufkräftige Kunden finden sich vor allem in den schnell wachsenden Mittelschichten Asiens. Die Attraktivität dieser Märkte hat die billigen Arbeitskosten längst als wichtigstes Motiv der Globalisierung abgelöst.

Aber auch die Strategie, neue Märkte rund um den Globus zu erschließen, stößt nun an ihre Grenzen. Schon seit Längerem deutet sich an, dass die Globalisierung ihren Höhepunkt überschritten haben könnte10. Seit der Finanzkrise 2008 geht es mit dem globalen Handel und grenzüberschreitenden Investitionen nicht mehr so richtig aufwärts. Hinter diesem Trend zur Deglobalisierung stehen handfeste geopolitische Gründe.

Lange hing der Westen der Hoffnung an, Handel werde zu Wandel in Peking führen. China hat jedoch sein Versprechen, den eigenen Markt für Wettbewerber zu öffnen, nicht eingelöst. Pekings merkantilistische Industriepolitik zielt ganz offen auf die Dominanz Chinas in den Hochtechnologien der Zukunft.

Der Technologiewettbewerb verschärft den Hegemoniekonflikt zwischen den Vereinigten Staaten und China. In Washington besteht ein parteiübergreifender Konsens, die amerikanische von der chinesischen Volkswirtschaft zu entkoppeln, um den Konkurrenten um die globale Vorherrschaft nicht noch weiter zu stärken.

Die Trump-Regierung versuchte daher mit Zöllen, Exportverboten, akademischen Kooperationssperren, Chinas Entwicklung zu verlangsamen. Um die unwilligen Europäer auf Linie zu bringen, wurden sämtliche Machthebel, von Exportkontrollen für Spitzentechnologien bis zur Drohung mit der Aussetzung von Geheimdienstkooperationen, in Bewegung gesetzt. Einen Vorgeschmack darauf, wie groß der amerikanische Druck auf die Verbündeten sein kann, haben die Europäer in der Auseinandersetzung um den Ausschluss des chinesischen Technologiekonzerns Huawei vom Aufbau der 5G-Infrastruktur bekommen. Eine Biden-Regierung dürfte zwar versuchen, das Verhältnis zu den Verbündeten zu reparieren. In der Substanz wird sich aber an dem mit harten Bandagen geführten Konkurrenzkampf mit China wenig ändern.

Die Coronakrise hat nun auch in Europa das Bewusstsein für die Verwundbarkeit globaler Lieferketten geschärft. Auch wenn die Europäer bisher nicht bereit sind, sich von China zu entkoppeln, dürften sie dennoch ihre Lieferketten weiter diversifizieren und Pufferkapazitäten schaffen, um einseitige Abhängigkeiten zu reduzieren und die Volkswirtschaften krisenfester zu machen11.

Die Welt, die aus den Trümmern der Hyperglobalisierung entsteht, könnte in rivalisierende Blöcke zerfallen. Damit ist nicht der Rückfall in die Mentalität des Kalten Krieges mit seinen Eisernen Vorhängen zwischen ideologischen Systemrivalen gemeint. Die Weltwirtschaft wird weiter vernetzt bleiben. Wohl aber könnten sich Volkswirtschaften unter der Führung eines regionalen Hegemons zusammenschließen, um sich unliebsame Konkurrenten durch inkompatible Normen und Standards, Technologieplattformen und Kommunikationssysteme, Marktzugangsschranken und Infrastruktursysteme vom Hals zu halten. Wahrscheinlichstes Ergebnis der Deglobalisierungstendenzen ist nicht der Rückfall in nationalstaatliche Autarkie, sondern die Regionalisierung von Lieferketten und Märkten.

