Robins Garten

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«Das heisst», fasste Strahm interessiert zusammen, «Sie hätten eigentlich die Möglichkeit ins System einzugreifen?»

Florian grinste nur verlegen.

Der Alte lachte: «Und das hat Sie nie gereizt?»

«Sehen Sie, als Sachbearbeiter hat man immer nur mit einzelnen Berichten und Analysen zu tun, man hat keinen Einblick in die ganze Datenfülle, die dann in den Grossrechnern verarbeitet wird. Den Überblick über alle Berichte einzelner Objekte haben nur die Teamchefs.»

«Mit seinem Passwort hätten aber auch Sie Zugriff auf diese Daten», bemerkte Strahm, und Florian nickte vorsichtig. Dann kam der Grönland- und Bauexperte, ohne dass Florian der Zusammenhang klar wurde, auf den zivilen Ungehorsam im Indien der Kolonialzeit zu reden, fand dann nach einer Weile aber wieder zum Thema Versicherungen zurück und verwickelte den jungen Mann in eine Diskussion über Gerechtigkeit. Dieser musste ihm hier und da zustimmen. Es stimmte schon, dass die vielen kleinen Analysen und Einschätzungen an sich nicht für die Objektivität einer Einschätzung bürgen konnten, sogar eine gewisse Willkür kaschierten. So hatte Florian es noch nie gesehen, aber er musste Strahm ein Stück weit Recht geben. Der Alte hatte übrigens dieselbe unangenehme Eigenschaft wie Eckert, immer erst dann weiterzufahren, wenn der Gesprächspartner ihm die fraglichen Punkte explizit bestätigt hatte.

«Die Versicherungen vergessen eine wichtige Sache», meinte Strahm, «den natürlichen Hang des Menschen nach einem eigenen Stück Boden. Auch das ist ein urmenschlicher Trieb» – Urmenschliches und Archetypisches scheint das Lieblingsthema der Alten hier oben zu sein, dachte Florian –, «der Mensch geht sehr weit, wenn er Gefahr läuft, von seinem Land vertrieben zu werden.»

Zur Bestätigung seiner These wusste er eine ganze Reihe von Anekdoten aus seiner Arbeit als Bodenspekulant und Siedlungsplaner. Dann rückte er etwas näher zu Florian heran und begann mit gedämpfter Stimme von der Jagd zu erzählen, auch diese ein Urbedürfnis des Menschen, zu dem sich aber heute kaum mehr jemand bekennen wolle. «Was halten Sie davon?», wollte er wissen.

«Christophe, lass das doch jetzt, bitte!», unterbrach ihn Grossmutter, sichtlich verärgert.

Aber dieser liess sich nicht beirren. «Sehen Sie», meinte er und wies mit der Hand triumphierend auf Grossmutter, «niemand bekennt sich mehr dazu, dabei steckt der Jagdtrieb, der Drang nach Blut, in jedem von uns.»

«Nicht in mir», unterbrach ihn Grossmutter energisch. Sie schaute auf die Uhr und bestimmte, dass man sich in den Speisesaal zu begeben habe.

Bereits zehn vor sechs, dachte Florian, er würde sich nicht vor sieben Uhr verabschieden können, ohne unhöflich zu sein. Das bedeutete, um erst halb neun zu Hause zu sein, ein Abend, mit dem man nicht mehr viel anfangen konnte.

Strahm war noch kurz aufs Zimmer gegangen, Grossmutter führte Florian durch einen weiteren düsteren Gang mit hässlichen alten Gemälden Richtung Speisesaal. Auf dem kurzen Weg musste sie nicht weniger als vier Mal stehen bleiben, um dem Enkel etwas im Vertrauen zu sagen, was sie offensichtlich weder auf der Terrasse in der Anwesenheit von Eckert und Strahm, noch drinnen im Speisesaal tun wollte. Dabei stellte sie sich jeweils so vor ihm auf, dass er notwendig stehenbleiben musste, so sehr es ihm auch widerstrebte und so sehr es ihn zum Speisesaal zog. Beim ersten Halt liess sie sich von ihm rapportieren, was er über die Residenz wusste.

