Robins Garten

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Er schreckte auf, als eine Frauenstimme seinen Namen rief, eine zu junge Stimme für dieses Haus. Er drehte sich um und erkannte Sonny, eigentlich Sonja, eine alte Schulfreundin aus der Fachmittelschule, der er alle paar Monate mal begegnete, bei einem Spaziergang am See, beim Einkaufen oder in einem der Lokale in der Mall unterhalb seiner Wohnung, wo sie eine Zeit lang im Khao Chong Thai Takeaway jobbte. Sonny hatte sich gleich nach der Schule in die Selbstständigkeit gewagt und in verschiedenen Projekten ein grosses, unternehmerisches Talent an den Tag gelegt. Sie schien über einen sechsten Sinn dafür zu verfügen, was auf dem Markt als Nächstes gefragt sein würde, seien es die kleinen Umhängetaschen mit der Aufschrift s Täschli, die sie über Internet an Zehntausende von Schülerinnen und Schülern in der ganzen Schweiz verkaufte, seien es bedruckte Yogamatten oder aufklappbare Meditationsbänkchen in trendigen Farben – immer hohe Qualität, überzeugende Einfachheit und einwandfreies Design zu einem anständigen Preis. Sonny war apart, aber nicht wirklich hübsch, dafür strahlte sie eine Souveränität aus, die Florian faszinierte. Mit ihrem brünetten Pferdeschwanz, der teuren Sportmode und der eleganten Brille hätte sie genauso gut in die Chefetage eines Pharmaunternehmens, in die Ausstellhalle eines Möbelgeschäftes oder in ein Meditationszentrum gepasst. Auch jetzt war sie geschäftlich unterwegs, hatte mit einer älteren Dame ein Verkaufsgespräch für ihr neustes Projekt, Memostore, musste aber warten, bis diese aus dem Therapiebad kam. Während Florian noch auf den Verwalter wartete, setzte sich Sonny schon mal auf die Sitzgruppe gegenüber dem Empfang und begann geschäftig auf ihrem Organizer herumzutippen.

Als der Verwalter nach einer Weile mit der Nachricht zurückkam, Grossmutter sei sicher bis um achtzehn Uhr durch verschiedene Therapien und Wellnessprogramme verhindert, liess sich Florian einen Zettel geben, schrieb einige Grussworte, übergab ihn zusammen mit der Tasche dem Verwalter und ging zu Sonny hinüber, halb froh darüber, Grossmutter nicht begegnen zu müssen, halb verärgert, dass er den weiten Weg gemacht hatte, nur um die drei Artikel am Empfang abzugeben. Wenigstens hatte er diesmal genügend Zeit, um bei Robin reinzuschauen.

Sonny klappte ihren Organizer zu und fragte Florian, ob er auf Familienbesuch sei. Er nickte, erzählte ihr kurz von seinen Plänen für den Nachmittag und fragte sie dann nach Memostore.

«Du musst dir eine Art Schliessfach vorstellen», erklärte sie, «in dem du Gegenstände und Informationen ablegst, die deine Biographie dokumentieren, zum Teil virtuell, zum Teil physisch in einem Lagerraum.»

«Und wozu macht man das?»

«Alles, was du ablegst, ist öffentlich einsehbar, gegen Bezahlung natürlich. Im Grund genommen ist es eine andere Form, deine Memoiren zu veröffentlichen.»

Florian nickte. «Und das läuft?» Natürlich lief es. Alles, was Sonny anpackte, lief.

«Bis jetzt sieht es gut aus. Ich treffe mich hier mit einer Interessentin, die mir in Aussicht gestellt hat, in Eigeninitiative weitere Kunden unter den Residenzgästen zu rekrutieren.»

Auf den Knien hatte sie eine Dokumentationsmappe von Memostore, mit dem Namen der Interessentin beschriftet: Lisa Karrer.

«Ist das deine Interessentin?», fragte Florian erstaunt.

Sonny nickte und sah ihn fragend an.

Grossmutter! War das möglich? Natürlich! Ob sie das für sich machte? Kaum. Das hatte sicher mit dieser Nachlassverwaltung zu tun. Sie schreckte für etwas Unterhaltung vor nichts zurück. Therapien und Wellness bis sechs!

Während Florian Sonny über seine Verbindung zur Kundin aufklärte und ihr dies und das über das Kurhaus erzählte, kamen Herr Strahm und sein Freund die Marmortreppe hoch und spazierten grinsend, ohne die beiden Jungen zu beachten, durch die Halle, beide in ihren feldgrauen Forstarbeiterwesten, jeder ein Gewehr über die Schulter gehängt, eine Szene wie aus einem alten Heimatfilm.