 

Aber auch geoökonomische Gründe sprechen dafür, dass sich die neuen Absatzmärkte wieder verschließen. In den Schwellenländern führt die Automatisierung zu beschäftigungslosem Wachstum. In den Fabriken, in denen vor einigen Jahrzehnten noch Zehntausende Arbeiter schufteten, stehen heute nur noch Roboter. Bevölkerungsgiganten wie Indien, Bangladesch, Indonesien oder Vietnam sehen sich daher mit der Mammutaufgabe konfrontiert, Millionen neue Jobs für den auf die Arbeitsmärkte strömenden Nachwuchs zu schaffen. Die digitalen Plattformen der Gig Economy, über die Aufträge an unabhängige Freiberufler vergeben werden, verschaffen den gut Ausgebildeten zwar Zugang zu den globalen Dienstleistungsmärkten, doch die Bedingungen dieser Jobs sind schlecht, und in der Summe sind sie bei Weitem nicht genug, um mit dem Bevölkerungswachstum Schritt zu halten.

Die Automatisierung der Produktion in den alten Industrieländern untergräbt zudem rasch den komparativen Kostenvorteil der späten Industrialisierer. Entnervt von langen Lieferketten, lokaler Korruption, politischer Einmischung, Industriespionage und schlechten Produktionsbedingungen haben bereits die ersten Hersteller damit begonnen, ihre Fertigung näher an ihre Heimatmärkte zu verlegen. In den großen Schwellenländern mag die Notwendigkeit, im Markt präsent zu sein, diesen Rückverlagerungstendenzen zwar entgegenstehen. In den kleineren Ländern verliert jedoch die Arbeitskostenersparnis, immerhin das zentrale Motiv des ersten Globalisierungsschubes, im Kalkül der Investoren an Bedeutung.

Umgekehrt verschließen sich die westlichen Absatzmärkte für die exportstarken Schwellenländer. Mit der Aufgabe des Transpazifischen Partnerschaftsabkommen hatte der America-First-Protektionist im Weißen Haus ein klares Signal gesendet, dass er den Zugang zum amerikanischen Markt nicht nur für China, sondern für alle asiatischen Exporteure beschränken will. Eine Biden-Regierung könnte sich zwar offener gegenüber den Bedürfnissen der Verbündeten zeigen. Aber auch ein demokratischer Präsident muss den großen Unmut vieler Amerikaner über den Freihandel berücksichtigen. Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass die Amerikaner wieder ihre ehemalige Rolle als Konsumlokomotive der Welt einnehmen werden.

Schon in der letzten Krise ist der deutsche Versuch, sich aus der Rezession »herauszuexportieren«, an seine Grenzen gestoßen. Nicht nur die Vereinigten Staaten, auch Frankreich und die Südeuropäer reiben sich zunehmend an den deutschen Exportüberschüssen. Setzen sich die protektionistischen Tendenzen in den Absatzländern fort, muss Deutschland sein Wirtschaftsmodell überdenken.

Für die Schwellenländer ist das Versprechen westlicher Populisten, die Produktion nach Hause zu bringen, bedrohlich. Werden die globalen Lieferketten rückabgewickelt, steht ihr ganzes Entwicklungsmodell infrage. Verschließen sich die westlichen Märkte für die Schwellenländer, werden ihre heimischen Märkte überlebensnotwendig. Länder mit großen Binnenmärkten wie China oder Indien haben bereits damit begonnen, ihre Entwicklungsmodelle von der Exportabhängigkeit auf den heimischen Konsum umzustellen. Mit offenen oder versteckten Marktzugangsschranken versuchen sie, internationale Konkurrenz zu verdrängen.

Die Logik der Abschottung wirkt also in beide Richtungen. Je weiter sich die Volkswirtschaften des Westens abriegeln, desto mehr Zugangsbeschränkungen werden westliche Unternehmen auf den asiatischen Märkten vorfinden. Die Strategie, die Absatzschwäche auf den heimischen Märkten durch die Erschließung neuer Kunden in den Schwellenmärkten zu kompensieren, stößt damit an ihre Grenzen.