Das alte Kurhaus, dessen Bedeutung nach dem Krieg konstant zurückgegangen war, hatte jahrelang leer gestanden. Private Interessenten hatten sich nach einer seriösen Kostenrechnung zurückgezogen, und nachdem auch die Gemeinde, die eine Zeit lang an einem Kauf interessiert gewesen war, aus Kostengründen abgesagt hatte, wurde das Haus von einer Gruppe sehr wohlhabender älterer Leute gekauft, für Unsummen restauriert und in eine luxuriöse Altersresidenz umfunktioniert. Die Vorgaben des Heimatschutzes waren derart streng, dass das Kurhaus zwar alle Annehmlichkeiten des modernen Seniorenlebens bot, aber nach wie vor der hässliche, efeubewachsene Backsteinkasten mit düsteren, langen Gängen blieb, der er vor der Sanierung gewesen war und in nichts dem prunkvollen, hellen Kurpalast glich, der es – wollte man alten Ansichtskarten glauben – hundert Jahre früher gewesen war. Florians Grossmutter gehörte nicht zu den Wohlhabenden, war aber im Besitz des Grundstücks gewesen, auf dem die Käufer einige Erweiterungsbauten, unter anderem das Schwimmbad und die Wellnessanlage, geplant hatten. Das hatte zur Folge, dass Grossmutters Haus, in dem Florian einen Grossteil seiner Jugend verbracht hatte, abgerissen wurde und Grossmutter selber in die Residenz einzog, wo sie lebenslanges Wohnrecht genoss. Etwas unschön an der Sache war nur, dass ihr Haus Teil eines Doppeleinfamilienhauses war, das beim Umbau der Residenz mittendurch getrennt werden musste. Die Familie Wettlinger, die den anderen Teil bewohnte, musste sich wohl oder übel damit abfinden, von da an in einem halben Haus zu leben, dessen vierte Seite für sie unzugänglich war, weil das Grundstück der Residenz mit einem hohen Maschendrahtzaun gegen Eindringlinge abgeriegelt wurde.

Grossmutter zeigte sich zufrieden über den Wissensstand des Enkels, und sie gingen einige Schritte weiter, bevor sie ihm erneut den Weg versperrte, um ihn im Flüsterton über die prekäre finanzielle Situation einiger Bewohner aufzuklären: «Alt sein ist teuer, viele haben in den Börsenwirren der letzten Jahrzehnte bedeutende Teile ihres Vermögens eingebüsst. Stell dir vor, sie müssten die Residenz aufgeben, in ihrem Alter! So etwas nur zu denken, ist beschämend, findest du nicht?»

Florian nickte, um sich damit wieder einige Meter Richtung Speisesaal zu verdienen. Als sie nach drei Schritten erneut stehenblieb, spürte er, wie in ihm ein innerer Drang überhand nahm, sie vor sich her in den Speisesaal zu schieben, um endlich dort anzukommen.

«Bevor wir hier reingehen, muss ich dir noch etwas Letztes sagen, Florian.» Sie schien seine Unruhe bemerkt zu haben. «Hier in der Residenz denken nicht alle gleich gut von dir, ich meine von deinem Beruf.»

Florian runzelte die Stirn: Was sollte das nun wieder?

«Du stammst doch von hier, und dass du nun für die Versicherung arbeitest, das betrachten viele fast als Verrat.»

Das verstand er nicht, er musste ja etwas arbeiten, und er tat den Leuten ja nichts zuleide!

Sie winkte ab: «Die Auf- und Abstufung ist eben ein heikler Prozess, das betrifft die Leute ganz direkt, und da ist ein Vertreter der Versicherung natürlich schon eine kleine Provokation.»

Er wusste nicht, dass dem Grundstück eine Umstufung drohte und wollte auch nicht Geschäftliches mit dem Familienbesuch mischen.

Die zweiflüglige Tür war schon in Reichweiter, als sich Grossmutter ein letztes Mal vor ihm aufstellte. Mit ihrem faltigen Hals kam sie ihm vor wie ein übergrosser, aufgeplusterter Truthahn: «Im Alter verändert sich vieles, man wird angreifbarer, verletzlicher.»

Er konnte die Augen nicht von ihrem faltigen Hals nehmen.

«Viele hier haben grosse Angst wegen der Überfälle.»

Florian nickte. Er hatte gehört, dass in der nahegelegenen Zone mehrfach Häuser überfallen worden waren.

«Was wäre, wenn das uns passiert? Wir sind alt und wehrlos.»

Wehrlos wirkte sie nun doch nicht. «Und die Polizei?»

«Ach, Florian, du weisst, hier draussen kommen die doch immer erst, wenn alles vorbei ist.» Damit war auch dieses Thema erledigt, und sie liess ihn endlich in den Speisesaal. Er hatte wieder dieses ungute Gefühl, dass die alte Dame ein Spiel spielte, in dem sie Eckert, Strahm und vor allem ihrem Enkel eine Rolle zugewiesen hatte, es war ihm nur nicht klar, welche. Aber vielleicht war es auch nur die Wirkung des Alkohols, die er unangenehm spürte.