«Glauben Sie ja nicht, dass Sie damit durchkommen!», fuhr sie der Verwalter an, als sie an seiner Loge vorbeistolzierten.

«Man darf doch wohl noch seine Antiquitäten durch das Gebäude tragen», meinte Strahm scheinheilig.

«Damit kommen Sie nicht durch!» Der Verwalter schüttelte wütend den Kopf, und die beiden gingen lachend durch die Tür in den Wohntrakt.

«Ich fahre um sechs wieder runter», meinte Sonny, die zusammen mit Florian die Szene beobachtet hatte, «wenn du willst, kann ich dich mitnehmen.»

Florian sagte zu, und einige Minuten später meldete der Verwalter, Frau Karrer sei jetzt bereit. Sonny packte ihre Mappe und folgte ihm, während Florian sich auf den Weg zum Fahrnihof machte, der nur fünf Minuten entfernt hinter einem kleinen Hügel lag.

Der Regen prasselte wie Trommelfeuer auf das Dach des Teehauses.

«Das sieht übel aus für den Garten», meinte Florian besorgt. Die Anlage mit ihren Büschen, Bäumchen, Steingärten und Teichen war hinter den sintflutartigen Regenströmen kaum mehr zu sehen. Eine feine Gischt sprühte bis zu Florian und Robin, die vom Trockenen aus das Gewitter beobachteten.

«Ein Garten muss das aushalten», meinte Robin ruhig, «sonst ist er schlecht angelegt.»

Florian hatte es gerade noch geschafft, bevor das Gewitter losgebrochen war. Das letzte Stück war er gerannt, um dem Regen zu entkommen, der von Sekunde zu Sekunde stärker wurde, und hatte beim Eingang fast Robin umgeworfen, der einige Töpfe und Gerätschaften in Sicherheit brachte. Florian hatte sich auf dem Weg überlegt, wie er dem Landwirt und Esoteriker nach so vielen Jahren begegnen wollte, aber der überraschende Zusammenprall hatte keine formelle Begrüssung zugelassen, und jetzt sassen sie am langen Holztisch, und alles war wie früher, ausser dass der chinesische Garten mit dem Teehäuschen damals noch nicht angelegt war. Im Haus hatte er zu seiner Überraschung auch noch seinen Jugendfreund Jürg angetroffen, der zwar gleich weg musste, aber unbedingt nächstens mal mit Florian eins trinken gehen wollte.

Namwan hatte beiden eine Tasse ihres berühmten Tees hingestellt, während sie vor Freude über die Rückkehr Florians keine Worte fand.

«Ich weiss noch, wie du da gesessen bist, an diesem Tisch, und das Büchlein geschrieben hast», lachte Robin. «Du warst eine Art Werbeträger für die FIGS.»

Es war Bedauern, keine Spur des Vorwurfs, vor dem sich Florian insgeheim etwas gefürchtet hatte. Irgendwann hatte er einfach nicht mehr auf den Fahrnihof gehen können, aus verschiedenen Gründen. Er hatte es Robin nie erklärt, sich nie richtig verabschiedet und sich auch später aus Scham über sein Verhalten nicht mehr gemeldet.

«Ich weiss, wir haben dich damals etwas missbraucht», meinte Robin. «Ich hätte das nicht tun dürfen. Deine Mutter hatte immer Mühe damit. Vielleicht sind wir damals wirklich zu weit gegangen.»

Florian lachte: «Ja, für Mutter war das etwas Unerhörtes!»

Damals, er war vierzehn Jahre alt, hatte er an langen Abenden zusammen mit Robin, der eben erst die Freie Interessengemeinschaft für Grenzwissenschaften und Spiritualität, abgekürzt FIGS, gegründet hatte, ein Büchlein verfasst, das sie Grundregeln des spirituellen Menschen nannten. Florian konnte sich nicht mehr erinnern, wie viele der fünfzig Regeln von ihm stammten, wie viele von Robin, und wie viele sie gemeinsam formuliert hatten. Auf jeden Fall gab Robin die Grundregeln als Geistesprodukt des vierzehnjährigen Florian Walpen aus. Es waren im Grunde schöne Gedanken, die vom Recht des Menschen auf Sinnsuche handelten, von seiner Eigenverantwortung und der Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen, von existenziellen Pflichten im Interesse des Gerechten, Redlichen, Vernünftigen und Intentionalen, oder von der Entwicklung des Gedanklich-Gefühlvollen wie auch des Spontanen und empfindungsmässig Liebevollen. Als Mutter in ihre religiöse Phase trat, wollte sie von dieser sektiererischen Anmassung, wie sie es nannte, nichts wissen und verleidete ihm die Besuche auf dem Fahrnihof mit ihrem Unverständnis. Später im Gymnasium wäre es Florian aus anderen Gründen peinlich gewesen, wenn seine Klassenkameraden oder noch vielmehr seine -kameradinnen von seiner spirituellen Seite gewusst hätten. Das alles zusammen hatte dazu geführt, dass er schliesslich der FIGS den Rücken gekehrt hatte. Schade eigentlich, dachte er voller Wehmut. Die lauen Sommerabende mit Robin und Namwan waren doch eine verdammt schöne Zeit gewesen!