Kapitel 4
Finanzkrisen ruinieren Wirtschaft und Staat

Auch die Strategie, fehlende Nachfrage über Schulden aus der Zukunft zu borgen, ist nicht ohne Risiken. In der letzten Finanzkrise zeigte sich die Verletzlichkeit des über Privatschulden finanzierten Wachstums. Bereits die Zahlungsschwierigkeiten einiger weniger Schuldner lösten damals eine Kettenreaktion aus, die um ein Haar zum Infarkt des globalen Finanzsystems geführt hätte.

Jedem privaten oder öffentlichen Schuldner entspricht ein Gläubiger. Und so sind heute Anleger mit Unsummen von Kapital rund um den Globus auf der Suche nach attraktiven Anlagemöglichkeiten. Die düsteren Gewinnaussichten schrecken sie oft von Investitionen in die Realwirtschaften ab. Viele Kapitaleigner versuchen, die Flaute auszusitzen, indem sie ihr Geld an den Finanzmärkten parken. Dem Investitionsstau in der Realwirtschaft entspricht daher die Investitionsexplosion an den Börsen.

Politökonomisch ist der Finanzkapitalismus ein Teufelskreis. Eine winzige Elite von Kapitaleignern schöpft die Gewinne der wirtschaftlichen Tätigkeiten ab. Statt sie jedoch erneut in die Realwirtschaft zu investieren, spekulieren die Superreichen damit in den Casinos der Finanzmärkte. Wenn das Geld jedoch nur zum Zocken verwendet wird, gewinnt ein Spieler, was der andere verliert. Geschaffen wird nur Buchgeld, aber weder Innovation noch produktivitätsgetriebenes Wachstum der Realwirtschaft. Im Gegenteil: Wird das Geld nicht an die Unternehmen der Realwirtschaft weitergegeben, bleiben Investitionen aus, und die Wirtschaft stagniert. Für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung bedeutet das selbst unter normalen Bedingungen stagnierende Löhne und weniger soziale Sicherheit. Auch der Casinokapitalismus verschärft also die Nachfragekrise, die die Kapitaleigner eigentlich aussitzen wollten.

Weil das spekulative Kapital aber Blasen bildet, die nicht durch nachhaltiges Wachstum der Realwirtschaft gedeckt sind, wird der globale Finanzkapitalismus immer wieder von Finanzkrisen erschüttert. Platzende Blasen führten zu Finanzkrisen in Japan (1990), Mexiko (1994), Asien und Russland (1997/8) und Argentinien (1999). Das Zentrum des Finanzkapitalismus, die Vereinigten Staaten, wurden durch das Platzen der Dotcom-Blase (2000), des Subprime-Immobilienkreditmarktes (2007), das Einfrieren des Repo-Marktes (2019) und die Coronakrise (2020) erschüttert.

Um den Infarkt des Finanzsystems zu verhindern, spannen Zentralbanken und Staaten gigantische Rettungsschirme über die Spieler, die sich verzockt haben. Aus den Schuldenkrisen der Privatwirtschaft werden so Staatsschuldenkrisen.

Aber auch außerhalb von Krisenzeiten sehen viele Staaten keinen Ausweg aus ihrer Zwangslage als das Schuldenmachen. Eingeklemmt zwischen Standortsicherung und Daseinsvorsorge bleibt vor allem den Kommunen nicht viel mehr, als ihre unlösbaren Finanzierungsprobleme auf morgen zu verschieben. In der Eurokrise zeigte sich jedoch, welche Risiken mit zu hoher Staatsverschuldung einhergehen.

Kapitel 5
Die Staatsschuldenkrise spaltet Europa

In einer vernetzten Welt breiten sich die Schockwellen wirtschaftlicher Störfälle innerhalb von Sekunden rund um den Globus aus. Wie schon 2008 standen die Staaten auch 2020 vor einem Dilemma. Greifen sie ein, suspendieren sie die Selbstkorrektur der Märkte, und tragen mit billigem Geld zur Explosion der sozialen Ungleichheit bei. Tun sie nichts, kann der Infarkt im finanziellen Herzen des Kapitalismus zu einer wirtschaftlichen Depression führen, mit katastrophalen Folgen für Millionen von Menschen. Letztlich hat in beiden Fällen die Abwehr der kurzfristigen Schäden den Ausschlag gegeben.