Mit seiner Stoffhose und der beigen Jacke kam er sich im Speisesaal völlig deplatziert vor. Wenn der Saal auch nicht sonderlich festlich schien, mehr an eine Betriebsmensa erinnerte, hatten alle Alten doch grosse Sorgfalt auf ihre Kleidung verwendet. Die Frauen trugen Blusen, Deuxpièces, die Herren Hemd und Veston, sogar die weissen Sportschuhe strahlten eine gewisse Eleganz aus. Vielleicht lag es auch am Alter der Leute oder an der Tatsache, dass man ihn beim Vorbeigehen von allen Tischen verstohlen musterte: Er fühlte sich äusserst unbehaglich. Warum hatte Grossmutter ihn so lange aufhalten müssen, dass sie jetzt fast als Letzte den Saal betraten? Von einem Tisch drang leises Murmeln herüber. Beim näheren Hinhören glaubte er Tischgebete zu hören. Mein Gott, wo war er da gelandet?

«Das sind die Religiösen», erklärte Grossmutter, die seinen fragenden Blick beobachtet hatte. «Wir haben im Haus zwei Fraktionen, die Religiösen und wir. Die haben ihre eigene Kapelle eingerichtet und sind allesamt etwas sonderbar, aber alles in allem harmlos. Am Anfang waren sie noch ganz normal, das hat sich erst in den letzten Jahren verschlimmert.»

Florian war ganz froh, als der fröhliche Strahm auf ihren Tisch zusteuerte, immer noch in seiner Försterkleidung, und sich dazusetzte, als gehörte er zur Familie. Weiter hinten im Saal sass ein anderer Mann in einer ähnlichen Kleidung wie der grönländische Bodenspekulant. Es war der Mann, der sich beim Empfang mit dem Verwalter gestritten hatte. Florian fragte Grossmutter, was am Empfang los gewesen sei, und sie meinte, mit Blick auf Herrn Strahm, er und Herr Kuonen dort drüben wollten einen Jagdverein aufziehen.

«Eine wertvolle Freizeitbeschäftigung», warf Strahm ein.

Aber natürlich, fuhr Grossmutter unbeirrt fort, sei das nicht möglich mit den geltenden Waffengesetzen, Forstgesetzen und überhaupt allen möglichen Gesetzen.

«… die restlos alles einschränken, was man früher problemlos zu seinem Vergnügen und zur Jungerhaltung hatte machen können, restlos alles!»

 

Grossmutter ging nicht darauf ein, zudem kam die Suppe. In der Folge redete man über dies und das, lockerer, entspannter, auch Grossmutter lachte einige Male lauthals, fing sich aber sofort wieder, als ob es ihr peinlich wäre. Das Essen war exquisit, und der Wein, von dem man ihm fast nach jedem Schluck nachschenkte, versetzte ihn immer tiefer in eine wohlige Schwere. Zwischen Vorspeise und Hauptgang – kühle Ingwer-Suppe, Lammcarrée mit Saisongemüse und Eiernudeln an einer Zitronensauce – kam die alte Frau an ihren Tisch, die Florian ebenfalls beim Empfang gesehen hatte, in einem grässlichen Blumenkleid, und begann halb flüsternd vom Tod eines Mitbewohners zu erzählen – er hatte also doch richtig gehört – und dass dieser gewünscht habe, Grossmutter würde sich um den Nachlass kümmern, man habe eine entsprechende Verfügung in seinem Zimmer gefunden. Grossmutter gab sich abweisend, murmelte ein unfreundliches «Meinetwegen». Als die Alte mit dem Blumenrock sich wieder entfernte, meinte sie abschätzig: «Miriam Caflisch. Eine von den Religiösen», als sei damit alles klar.