«Nun, jetzt bist du ja wieder da, du glaubst nicht, wie ich mich freue! Was macht deine Mutter übrigens?»

«Die ist im Kloster. Versenkung, Meditation. Die Sache mit Vater verarbeiten – einmal mehr.»

Robin zog die Augenbrauen hoch und schwieg. Danach redeten sie eine Weile von Formen selbstauferlegter Isolation, von klösterlichem Leben, Meditation als Lebenshilfe, und Florian erzählte Robin von seinen eigenen bescheidenen Versuchen mit Entspannungstechniken.

«So was brauchst du doch nicht!», meinte Robin.

Florian zuckte mit den Schultern. Er selber glaubte sehr wohl, dass ihm etwas mehr Ruhe und Verinnerlichung gut täten, um wenigstens ab und zu mal über den Dingen zu stehen.

Der Garten des Fahrnihofes war wunderschön, eine kleine Oase des Friedens, durch dichten Bambus vom anderen Leben da draussen abgeschirmt. Florian und Robin blickten schweigend in den feinen Regen, das Tosen des Gewitters war bereits Vergangenheit. Robin war nicht viel älter geworden, höchstens etwas runder um die Hüften, und wenn er etwas mehr Falten im Gesicht hatte, liessen ihn seine lebhaften Augen noch gleich jugendlich aussehen wie seit jeher. Mit seinem Kahlkopf, den er schon hatte, seit Florian ihn kannte, wirkte er mehr wie ein Metzger als wie der Leiter eines spirituellen Zentrums.

 

Florian war begeistert von Robins chinesischem Garten.

«So ein Garten ist immer mein Traum gewesen», erklärte dieser stolz. «Einen Ort der Ruhe, des Friedens erschaffen. Namwan und ich leben hier wie die Kinder im Paradies.»

Die Thailänderin hatte sich, nachdem sie den Tee serviert hatte, wieder ins Haus zurückgezogen, wo sie irgendwelchen Verrichtungen nachging. Wie früher.

«Gibt es die FIGS eigentlich noch?», wollte Florian wissen.

«Nun, die FIGS war nie eine feste Institution, daher kann man das gar nicht so genau sagen. Ich habe noch Briefwechsel mit einigen Seelenverwandten im Ausland, aber ein regelmässiges Programm, Besuche und Veranstaltungen gibt es nicht mehr. Zuerst lief es ganz gut, aber dann, nach dem Absturz, hatte sich das Netzwerk langsam aufgelöst. Und jetzt sind eigentlich nur noch Namwan und ich die FIGS.»

«Warum gerade beim Absturz? Für eine Gemeinschaft, die sich auch mit Ufologie beschäftigt, kann doch nichts Besseres passieren, als dass hundert Meter hinter dem Bauernhaus ein Raumschiff abstürzt, von dem niemand etwas weiss und das niemand vermisst.»

Robin nickte. «Eigentlich wäre das ideal gewesen, und anfänglich gab es auch ein grosses Interesse. Jeder wollte die Absturzstelle sehen, die Kraft des Ortes aufnehmen, Energieströme messen, meditativ Kontakt mit den Fremden finden. Aber die ersten Wochen war das Gelände vollständig in der Hand der Rettungskräfte, Bergungsteams, Polizei und Fluguntersuchung. Dazu kam der ganze Tross der Medien, ein Übertragungswagen neben dem anderen – die mussten sogar zusätzliche Stromleitungen legen, um das Netz nicht zu überlasten. Da kannst du Begehungen, Meditationen und dergleichen vergessen. Und bis jedes Trümmerteilchen aufgesammelt und zu weiteren Analysen ins Ausland verfrachtet war, hatte Epprecht, erst vor Kurzem Gemeindepräsident geworden, klammheimlich das Gelände gekauft, riegelte es ab und verlangte unverschämte Preise für Begehungen. Ich war nur zweimal mit einigen Interessenten da, allerdings ist es kein Kraftort, trotz allem, nur ein grosser Krater, zudem geologisch unsicher. Das ist übrigens auch der Grund für die drohende Abstufung des ganzen Gebietes mit den angrenzenden Grundstücken und Landwirtschaftszonen. Jahrelang passiert nichts, dann wird routinemässig wieder mal eine Analyse erstellt, und wenn du Pech hast, reicht es aus, um eine Umstufung zu erwirken.»