Mittelfristig ruinieren die gigantischen Rettungspakete jedoch die Staatsfinanzen. Wie gefährlich das werden kann, haben die Südeuropäer in der Eurokrise gespürt. Gerade noch mit Steuergeldern gerettet, verweigerten die Geschäftsbanken nun ihren Rettern im hoch verschuldeten Süden Europas den Zugang zu den Anleihemärkten.

Der ewige Streit um die Staatsschulden

Der Streit um den richtigen Umgang mit den Staatsschulden entzweit seit einem Jahrzehnt Nord- und Südeuropa. Sollten die Nordeuropäer ihren südlichen Partnern solidarisch unter die Arme greifen? Oder sind die demokratischen Regierungen des Nordens in erster Linie ihren eignen Steuerzahlern verantwortlich?

Nach einem heftigen Familienstreit wagten die Europäer in der Coronakrise zwar den ersten Schritt in die gemeinsame Aufnahme von Schulden zur Finanzierung eines Wiederaufbauprogramms. Doch gegen den Einstieg in eine »Transferunion« gibt es bei den Nettozahlern, allen voran den »Sparsamen Vier« – Österreich, Niederlande, Schweden und Dänemark – weiterhin hartnäckigen Widerstand.

Die Allianz der Transfergegner fordert bereits eine neue Runde Austerität für die hoch verschuldeten Euroländer. Der Glaube, dass weitere Sparpakete zur Konsolidierung der Staatsfinanzen im Süden Europas mit demokratischen Mitteln durchsetzbar wären, ist jedoch eine gefährliche Illusion. Die populistischen Revolten, die Südeuropa erschüttern und Großbritannien aus der Europäischen Union katapultiert haben, waren die politische Reaktion auf die sozialen Abstiegsängste, die durch die Verwerfungen der Globalisierung, Automatisierung und Migration befeuert werden. Die neoliberalen Sparorgien bei der Daseinsvorsorge und an den sozialen Netzen signalisierten den Verunsicherten, dass der Staat sie im Stich gelassen hat. Das illusorische »Take back control« der Brexiteers war die trotzige Antwort auf die weitverbreitete Furcht vor dem Verlust der Kontrolle über das eigene Leben.

Die populistischen Revolten gegen die wirtschaftlichen und sozialen Verheerungen der Austeritätspolitik in Großbritannien, Griechenland und Italien sind eine deutliche Warnung, dass die demokratischen Souveräne nicht länger gewillt sind, die Kosten für die Rettung der Kapitaleigner zu tragen. Explodiert die Ungleichheit weiter, werden Europas Demokratien von Kultur- und Verteilungskämpfen zerrissen. Eine weitere Dekade Austerität würde einen Tsunami populistischer Revolten auslösen, der die liberale Demokratie in einigen Gründerstaaten Europas zerstören und die Europäische Union auseinanderreißen würde. Die Durchsetzung einer weiteren Runde von Kürzungen bei Löhnen, Daseinsvorsorge und Sozialtransfers ist also mit demokratischen Mitteln nicht möglich.

Dieser Streit wird mit großer Vehemenz geführt, weil sich dahinter zwei grundlegendere Konflikte verbergen, die das europäische Einigungsprojekt in seinen Grundfesten erschüttern.

Erstens tobt nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Mitgliedsstaaten ein Verteilungskonflikt um die Frage, wer die gigantischen Kosten der Finanz-, Euro- und Coronakrise zu tragen habe. Sollte den überschuldeten Staaten erlaubt werden, ihre Schulden durch Anleihekäufe der Zentralbank wegzuinflationieren, oder sollten die Kosten über harte Sparpakete an die Schwächsten in den Gesellschaften weitergegeben werden? Vor allem die Verlierer dieser Verteilungskonflikte sind nicht bereit, das Wenige, was ihnen verbleibt, mit den europäischen Nachbarn zu teilen.