Florian entschied sich, das nicht als Seitenhieb auf seine Mutter aufzufassen, die zur Zeit wohl in ihrer Klausur fastete oder betete. Er liess sich durch die Gespräche treiben, lachte manchmal lauter, als er beabsichtige, und hatte beinahe schon seinen Verdacht vergessen, dass etwas mit der ganzen Einladung nicht stimmte. Da stellte er plötzlich fest, dass ihr Tisch als Einziger ein exklusives mehrgängiges Menu im Porzellangeschirr mit dem Goldrand genoss, während an den anderen Tischen einfache Hausmannskost im weissen Residenzgeschirr serviert wurde. Nur auf ihrem Tisch brannten Kerzen in einem silbernen Leuchter, nur sie tranken den Rotwein aus grossen Kristallgläsern. Wahrscheinlich war es das, was die Blicke der anderen Gäste auf ihren Tisch zog. Auch die Tatsache, dass Grossmutter, Eckert und Strahm ständig Blicke austauschten, als wollten sie sich gegenseitig das Stichwort zu irgendetwas geben, liess ihn aufmerken. Etwas stimmte doch nicht. Er bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl hin und her, und als sich Grossmutter räusperte und das Wort ergriff, wusste er, an ihrem Tonfall, am Schweigen der beiden anderen, dass jetzt mit Sicherheit etwas Unangenehmes kam.

Die Besorgungen seien nicht der einzige Grund gewesen, ihn hierher zu bestellen, begann die alte Dame.

Florian wischte sich den Mund ab und legte die Serviette hin.

Sie hätten, und damit meinte sie wohl die ganze Tischgesellschaft, sie hätten diesen Nachmittag über dieses und jenes geredet, und sie hätten bei dieser Gelegenheit erforschen wollen, wo Florian stehe.

Dieser runzelte die Stirn und schluckte leer.

Welchen Standpunkt er zu gewissen Dingen hätte.

Florian wurde bleich.

Danach listete sie Punkt für Punkt einzelne Aussagen auf, die er im Verlauf des Nachmittags gegenüber dem einen oder anderen gemacht hatte. «Wir sind uns einig darüber, dass Familienbande von keiner anderen Verbindung an Bedeutung übertroffen werden können und es eine Pflicht über dem Gesetz ist, Familienmitgliedern in Not zu helfen.»

Florian nickte unsicher.

«Ebenfalls hast du beigepflichtet, dass alte Leute als besonders schutzbedürftig gelten und deren Unterstützung eine ethische Pflicht ist, die in Extremsituation ebenfalls über dem Gesetz zu stehen hat. Du bist weiter mit uns einig, dass ziviler Ungehorsam in ausserordentlichen Situationen legitim sein kann.»

Mit jedem Punkt wurde der Enkel bleicher, und sein Herz klopfte schneller.

«Du gehst mit uns einig, dass der Drang nach einem eigenen Stück Boden ein archetypisches Menschenrecht darstellt. Und dass der mutwillige Diebstahl von Grund und Bodens ein grober Verstoss gegen die Menschenwürde ist.»

Es schien Florian, als sei der ganze Speisesaal verstummt und ein grosser Truthahn lese ihm in einem grotesken Gerichtsverfahren die Anklagepunkte vor.

«Du hast selber gesagt, dass das Einstufungsverfahren deiner Versicherung nur äusserlich objektiv ist, ja genaugenommen einer grossen Willkür untersteht. Du hast uns anvertraut, dass du die Möglichkeit hast, in das System einzudringen.»

Er wusste, worum es ging, noch bevor sie es sagte, und als sie es schliesslich ausgesprochen hatte – unter den musternden Blicken von Eckert und Strahm – war er dennoch so schockiert, dass er nur leer schluckte.

Dann entspannte sich Grossmutter, räusperte sich und meinte beschwichtigend, es liege natürlich in seinem Ermessen, niemand wolle ihn zu etwas zwingen. Es wurde Kaffee bestellt, die Gespräche an den anderen Tisch gingen weiter. Über die ungeheuerliche Forderung wurde kein weiteres Wort verloren. Zum Kaffee gab es Gebäck und Schokoladetäfelchen. Die Uhr im Speisesaal, die mit der Wand leicht hin und her schwankte, zeigte ungefähr fünf vor oder nach halb acht.

Draussen an der frischen Luft, unter dem Sternenhimmel, spürte Florian erst die Hitze in seinem Kopf, das Sausen in den Ohren und die Übelkeit in der Magengegend. Sie hatten ihn regelrecht abgefüllt da drinnen! Er blickte zurück zum dunklen Kasten, hinter dessen hohen Bogenfenstern sie nun wohl Manöverkritik übten, die drei. Ein Auto fuhr langsam heran, und in einer eigentümlich übersteigerten Aufmerksamkeit stellte Florian unverzüglich fest, dass es sich beim Fahrer um den Vater Wettlinger handelte. Florian wollte diesen Menschen in diesem Moment, in dieser Verfassung auf keinen Fall kennen. Der andere hatte aber bereits das Fenster heruntergelassen und fuhr im Schritttempo neben ihm her.