Florian nickte. Er wusste genau, wie das funktionierte. Rein mathematisch reichte irgendeine Stelle weit hinter der Null aus, um durch einen Rundungseffekt eine Umstufung zu erzwingen. Ganz neutral, ganz objektiv.

«Vielleicht war es auch gut so», fuhr Robin fort. «Die FIGS-Aktivitäten gingen mehr und mehr zurück, und wir begannen uns mehr auf den Garten zu konzentrieren, uns auf das Wesentliche zurückzubesinnen.» Er schien wirklich zufrieden. «Und du? Was treibst du so?»

«Na ja, ich bin bei der Versicherung gelandet», gestand Florian.

«Die Versicherung? Du sagst das, als ob du dich schämtest! Ist doch sicher ein guter und spannender Job?»

«Ja, ich mach es ganz gern. Es ist so – sauber. Alles basiert auf Zahlen, auf unpersönlichen Analysen, das gefällt mir. Auf der anderen Seite habe ich auch manchmal ein ungutes Gefühl. An den Einstufungen hängen dann ja doch wieder menschliche Schicksale.»

«Dafür bist ja nicht du verantwortlich, oder?»

«Nein, schon nicht. Das spielt sich in grösster Abstraktion ab …»

«Na also, dann brauchst du dir ja keine Vorwürfe zu machen. Jeder braucht einen Job, und wenn du ihn nicht machst, macht ihn ein anderer.»

«Nett, dass du das sagst. Aber das sehen nicht alle so.»

«Redest du von drüben?» Robin zeigte in Richtung der Residenz, und Florian nickte. «Aber deine Grossmutter hat doch nichts Derartiges gesagt? Das würde mich wundern bei der alten Dame. Sie hat ja ihre Ecken und Kanten, aber im Innern ist sie doch ein guter Mensch.»

«Nein, nicht sie selber, sie hat nur gemeint, dass andere im Haus sich daran stossen würden, weil ich halt auch von hier bin und jetzt gewissermassen einen Verrat begehe.»

«Das ist doch Unsinn!» Er schüttelte den kahlen Kopf. «Wie findest du die Seniorenrunde?»

Florian überlegte einen Moment. «Seltsam. Etwa diese Trennung in die Religiösen und die anderen. Irgendwie haben sich beide etwas isoliert. Scheinen in ihrer ganz eigenen Welt zu leben.»

«Ja, das ist schon seltsam, aber auf der anderen Seite sind sie auch wieder nicht so extrem. Einzelne von den Religiösen sind ganz normal, wollen einfach ihre Religiosität leben, nichts anderes eigentlich, als ich hier tue. Aber andere gehen wirklich zu weit, da hast du schon Recht. Vielleicht ist es ja das Alter. – Die alte Frau Huguenin etwa, um ein Beispiel zu geben, ist mittlerweile zu einer guten Freundin von Namwan geworden. Und Thomas Lam selber ist eigentlich ein netter Typ, hat sich nur durch seine Rolle als Wortführer in eine ungute Position gebracht.»

Robin schien wohl für jeden Menschen Verständnis aufzubringen.

«Aber zurück zu dir. Was machst du neben der Arbeit? Arbeit ist ja hoffentlich nicht alles»

Florian erzählte von seinen Hobbys, dem grossen Dreimaster im Massstab 1:50, fast einen Meter lang, an dem er seit zwei Jahren arbeitete, von seinem Leben, seinen Freizeitgewohnheiten, wo er wohnte, von seinen Nachbarn, besonders von Lia, bei der er oft war und sich sehr wohlfühlte, erzählte und erzählte, als hätte er seit Jahren darauf gewartet, wieder einmal mit einer Menschenseele zu reden. Irgendwann kamen sie auf Jürg zu sprechen.

«Ich war erstaunt ihn hier zu treffen. Habt ihr viel Kontakt? Ich selber habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen.» Für Florian passten Jürg und Robin nicht recht zusammen. Da gab es auf dem Fahrnihof die FIGS mit Robin und Namwan, und da gab es im halben Einfamilienhaus die Wettlingers, den Vater und Jürg, mit dem er früher zeitweise fast pausenlos zusammen war, bis Florian aufs Gymnasium ging und Jürg in die Real. Zwei Welten ohne Verbindung.

«Er arbeitet ab und zu für mich, hat es nicht so gut zu Hause.»

«Ich habe vor zwei Wochen den Vater getroffen.» Florian erzählte Robin von der nächtlichen Fahrt zu den Fünf Dörfern. «Was ist los mit ihm?»

«Er hat Alkoholprobleme, vielleicht auch Schulden. Man erzählt sich, dass seine Treuhandfirma nicht besonders gut läuft. Nach aussen spielt er immer den erfolgreichen Geschäftsmann, aber …»

«Vielleicht das Alleinsein», meinte Florian.