Zweitens wirft der Streit um die »Transferunion« die Frage nach der Finalität auf, sprich: auf welche Endform das europäische Einigungsprojekt eigentlich zuläuft. Sind die Souveräne der Geberländer tatsächlich bereit, sich in eine Haftungsgemeinschaft mit ihren europäischen Nachbarn zu begeben? Und sind die Transferempfänger tatsächlich bereit, den Souveränitätsverlust hinzunehmen, der mit der demokratischen Kontrolle ihrer Fiskalpolitik einhergeht?

Um die Kräfteverhältnisse in diesen Auseinandersetzungen besser einschätzen zu können, lohnt ein kurzer Rückblick auf die politische Ökonomie der europäischen Einigung.

Das europäische Einigungsprojekt gründet auf zwei zentralen Versprechen: durch Zusammenarbeit Frieden und Wohlstand für alle zu schaffen. Die Gründungsväter Europas vergemeinschafteten die kriegswichtigen Industrien Atom, Kohle und Stahl mit dem Ziel, die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten so zu verschränken, dass sie nie wieder in der Lage sein würden, Krieg gegeneinander zu führen. Und tatsächlich herrscht in großen Teilen Europas seit mehr als 70 Jahren Frieden; die längste Friedenszeit, die der kriegszerrüttete Kontinent jemals erlebt hat.

Gebrochen wurde dagegen aus Sicht vieler Europäer das Wohlstandsversprechen12. Statt für einheitliche Lebensverhältnisse zu sorgen, entwickeln sich die Wohlstandsniveaus innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten immer weiter auseinander.

Das liegt nicht zuletzt an einer Fehlkonstruktion des Herzstücks der wirtschaftlichen Union, der gemeinsamen Währung. Am Anfang der Gemeinschaftswährung stand ein Kuhhandel. Die skeptischen Europäer stimmten der deutschen Wiedervereinigung nur unter einer Bedingung zu: Die größte Volkswirtschaft Europas musste auf ihre eigene Währung verzichten. Vor allem die Franzosen befürchteten, dass ihnen der deutlich bevölkerungsreichere Nachbar den Rang ablaufen würde. Die Beschneidung der Kompetenzen der mächtigen Bundesbank sollte die Machtarithmetik Europas langfristig sichern. Die Europäisierung der harten deutschen Währung gab zudem den neoliberalen Reformern in Frankreich und Italien, die auf sich allein gestellt den Rückbau ihrer Sozialstaaten in den nationalen Kräfteverhältnissen nicht durchsetzen konnten, die Möglichkeit, soziale Einschnitte durch den externen Zwang der Märkte zu begründen oder durch Mandate aus Brüssel zu legitimieren13.

 

Für die europäische Friedensordnung war der Handel »deutsche Wiedervereinigung gegen Verankerung des geeinten Deutschlands in Europa«, wie er in den Verträgen von Maastricht festgeschrieben wurde, ein Segen. Wirtschaftliche bewirkte die Vergemeinschaftung der Währung das jedoch das exakte Gegenteil ihrer ursprünglichen Intention. Gegenüber der alten D-Mark ist der Euro weicher, und verbilligt damit die deutschen Exporte auf dem Weltmarkt. Zugleich machte die Unterdrückung der Lohn- und Sozialkosten der Agendapolitik die deutsche Wirtschaft konkurrenzfähiger. Ohne die Möglichkeit, die eigene Währung abzuwerten, hatten die weniger produktiven Volkswirtschaften der Eurozone kein Ventil mehr, um diesen Konkurrenzdruck auszugleichen. Im Ergebnis drückte die deutsche Exportwirtschaft ihre europäischen Wettbewerber an die Wand. Politisch zu schwach, ihre Gesellschaften ebenfalls einer neoliberalen Rosskur zu unterziehen, nutzten die südeuropäischen Euroländer lieber die günstigen Konditionen an den Anleihemärkten, um ihre Ausgaben auf Pump zu finanzieren. Das rächte sich bitter, als die gigantischen Kosten der Finanzkrise 2008 zu Buche schlugen. Mit den explodierenden Staatsschulden versiegten auch die erschwinglichen Kredite. Damals wie heute stand er Staatsbankrott einiger Euroländer im Raum.