«Florian?»

Kurz darauf sass Florian auf dem Beifahrersitz, der mit einem künstlichen Schaffell gepolstert war. Es war stickig und roch nach Alkohol, er wusste nicht, ob von ihm oder von Wettlinger. Er hatte völlig vergessen rechtzeitig den Bus zu bestellen und daher das Angebot des ehemaligen Nachbarn, ihn bis zu den Fünf Dörfern zu fahren, nicht ausschlagen können.

«Und, wie geht’s der Grossmutter?»

Florian erzählte von seinem Besuch, ganz allgemein nur, danach war wieder Stille. «Und was macht der Jürg?», fragte er nach einer Weile seinerseits. Wettlingers Sohn hatte Florian ebenfalls Jahre nicht mehr gesehen.

«Dem geht’s gut …», meinte er und begann mit einer Hand im Handschuhfach etwas zu suchen, während der Wagen in einem leichten Slalom und für Florians Begriff recht schnell in der Mitte der Strasse fuhr.

Das Gespräch führt nirgendwo hin, dachte Florian. «Verrückt, die Sache mit den Überfällen! Wie geht ihr hier oben damit um?»

Wettlinger hatte endlich das Bonbon, nachdem er gesucht hatte, im Mund und fuhr wieder etwas ruhiger, wenn auch immer noch schnell und mitten auf der Fahrbahn. «Diese Jugendbanden! Das ist doch das Letzte!» Er riss das Steuer herum und erwischte die nächste Kurve gerade noch, während Florians Magen immer stärker gegen den dynamischen Fahrstil rebellierte. «Da müsste man mit anderen Mitteln vorgehen, sag ich dir. In anderen Ländern hätte das schon lange ein Ende.»

Florian konzentrierte sich darauf, dass sein Mageninhalt dort blieb, wo er hingehörte.

«Und wie läuft’s bei dir, bei der Versicherung?», fragte Wettlinger und steckte sich ein weiteres Bonbon in den Mund.

«Ganz gut, immer der gleiche Trott halt, nicht immer spannend, aber man muss ja etwas tun.»

Wettlinger nickte und schwieg wieder. Er ist alt geworden, dachte Florian, aber nicht alt wie die Alten in der Residenz, eher verbraucht, zu früh verbraucht. Dann musste er sich wieder auf den Mittelstreifen konzentrieren, um sich nicht zu übergeben. Es war nicht gerade förderlich, dass dieser sich unregelmässig vor der Wagenmitte hin- und herbewegte. Auf die Abstufung wollte Florian nicht zu reden kommen, und ein anderes Thema kam ihm nicht in den Sinn. Wettlinger schien die Gesprächspause beenden zu wollen, indem er mit Höchstgeschwindigkeit die Serpentinen hinunterraste, vor jeder Kurve abbremste und in der Kurve voll beschleunigte, sodass sich Florians Mageninhalt bereits bis in die Halsgegend hochgearbeitet hatte. Dann endlich die Siedlungen, die Station. Erleichterung im Wagen.

Als Florian etwas unsicher ausgestiegen war, lehnte sich Wettlinger aus dem geöffneten Fenster und rief ihm etwas nach, etwas von Erwartungen, die er doch nicht enttäuschen würde.

Er wusste es also auch schon! Florian winkte nur dankend zurück, als habe er nichts gehört, stolperte zur erstbesten Bank und liess sich auf den Betonquader fallen. Die nächste Viertelstunde blickte er starr geradeaus und fixierte ein kleines Leuchtsignal neben den Gleisen. Bis der Zug kam, hatte sich sein Magen einigermassen beruhigt und dafür einem peinvollen Blasendruck Platz gemacht.

2.

Kinder und Kreativität

Der Wortführer, ein hagerer Alter mit einer Lesebrille und einem kleinen Bärtchen, holte tief Luft. «Seht ihr denn nicht, dass wir nur gemeinsam mit den anderen etwas erreichen können?» Er blickte in die Runde.

Die zehn Senioren, die mit ihren Stühlen einen Kreis gebildet hatten, einer davon im Rollstuhl, runzelten mehrheitlich die Stirn oder schüttelten den Kopf, eine Frau drehte mechanisch einen Rosenkranz in den Händen.

«Versteht mich richtig, mir geht es nicht darum, im Allgemeinen gemeinsame Sache mit denen zu machen, aber gegen die Abstufung können wir doch nur zusammen etwas erreichen. Ich habe diesbezüglich bereits mit Lisa Karrer das Gespräch gesucht. Die haben Kontakte …»

«Glaubst du ernsthaft», warf eine Frau ein, «der Enkel von der Karrer kann einfach in die Versicherung reinspazieren und nach Belieben etwas an den Einstufungen herumschrauben?»