«Nein, er ist nicht allein. Hat eine Frau aus Venezuela. Eine nette Person, aber ich kann nicht zuschauen, wie er mit ihr umgeht. Er lässt sie kaum je allein aus dem Haus, sieht sie als eine Art Ware an. Er hat mir gegenüber schon geprahlt und wollte sich mit mir verbrüdern, weil ich mir ja auch so eine angeschafft habe, wie er sich ausdrückte. Das ist doch widerlich!»

Florian wusste, wie sehr die Beziehung von Robin und Namwan von Respekt, Rücksicht und echter Liebe geprägt war. Dass die Thailänderin kaum je etwas sagte, änderte daran überhaupt nichts.

«Und Jürg arbeitet also für dich?»

«Ja, wir bauen einen Internetvertrieb für Eso-Produkte auf. Das läuft recht gut, vor allem die Tees gehen gut weg, das ist Namwans Spezialgebiet. Daneben haben wir verschiedene Heil- und Kulturpflanzen und solche Sachen. Wir eröffnen nächsten Monat einen kleinen Laden in der Stadt, den wird Jürg übernehmen. Weisst du, der will nur weg von zu Hause. Was ich gut verstehen kann.»

Florian freute sich für seinen Jugendfreund, den er mochte, auch wenn sie eigentlich ganz andere Interessen hatten und anderen Gruppen angehörten.

«Jürg ist ein guter Kerl», fuhr Robin fort, «manchmal etwas naiv, aber ein herzensguter Kerl. So will er mich unbedingt vor diesen Überfällen schützen und redet sogar davon, mit Freunden eine Art Bürgerwehr aufzuziehen. Aber ich werde ihn schon noch davon überzeugen, dass das der falsche Weg ist. Eine gefährlicher obenhin.»

«Aber machst du dir denn gar keine Sorgen wegen dieser Jugendgang? In der Seniorenresidenz sind sie ganz nervös deswegen.»

«Ja, ich weiss. Deine Grossmutter und Herr Eckert waren kürzlich deswegen bei mir. Kennst du ihn?»

«Er hat mir seine Wolfsmilchblumen gezeigt.»

Robin lachte: «Bei mir waren sie, um über Massnahmen gegen die Überfälle zu reden. Noch mehr aber wegen der Abstufung. Aber da kann ich ihnen nicht dienen. Mich betrifft die Abstufung auch kaum. Wir sind autonom, und wenn es hart auf hart kommt, könnten wir sogar den Kontakt zur Aussenwelt ganz einstellen und von unseren Produkten leben.»

«Aber vor den Überfällen musst du doch Angst haben! Vielleicht sind wir im Stadtnetz etwas überbehütet, aber wenn ich mir vorstelle, dass ich hier draussen lebte und wüsste, dass da eine bewaffnete Jugendgang ihr Unwesen treibt – ich könnte nicht mehr ruhig schlafen.»

Robin schüttelte nur den Kopf und lächelte. «Zum einen glaube ich nicht an die Theorie von der Jugendbande, dafür habe ich eine viel zu gute Meinung von der Jugend. Aber es geht mir noch um etwas ganz anderes.» Er stand auf und forderte seinen Gast höflich auf, ihm zu folgen. Mittlerweile hatte der Regen ganz aufgehört, und der Garten sah etwas zerzaust, aber wie frisch gewaschen aus.

In der nächsten halben Stunde führte Robin Florian durch den Garten und erklärte ihm das Konzept. Die Anlage war nach den Regeln des Feng Shui konzipiert, aber abgesehen vom Bambus fast ausschliesslich mit einheimischen Pflanzen bepflanzt. Neun rechteckige Bereiche entsprachen unterschiedlichen Aspekten des menschlichen Lebens oder der Seele: der Familie, dem Reichtum, der Karriere oder der Partnerschaft, was bei der Wahl der Pflanzen und anderen Gestaltungselementen, Steinen, Brücken oder Wasserspielen, berücksichtigt wurde. Geschwungene Wege und liebevolles Ausbalancieren verschiedener Gegensätze zwischen Farben, Grössen, Formen oder Materialien förderten die Bewegungen der guten Energie und blockierten die schlechte. Florian fragte Robin, ob er daran glaube, dass die Gestaltung bestimmter Bereiche des Gartens einen Einfluss auf das Leben hätte.

«Eine schwierige Frage.» Er überlegte lange. «Ich kann es dir nicht sagen. Es ist etwas, was mich selber seit Längerem beschäftigt. Aber Feng Shui ist eigentlich etwas ganz Einfaches.»