In der Not riefen die strauchelnden Südländer ihre europäischen Partner zu Hilfe. Doch die »Austeritäts-Ayatollahs« des Nordens wollten von der »Vergemeinschaftung der Staatsschulden« nichts wissen. Den »faulen Südländern«, die »jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt« hätten, wurden derartig drakonische Strukturanpassungsprogramme auferlegt, dass der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis von »wirtschaftlichem Waterboarding« sprach. Italien und Griechenland haben sich von dieser Dekade der Austerität nie erholt.

Die Coronakrise hat weite Teile Europas in eine tiefe wirtschaftliche Rezession mit verheerenden sozialen Folgen gestürzt. Um die Wirtschaft wiederaufzubauen, müssen die Staaten kräftig investieren. Was im Norden Europas möglich ist, können sich die hoch verschuldeten Südeuropäer aber nicht leisten. Im Gegenteil, Italien, Spanien und Griechenland drohen in einem Teufelskreis aus Rezession, Schulden und Arbeitslosigkeit zu versinken.

Aus den Hilferufen nach Eurobonds wurden daher erbitterte Forderungen nach Coronabonds. Moralisch ließen sich diese Solidaritätsappelle nun nicht mehr durch den Verweis auf Eigenverschulden abtun. Politökonomisch blieb die Streitfrage jedoch dieselbe: Lassen die fiskalisch gesunden Nordeuropäer ihre europäischen Partner an ihrem privilegierten Zugang zu den Finanzmärkten teilhaben? Oder umgekehrt: Wie hoch ist der Preis für den europäischen Zusammenhalt?

Hier zeigt sich, dass die Staatsschuldenkrise nur ein Teil der Solidaritätskrise ist, die Europa seit geraumer Zeit entzweit. In der Ukrainekrise war Westeuropa nicht solidarisch mit Osteuropa, in der Eurokrise verweigerten die Nordeuropäer den Südeuropäern die Solidarität und in der Flüchtlingskrise waren es die Osteuropäer, die sich nicht solidarisch zeigten. Brexit-Großbritannien wendet sich ganz von der Europäischen Union ab, und erhält dafür Beifall aus Warschau und Budapest. In der Coronakrise setzten die Mitglieder zunächst auf nationale Alleingänge. Der serbische Präsident sprach offen aus, was auch viele EU-Mitgliedsländer denken: Die europäische Solidarität sei eine Fantasie – in der Not könne man sich nur auf China verlassen.

Ausgerechnet die Währungsunion, die doch zur Konvergenz der Wohlstandsniveaus führen sollte, spaltet die Europäer. Hier zeigt sich nun, dass der Kuhhandel um den Euro eine nicht lebensfähige Konstruktion hervorgebracht hat. Aus Sicht vieler Europäer wurde der Gesellschaftsvertrag des europäischen Integrationsprojektes, für Frieden und Wohlstand auf nationale Souveränität zu verzichten, gebrochen.

Vor allem die Italiener sehen sich als die Verlierer der Gemeinschaftswährung. In Umfragen zeichnen sich bereits Mehrheiten dafür ab, die drittgrößte Volkswirtschaft Europas aus dem Euro, oder gar das Gründungsmitglied Italien aus der Europäischen Union zu führen.* Wenn die Einhaltung der Maastricht-Kriterien weder demokratisch durchsetzbar noch ökonomisch möglich ist, ist der Euro-Stabilitätspakt gescheitert. Das bedeutet politisch, dass die Verfassung der Gemeinschaftswährung auf eine neue, solidarischere Basis gestellt werden muss.