Während der Hagere noch nach einer Antwort suchte, stand ein anderer Mann auf: «Ich verstehe gar nicht, warum ihr euch von dieser Einstufung derart Angst machen lasst. Auch wenn wir eine Stufe runterrutschen, wenn die Versicherung teurer wird – unsere Finanzen sind noch immer solide, das braucht uns doch nicht zu kümmern. Wir dürfen uns von denen nicht ins Bockshorn jagen lassen.»

Einige nickten zustimmend.

Der Wortführer rang die Hände: «Mündliche Zusagen reichen mir nicht. Wie soll ich wissen, dass das Geld auch wirklich noch da ist? Ich bin überzeugt, keiner von euch will seine finanzielle Situation offenlegen. Oder machst du den Anfang?»

Der andere setzte sich wieder, murmelte etwas von Vertrauen, die anderen schwiegen.

Als Nächstes erhob sich eine dicke Frau in einem braunen Trainingsanzug mühsam aus ihrem Stuhl: «Die Abstufung ist nur ein Punkt von vielen. Das Problem ist doch, dass wir uns ganz allgemein viel zu viel bieten lassen. Da muss man doch mal etwas unternehmen. Das wäre deine Aufgabe, Thomas, und ich finde, du nimmst sie zu wenig ernst!»

Ein Raunen ging durch die Gruppe.

Der Wortführer kratzte sich nervös am Bärtchen: «Und was, bitte, sollen wir deiner Meinung nach tun?» Er blickte in die Runde.

«Der Herr wird uns schon beistehen!», meinte einer der Teilnehmer mit ernster Stimme. Er sass neben der Frau mit dem Rosenkranz und hielt ihre freie Hand.

Einige verzogen gelangweilt die Gesichter, man kannte den alten Störrlein.

«Gian», meint der Wortführer, «wir ehren deinen Glauben und vertrauen ebenso auf Gottes Beistand, sonst wären wir nicht hier in dieser Gemeinschaft. Aber in dieser Sache hilft uns das nicht weiter. Da muss weltlich gehandelt werden. Da muss man taktieren, Strategien entwerfen, Entscheidungen fällen.»

Der Alte blickte beschämt zu Boden, seine Frau fingerte weiter an ihrem Rosenkranz herum.

Die Dicke ergriffwieder das Wort: «Ernsthaft, Thomas, du lässt dich von denen einlullen, die tanzen dir auf der Nase herum!»

«Niemand tanzt mir auf der Nase herum!», wehrte sich der Wortführer, ganz rot geworden. «Und überhaupt: Was glaubst du, wem es zu verdanken ist, dass wir die ständigen Konflikte endlich überwunden haben und einigermassen in Frieden nebeneinander leben können?»

«In Frieden? Schöner Frieden! Du bist einfach blind für die ständigen Provokationen. Nimm als aktuelles Beispiel den Erinnerungskult um den Gadze. Nennst du das Frieden?»

Der Wortführer wischte mit einem Putztüchlein die Brille und blickte die Dicke fragend an: «Was für ein Erinnerungskult?»

«Wahrscheinlich war ja Gadze nicht mehr ganz richtig im Kopf», erklärte sie und tippte sich an die Stirn, «auf jeden Fall hat er die Verwaltung seines Nachlasses niemand anderem überlassen als Lisa Karrer.»

Alle hoben interessiert die Köpfe.

 

«Und wisst ihr, was sie damit macht? Sie will alles einem dieser Foren zur Veröffentlichung übergeben, ihn und sein Leben schamlos ausstellen, als ob ihr die Ehre des Verstorbenen nichts wert wäre.»

Der Wortführer wollte etwas einwenden, aber sie liess ihn nicht zu Wort kommen: «Gadze war keiner von uns, sicher, aber immerhin ein Katholik und kein Atheist wie die anderen …» Sie schien den Faden verloren zu haben.

«Ja, überhaupt dieser ganze Freizeit- und Jugendkult!», warf ein anderer Greis ein. «Die ständigen Verjüngungskuren und Zellerneuerungen und das ganze Zeug. Da werden unsere Werte mit Füssen getreten. Die ewige Suche nach noch ausgefalleneren Freizeitaktivitäten: Spielclubs, Internetgemeinschaften und jetzt diese Jagdmanie von Strahm und Kuonen. Sie machen ja nicht einmal einen Hehl daraus, spazieren in ihren Jägerkleidern herum, und jeder weiss, dass sie heimlich jagen gehen. Aber keiner zeigt sie an. Das könnten wir tun, nicht immer nur reden, reden, reden!»