Überhaupt hatte Robin dafür, dass er sich sein halbes Leben mit fernöstlicher Philosophie und Spiritualität befasst hatte, eine sehr handfeste Zugangsweise zum chinesischen Gartenkonzept. Er ging davon aus, dass die Regeln und Gesetze des Feng Shui weitgehend einem Grundverständnis von Architektur und Gartenbau entsprachen, das weltweit Gültigkeit hatte. Dass offene Fluchten nicht zum Verweilen einluden und harte Kanten störend wirkten, war keine Erfindung der Asiaten, nur hatten sie diese alten Weisheiten gesammelt und systematisch festgehalten. Dass sich Robin beim Anlegen seines Gartens strikt an die Gesetze des Feng Shui hielt, war aus der Freude entstanden, sich selber Regeln aufzuerlegen und den Geist, wie er sagte, etwas an die Leine zu nehmen.

«Dieser Garten ist für mich eine Art begehbarer Meditation, hierher kann ich mich zurückziehen, und hier finde ich manchmal die Ruhe und den Frieden, den ich mein Leben lang gesucht habe. Vielleicht verstehst du jetzt, warum ich mich in die ganzen Debatten und Diskussionen um die Überfälle und die Abstufung nicht einlassen will. Ich will die Angst vor dem Unbestimmbaren draussen lassen, weil sie den Frieden stört.»

Sie setzten sich wieder ins Teehaus, Namwan brachte eine weitere Tasse Tee, und kurz vor sechs zwang sich Florian aufzustehen und zum Kurhaus zurückzugehen. Er hätte noch stundenlang sitzen und mit Robin plaudern können im Frieden dieser phantastischen Gartenoase. Als er das Grundstück verliess, fühlte er sich wie aus dem Paradies verstossen.

Es war halb acht. Kurz vor sieben war Florian wieder in seiner Wohnung gewesen. Er hatte vergessen einzukaufen und in seiner kleinen Einbauküche nichts Essbares mehr gefunden. Also war er kurz oben gewesen bei Lia, in ihrer kleinen Wohnung direkt über ihm, wo es immer nach Farbe roch. Lia war klein, etwas rund, wirkte immer frisch gewaschen und bekam von irgendwoher ein Stipendium, um ihren künstlerischen Projekten nachzugehen, daneben besuchte sie eine Hochschule für Gestaltung, ganz genau wusste er das auch nicht. Sie war meistens allein, und es schien ihm, als lebe sie zwei Leben, eines ausserhalb der Siedlung, eines innerhalb, in ihrer Wohnung, und er gehörte als einer der wenigen oder vielleicht sogar als einziger – wie er zumindest insgeheim hoffte – zum inneren. Er konnte zu ihr hochkommen, mit ihr reden, mit ihr Gesellschaftsspiele spielen, sich mit ihr Filme ansehen oder sich einfach auf ihr Sofa setzen und sich die Zeit vertreiben, während sie sich mit anderem beschäftigte. Wenn sie zu zweit waren, herrschte eine Harmonie, eine Balance, die durch die kleinste Störung zerfallen würde, das wusste er ganz genau, etwa durch Annäherungsversuche oder Fragen nach ihrem Leben ausserhalb. Die Unmöglichkeit, ihr näherzukommen und ihre Freundschaft zu etwas anderem zu machen, gab ihm eine grosse Sicherheit und Stabilität, die er für nichts auf der Welt aufs Spiel gesetzt hätte. Aber an diesem Abend hatte er ein schlechtes Gefühl. War es wegen Sonny? Er musste zugeben, dass ihn die Karrierefrau faszinierte, und das auf eine ganz andere Art als Lia. Sie war lebendig, geschäftstüchtig, ging direkt auf die Dinge zu, packte an, von einem unerschütterlichen Optimismus getrieben. Eine wie sie liess sich nicht über den Tisch ziehen, hatte eine klare Meinung und hielt damit nicht zurück. Auf der Rückfahrt in ihrem kleinen Hybridwagen hatte fast nur sie geredet und ihm von Memostore und ihrem Geschäftsbesuch in der Residenz erzählt. Es war schon beeindruckend, wie sie das mit ihrem Partner aufgezogen hatte: die alte Bunkeranlage, die sie von der Armeeverwaltung günstig gekauft und in ein Lager mit hochmoderner, ausgeklügelter Stapelanlage umgebaut hatte. Sieben Stockwerke bis vierzig Meter unter dem Boden, weitere acht darunterliegende könnten bei Bedarf noch dazu gemietet werden. Ja, Sonny scheute sich nicht vor dem Grossen! Wenn sie einmal von einer Idee gepackt war, verbiss sie sich so lange darin, bis sie sie umgesetzt hatte. Im Kurhaus war es die Begegnung mit einem Alten gewesen, den Florian nicht kannte, der ihr Unternehmergehirn ins Rotieren brachte. Schon auf der Fahrt hatte sie neue Pläne und Strategien ausgearbeitet, so wie andere Leute von ihren Ferien erzählen. Dieser Alte, von dem niemand so richtig wusste, wie alt er eigentlich war, sollte in regelmässigen Abständen aus seinem Leben erzählen und dabei im Prozess einer fortschreitenden Alzheimer-Demenz kontinuierlich in der Zeit zurückgehen, im Schnitt pro Woche einige Monate bis ein halbes Jahr. Zurzeit erzähle er, zur grossen Verwunderung der Zuhörer, aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, und es scheine sich nicht um Kindheitserinnerungen zu handeln, was bedeutete, dass er wohl an die hundert Jahre als sein müsse. Seine Erzählrunden sollen in der Residenz zu einer festen Institution geworden sein und fein säuberlich protokolliert werden. Sonny war überzeugt, dass dies ein gefundenes Fressen für eine Fernsehdokumentation sei und sie im Zuge der Vermittlung auch noch eine ideale Plattform hätte, um für Memostore Werbung zu machen.