* In einer SWG Umfrage im April 2020 bezeichneten 45 Prozent der befragten Italiener Deutschland als »Feindesland«, während 52 Prozent China und 32 Prozent Russland als Freunde bezeichneten; in einer Tecnè-Umfrage vom April 2020 sprachen sich 49 Prozent der Italiener sich für den Austritt aus der Europäischen Union aus.

Langfristig funktioniert die EU nicht ohne Angleichung der Lebensverhältnisse

Seit der Eurokrise halten die Anlagenkäufe der Europäischen Zentralbank die verschuldeten Südeuropäer über Wasser. Auf Dauer ist den Südeuropäern aber mit Krediten nicht geholfen.

Um die politischen Fliehkräfte zu mildern, die die Eurozone auseinanderreißen könnten, müssen sich die Europäer auf die Angleichung der Lebensverhältnisse verpflichten. In Bundesstaaten wie den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland greifen die reicheren den ärmeren Ländern finanziell unter die Arme. Um die großen Unterschiede in den Lebensbedingungen auszugleichen, bräuchte es einen Umverteilungsmechanismus zwischen den europäischen Partnern.

Die europäischen Verträge haben aber peinlich genau darauf geachtet, dass eben das nicht möglich ist. In der Coronakrise konnte der Ausbruch einer neuerlichen Eurokrise, und damit wohl das Ende des Euro, nur verschämt durch die Hintertür in Form von Zentralbankgarantien verhindert werden.

Immerhin wurde nach langem Streit im Juli 2020 ein Rettungspaket verabschiedet, das erstmalig in der Geschichte der Europäischen Union die gemeinsame Aufnahme von Schulden erlaubt. Berlin gibt damit zumindest temporär seinen Widerstand gegen die »Vergemeinschaftung von Schulden« in der »Transferunion« auf. Das europäische Wiederaufbauprogramm »Next Generation EU« ist ein wichtiger erster Schritt in die richtige Richtung. Ein substanzieller Teil des europäischen Budgets von knapp 2 Billionen Euro fließt in die Förderung des European Green Deals, der die digitale, soziale und ökologische Transformation vorantreiben soll. Der Finanzierungshebel sorgt zudem dafür, dass ein wichtiger Wachstumsimpuls in die europäischen Volkswirtschaften gesendet wird. Ob dafür die gerade einmal 6,1 Prozent des europäischen Bruttoinlandsproduktes ausreichen, wird sich zeigen.

Das europäische Dilemma

Ob der Durchbruch bei der gemeinsamen Finanzierung des Konjunkturpaketes schon einen »Hamilton-Moment« markiert, wie viele Europhile jubelten, bleibt allerdings abzuwarten. Denn der Weg in eine politische Union ist lang und steinig. Der Blockadeversuch des Wiederaufbauprogramms durch Polen und Ungarn zeigte, wie weit die Vorstellungen der Mitgliedstaaten selbst in Grundsatzfragen wie der Rechtsstaatlichkeit auseinanderliegen. Hinter dem Gezerre um die Transferunion steht jedoch nicht nur nationalistischer Egoismus. Wenn die Steuerzahler zur Unterstützung ihrer europäischen Mitbürger zur Kasse gebeten werden, haben die demokratischen Souveräne ein Recht darauf, dass ihnen Rechenschaft darüber gezollt wird, wofür ihr Geld ausgegeben wird. Auf dem Spiel steht also nichts weniger als der älteste Grundsatz des Parlamentarismus: No taxation without representation. Das Beharren auf demokratischen Prinzipien ist keineswegs anti-europäisch. Ganz im Gegenteil kann die stärkere parlamentarische Kontrolle der europäischen Finanzen genau das Gegengift gegen die grassierende Angst vor dem Kontrollverlust sein, die einer tieferen Integration Europas im Wege steht.