Die Versammlung stimmte begeistert zu, nur ein langbeiniger Teilnehmer mit Vollglatze schüttelte amüsiert den Kopf. Gleich zu Beginn der Versammlung hatte er seinen Stuhl etwas aus dem Kreis geschoben, als wollte er demonstrieren, dass er nicht dazugehöre.

«Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun», schaltete sich der Wortführer wieder ein. «Sollen die jagen oder sich jung therapieren. Solange sie uns in Ruhe lassen, kann uns das doch egal sein.»

Einige nickten.

«Es ist sicher nicht unsere Aufgabe, die anderen anzuzeigen», fuhr er fort, «dafür haben wir eine Verwaltung …»

«Die Verwaltung», unterbrach ihn die Dicke, «wird nie und nimmer etwas unternehmen. Die ist ganz im Griff der anderen. Auch die lässt sich alles bieten. Und ich wiederhole, Thomas, auch wenn du es nicht wahrhaben willst: Die lassen uns nicht in Ruhe, die provozieren uns, untergraben unseren Lebensstil …»

«Jetzt macht mal einen Punkt», rief der langbeinige Alte gelangweilt. «Können wir endlich über den Antrag zur Zimmervergabe von Gadze abstimmen? Ich habe noch anderes zu tun.»

Zuerst getraute sich niemand, etwas zu sagen, doch dann meldete sich ein kleiner, leicht buckliger Mann, ohne aufzustehen. «Anträge, Anträge,» rief er laut, «jetzt ist aber Herrgott-nochmal Schluss mit diesem Gewäsch! Anträge, pah! Jetzt muss mal was getan werden, aufräumen muss man mit diesem Pack!»

Auf einigen Gesichtern war Unverständnis, Ärger oder Mitleid zu lesen, einige verdrehten die Augen. Auch den verrückten Alexander Hinnen und seine aggressiven Vorstösse kannte man nur zu gut.

«Alex, bitte!», versuchte der Wortführer den Kleinen zu beruhigen.

«Nein, lass mich reden!»

«Also, von mir aus», resignierte er achselzuckend, «aber ich bitte dich inständig, dich zu mässigen, wir haben in dieser Runde gewisse Regeln.»

«Ich scheiss auf eure Regeln! Aufräumen muss man mit dem Saupack! Und zwar mit allen, mit den Atheisten und den Sektierern vom Fahrnihof, bevor sie sich in unsere Gemeinde einschleichen oder uns brutal überfallen wie die anderen!»

«Alex, die Überfälle haben doch nun wirklich nichts mit dieser Sache zu tun», meinte der Wortführer verzweifelt. «Und der Fahrni mit seinem Garten …»

«Die stecken alle unter einer Decke, seid ihr denn blind?»

Die Versammlung blickte kollektiv zu Boden, der Wortführer war einen Schritt zurückgewichen und wartete ab, die Frau mit dem Rosenkranz war bleich geworden. «Herr, steh uns bei», flüsterte sie.

«Herr, steh uns bei», äffte sie der Kleine nach. «Glaubst du, der Herr hat nichts Besseres zu tun?»

Das erste Mal seit Beginn der Versammlung hörten die Finger auf, mit dem Rosenkranz zu spielen.

«Jetzt sind wir gefordert! Und zwar nicht mit Reden. Wir müssen etwas tun, das Schwert des Glaubens ziehen und in den Kampf ziehen.»

Die meisten schüttelten den Kopf, einige bekreuzigten sich.

Nur der Lange, Kahle schien sich über den Ausbruch zu amüsieren. «Also, halten wir fest für das Protokoll», spottete er, «Alexander ergreift das Schwert des Glaubens und reinigt das Gebiet von allem teuflischen Gesocks. Damit wäre dieses Problem gelöst, und wir können endlich zum nächsten Traktandum gehen.»

Niemand lachte über den Spötter, nur der Kleine stand wutentbrannt auf und ging fluchend zur Tür. Dort blieb er stehen. «Die Verräter sind schon in unseren Reihen. Die da» – er zeigte auf eine Teilnehmerin – «trifft sich mit dem Sektierer, fragt sie nur selber!» Dann knallte er die Tür hinter sich zu.