 

Florian hatte sich gefragt, wie es in einem solchen Fall mit den Persönlichkeits- und Urheberrechten aussehe. Denn offensichtlich war der Alte nicht mehr rechtsfähig, hatte aber auch keinen eigentlichen Vormund ausser der Residenzverwaltung, die sich um den allernötigsten Papierkram kümmerte. Überhaupt war es Florian schleierhaft, wie Leute dazu kamen, bei etwas wie Memostore mitzumachen. Das war doch der reinste Exhibitionismus! Aber wahrscheinlich ging es gerade darum, wie bei diesen peinlichen Reality Soaps, in denen gewöhnliche Menschen ihrem verpatzten Schicksal auf der Bühne des Fernsehens plötzlich einen Sinn zu geben glaubten. Er selber könnte das nie. Auf der anderen Seite, wenn man das wie Memostore aufzog und Objekte und Daten des Lebens diskret lagerte, nur für ein interessiertes, zahlendes Publikum, hatte der Gedanke auch etwas Verlockendes. Sein Schiffsmodell, die Amsterdam, könnte noch nach seinem Tod von einem Liebhaber betrachtet werden, und damit würde ein Stück von ihm selber weiterleben. Er fühlte, wie er eingetaucht war in die Welt der Start-Up-Unternehmen, der grossen Projekte, des schnellen Geldes und der Coolness des Geschäftserfolgs, und plötzlich fragte er sich etwas erstaunt, als er an Sonnys Freund dachte und sich das glänzende Bild etwas verdüsterte, ob er am Ende gar einem Anflug von Verliebtheit erlegen war und er sich deshalb Lia gegenüber so unwohl gefühlt hatte. Aber eigentlich wusste er, und er seufzte tief, dass sich ohnehin weder die eine noch die andere Frau auf eine Beziehung mit ihm einlassen würde, die eine, weil sie ihn nur in ihrem inneren Raum duldete, solange er nicht mehr wollte, als einfach da zu sein, die andere, weil er in der Welt von Mut, Erfolg, schnellen Entscheidungen und Trends ein Fremder war. Woher habe ich eigentlich meine Feigheit?, fragte er sich.

Er sass auf dem Balkon und blickte zwischen zwei verglasten Hauswänden auf den See, eine schwarze Fläche, in der sich hie und da eine Schiffslampe spiegelte. Er hätte am liebsten jemanden angerufen, aber sein Bruder hatte keine Zeit, Mutter war im Kloster, bei Lia war er eben gewesen und Sonny – was hätte er ihr sagen sollen, eine Stunde, nachdem sie ihn zu Hause abgesetzt hatte? Und womöglich ginge noch ihr Freund ans Telefon! Während er ins Dunkel starrte, begann sein Gedankenkarussell, sein ständiger Begleiter in den letzten Wochen, sich wieder zu drehen, noch in einem gemächlichen Tempo, das sich nachts aber steigern würde, bis er mit rasendem Herzen aufschreckte: Die Erwartungen erfüllen und gleichzeitig die gegenteiligen Erwartungen nicht brechen, das Passwort ausleihen und die Analyse manipulieren, vor Grossmutter treten und zugeben, dass er es nicht konnte, vor sie und Herrn Eckert und Herrn Strahm und alle anderen?

Nur hinter wenigen Glasfronten brannte noch Licht, wahrscheinlich auch bei Lia. Zur Zeit malte sie mit dicken Pinseln und viel Farbe aus Comicbänden Figuren ab, eine über die andere, bis die erste nicht mehr erkennbar und eine chaotische Plastik von mehreren Zentimetern Höhe entstanden war, die noch tagelang bei jeder Berührung wie ein Pudding hin- und herwabberte, bis sie endlich eintrocknete.

Wo kommt nur diese Traurigkeit her? Eben noch ist man heiter, unbeschwert, lacht, geniesst den Garten, dieses Paradies, das man selber erschaffen hat, schaut Namwan zu, wie sie mit dem Besen die Spuren des Sturms wegwischt, fast schon selbst ein Teil dieses Gartens. Und plötzlich ist derselbe von der Abendsonne beleuchtete Bambus, sind dieselben Spiegelungen des Wolkenhimmels auf den Seerosenblättern nicht mehr nur schön, beruhigend, ewig, sondern auch von einer dunklen Schwere überschattet, die einen so plötzlich überfällt, dass man es körperlich spüren kann, dass man nur noch weinen möchte. Vielleicht ist es ja doch das, was hinter dem Bambushain liegt. Lauert. Man hat sich einen Garten nach den Prinzipien des Feng Shui angelegt, in perfekter Harmonie mit den umliegenden Hügeln des Appenzellerlandes. Tiger und Drachen auf der Seite, vorne die Schildkröte, der Vogel Phönix im Rücken – sie versprechen Schutz und erfüllen ihr Versprechen auch die meiste Zeit, in Form von Erhebungen, Büschen und der Bambushecke. Aber dann blitzen doch wieder funkelnde Raubtieraugen zwischen den Blättern durch, und man fragt sich, ob die Schutzfunktion des Tigers nicht eine unnatürliche, aufgezwungene ist, will er doch eigentlich fressen, reissen. Man kann meditieren, sich versenken, im Lotussitz, mit Hilfe von Klangschalen, Steinen oder einer Kerze sich perfekt an seinen inneren Rückzugsort begeben, und an einem anderen Tag hängt die geheimnisvolle Last so schwer an einem, dass man nur auf der Bank klebt, niedergedrückt, unfähig zu irgendetwas. Wird man eines Tages doch zu den Waffen greifen, das Paradies verlassen, sich und das Seine verteidigen müssen? Vielleicht ist es ja dies, die ständige nebulöse Bedrohung, die sich frühmorgens in den Talböden festsetzt und tagelang dort sitzt. Nicht einmal diese gewalttätigen Jungen, an die man nicht so recht glauben will, es ist auch der junge Jürg, der in seiner ganzen Herzensgüte den Untergang mit sich trägt, die Alten, die krampfhaft an diesem Leben hängen und alles tun würden, um dem Tod noch einige Stunden abzuhandeln. Doch nein. Sie kümmern einen, ja, aber sie belasten einen nicht. Die Traurigkeit kommt aus einem selber. Vielleicht sind die ganzen Techniken, Gartengestaltungskonzepte und Denkmuster nur Ausdruck des eigenen verzweifelten Kampfs gegen die Traurigkeit, die einfach da ist, dazugehört, die man nicht wahrhaben will, eben weil sie weh tut? Kennt Namwan diese Traurigkeit? Namwan, kennst du diese Traurigkeit? Sie lacht und streicht einem über den Kopf. Aber kennt sie sie auch? Oder ist sie wirklich in diesem Frieden zu Hause. Namwan, ist dieser Frieden echt, ist er in dir? – Du siehst traurig aus, ich bringe dir einen Tee. – Ist die Lebensphilosophie der Asiaten wirklich eine ganz andere, oder verstecken sie einfach ihren Schmerz besser? Oder tragen sie ihn mit sich und lassen ihn zu, während sie Hecken schneiden, Karpfen füttern und die abgerissenen Blätter wegwischen? Wenn es das war, hatte man von ihrer Kultur, ihrem Denken nichts als Äusserlichkeiten übernommen, Techniken und Accessoires, die exotisch aussahen, aber auch nicht halfen, die aufschäumende Traurigkeit, diese Lebensangst, zurückzuhalten. Die ersten Zweifel hatte er damals in Bangkok gehabt. Am Bahnhof, mitten in der Hektik asiatischer Grossstädte, stand ein buddhistischer Mönch und rauchte eine Zigarette, ein anderer kam vom Zug, mit Kopfhörern und einem iPod. Zuerst irritierte ihn das, dann ahnte er, dass hierin eine Synthese lag, die ihre Berechtigung hatte, auch wenn er sie nicht begriff. Zum ersten Mal hatte er Zweifel, ob er sich einem Denken, das solche Widersprüche aufnahm, jemals wirklich annähern könne mit noch so viel Meditation in Ashrams, Yoga bei indischen Meistern und Kinhin im Zen-Dojo. Eine orange Mönchskutte, eine Zigarette, ein iPod, und darin ein unerreichbarer Frieden.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?

Teised selle autori raamatud