«Die ist zu», bemerkte der Lange sichtlich amüsiert. «Machen wir endlich weiter?»

Aber niemand reagierte, alle Blicke waren auf die Frau gerichtet, die ganz nervös geworden war.

«Elsa, ist das wahr, was er sagt?», fragte sie der Wortführer ganz ernst.

«Nein, natürlich nicht. Ich meine, wenn ich dem Fahrni auf einem Spaziergang begegne und ein paar Worte wechsle, das – das muss doch erlaubt sein, oder etwa nicht?»

Sie blickte ganz entrüstet in die Runde, aber alle schwiegen. «Was soll das? Wir haben uns zusammengeschlossen, um unsere Religiosität zu leben, nicht um uns vom Rest der Welt abzukapseln und alle anderen als Sektierer und Atheisten zu bezeichnen. Reicht es nicht, dass der arme Alexander nicht mehr bei Sinnen ist, fangt ihr jetzt auch noch an?» Sie schüttelte entrüstet den Kopf und setzte sich wieder, die Arme verschränkt. Die andern gaben ihr etwas verlegen Recht, und der Wortführer ging zum nächsten Punkt der monatlichen Sitzung über.

Es brauchte ja niemand zu wissen, dass Elsa Huguenin tatsächlich regelmässig den Hof der Interessengemeinschaft für Grenzwissenschaften und Spiritualität besuchte, um sich mit Robin Fahrnis thailändischer Frau über Teekräuter und Naturheilkunde auszutauschen. Sie würde in Zukunft vorsichtiger sein müssen. Und dieser Hinnen gehörte wirklich in eine geschlossene Anstalt. Nun gut, genau genommen war er das ja bereits. Wie sie alle hier.

Warme Luftmassen schoben sich durch die Täler, rauschten um die Hügel und schüttelten die Baumkronen, dass die noch frischen Blätter in den dunklen Himmel stoben. An den Alpsteinhöhen hatten sich dunkle Wolkenberge aufgetürmt. Innerhalb der nächsten Stunden würde ein heftiges Gewitter die nachmittägliche Schwüle zerschlagen, eine Wetterlage, die sich seit Anfang März in regelmässigen Abständen wiederholte. Das Kurhaus sah noch schwärzer, noch ungemütlicher, fast bedrohlich aus, etwa so wie Florians Gemütslage, wenigstens in den letzten zwei Wochen, seit seinem Besuch hier oben. Gewissensbisse, dumpfe Angst, verzweifelte Geschäftigkeit, Schmieden und Verwerfen von Plänen, Resignation, unerwartete Panikattacken – das ganze Programm hatte er mehrmals vor- und rückwärts abgespult. Und jedes Mal, wenn er in der Versicherung an Charlys Schreibtisch vorbeiging, lachte ihn das vermaledeite Passwort hämisch an, ein gelbes Zettelchen, unachtsam auf die Schreibunterlage geklebt. Wie konnte der nur so blöd sein, auch noch Systempasswort darauf zu schreiben, und wie konnte er es wochenlang dort kleben lassen, ohne es zu bemerken?

Trotz der Jugendstilleuchter lag die kühle Empfangshalle fast im Dunkeln. Florian hatte die Tasche mit den Besorgungen für seine Grossmutter an den Empfangstresen gelehnt: darin eine CD mit ethnomeditativer Klangholzmusik, Dr. Luckmanns Einführung in die Moralhygiene als Hörbuch und ein cremefarbener Mehrfachstecker mit Sicherheitsabdeckung. Diesmal hatte er seinen Besuch nicht angemeldet. Er wollte nicht erneut gegen seinen Willen von Grossmutter, Herrn Eckert und den anderen festgehalten und einer weiteren Gehirnwäsche unterzogen werden. Ausserdem wusste er nicht recht, was er Grossmutter sagen sollte, die sicher eine Antwort erwartete. Nachdem der Verwalter in seiner Loge verschwunden war, um telefonisch nach der alten Dame zu suchen, studierte Florian ein Anschlagbrett mit Mitteilungen für die Pensionäre. Neben dem Menu, den Tagesaktivitäten und Abendanlässen, Adressen von Bus- und Taxiunternehmen sowie einer Todesanzeige hing ein dicht bedrucktes Blatt, in dem die Senioren über die gesetzlichen Grundlagen im Zusammenhang mit Waffenbesitz, Jagd- und Forstrecht unterrichtet wurden. Ein leuchtroter magnetischer Pfeil war darauf gerichtet und unterstrich die Wichtigkeit des Dokuments.

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