Die Königin von Verlorenherz

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Kapitel 3

Als Rafael in seinen nassen Kleidern zu Hause ankam, saß seine Mutter noch immer in der Küche – sie hatte gar kein Mittagessen gekocht und starrte nur aus dem Fenster. Rafael vermutete, dass sie am Vormittag auch nicht zur Arbeit gegangen war, weil sie immer noch im Schlafrock dasaß. Er setzte sich zu ihr und seine Mutter lächelte, als er sie ansah – aber es war ein gezwungenes Lächeln. Sie wischte sich Tränen aus ihrem verweinten Gesicht und sagte: „Ich habe viel telefoniert – mit Freunden, mit der Polizei. Aber keiner weiß, wo Rafael ist …“ Plötzlich blickte sie Rafael genauer an und sagte: „Du bist ja ganz nass, Til!“

Sie wollte sein T-Shirt berühren, aber da hob er die Hand mit dem Ring und wich ihr aus: „Das ist doch nicht schlimm, Mama!“

Mit einem Mal erstarrten ihre Augen und blickten auf den Ring an seinem Finger. „Woher hast du den Ring?“, fragte sie und zog ihn Rafael nun vom Finger. Sie betrachtete den Ring genauer, dann verzog sie ihr Gesicht, als müsse sie jeden Augenblick zu weinen beginnen. Endlich raffte sie sich auf und schaute Rafael fest in die Augen. „Das ist der Ring deines Papas, Til!“, sagte sie. „Rafael hat ihn verloren, als er noch ganz klein war. Woher hast du ihn?“

Rafael log: „Ich habe ihn wiedergefunden, am Bach.“ Seine Mutter sah ihn an, dann blickte sie wieder auf den Ring und nun begann sie plötzlich doch, zu weinen. Es war ein ruckartiges Weinen, als würde etwas in ihrer Brust festsitzen, das unbedingt heraus wollte. Im nächsten Moment sah sie Rafael mit verweinten Augen an, dann stand sie auf und nahm ihn ganz fest in ihre Arme. Dabei sagte sie: „Ach, hätte ich mich doch mehr um Rafael gekümmert, dann wäre er nie davongelaufen!“

Wie sie Rafael jetzt aber wieder losließ, da stand er plötzlich gar nicht mehr als Til vor ihr, sondern er spürte deutlich, dass er jetzt wieder Rafael war – der Zauber war gewichen! Im ersten Moment erschrak seine Mutter und machte große Augen: „Das ist doch nicht möglich!“, sagte sie, aber dann sah sie, dass hinter Rafael plötzlich Til stand. Und obwohl sie nicht wusste, wie alles vor sich gegangen war, war sie sehr glücklich über Rafaels Heimkehr, sie umarmte ihn wieder und sagte: „Es tut mir so leid!“

Dann wollte sie von Rafael wissen, wo er die ganze Zeit über gewesen war. Er antwortete nur: „Ich war im Wald und habe mich am Bach herumgetrieben. Es tut mir leid, Mama.“ Alles andere würde Mama mir sowieso nicht glauben, dachte er.

„Seltsam“, sagte sie, „ich dachte, ich hätte soeben mit Til gesprochen und ihn umarmt und plötzlich halte ich dich im Arm, Rafael!“

„Ich habe Rafael gefunden, Mama“, sagte Til.

„Aber warum hast du mir das nicht gleich gesagt?“, wollte sie wissen, doch als Til darauf nicht antwortete, sagte sie: „Ich bin nur froh, dass Rafael wieder hier ist!“

Zwei Nächte und eineinhalb Tage war Rafael nun scheinbar verschwunden gewesen, aber Julia war so froh über seine Rückkehr, dass sie gar nicht mit ihm schimpfte.

Til musste an diesem Nachmittag noch zum Fußballtraining, während Julia mit Rafael zu Hause blieb und ihm, weil er scheinbar weggelaufen war, einige Fragen stellte, die ihm unangenehm waren, aber Rafael war kein schlechter Lügner. Dann sprach sie zum ersten Mal eingehend mit ihm über seine Bilder und lobte sein Talent – das hatte sie früher nie gemacht. Außerdem wollte sie wissen, was Rafael in Zukunft zeichnen wolle und sie sprach mit ihm über einige bekannte Künstler.

Rafael zeigte ihr den Jungen aus dem Wald, den er in der ersten Nacht gemalt hatte, nachdem Til verschwunden gewesen war: Der Junge war sehr dünn und hatte feine Gesichtszüge, in denen ganz schwarze Augen saßen, dazu dichtes schwarzes Haar. Gekleidet war er aber nicht schwarz wie der Junge aus dem Wald, sondern wie ein ganz gewöhnlicher Junge mit weißem T-Shirt ohne Aufschrift und kurzen roten Hosen – rot und weiß, das waren auch die Farben der Fußballmannschaft der Füchse, in der Rafael und Til spielten. Im Hintergrund des Jungen war ein undurchdringlicher Wald mit Bäumen mit übermächtigen Stämmen, deren Höhe nicht auszumachen war, weil die Größe des Blatts nicht mehr ausgereicht hatte, um ihre Kronen zu zeichnen.

Dieses Bild gefiel Rafaels Mutter besonders gut und sie lobte es sehr. Außerdem erzählte sie Rafael über neue Abenteuerbücher in ihrer Bibliothek, die ihn interessieren könnten, denn sie war Bibliothekarin. Seltsamerweise hatte sie bisher aber fast nie über Abenteuerbücher gesprochen, wenn sie zu Hause war. Sie ließ Til viel zu viel über Fußball erzählen oder redete mit ihm und Rafael über die Schule – das fand Rafael alles langweilig.

Rafael und Til teilten sich dasselbe Zimmer und schliefen in einem Etagenbett – Rafael unten, Til oben. Rafael fragte sich, was Til wohl über den Zauber wusste. Als er endlich alleine mit ihm im Zimmer war und sie beide im Bett lagen, fragte er ihn: „Til, wo warst du denn die ganze Zeit? Weißt du eigentlich, was passiert ist?“ Til gab keine Antwort. „Ich wusste gar nicht, dass du in Mathe eine Fünf geschrieben hast“, sagte Rafael. Wieder gab es keine Antwort. Da stieß Rafael mit dem Fuß gegen die Matratze, die über ihm lag: „Hey, Til, sag schon etwas!“ Als wieder keine Antwort kam, warf Rafael seine Bettdecke beiseite und sprang aus dem Bett. Schlief Til etwa schon? Rafael stieg die Leiter etwas hinauf, bis er in Tils Bett sehen konnte, und erschrak. Denn dort im Bett lag gar nicht sein Bruder und schlief, sondern der Junge aus dem Wald.

Kapitel 4

Als Til aufwachte, fand er sich neben einem Fluss wieder – auf einer Sitzbank vor einem großen Bahnhofsgelände in einer Stadt. Die Stadt hieß Verlorenherz – jedenfalls stand das so auf einem großen Ortsschild. Und in der Luft über dem Fluss, der Erzählfluss hieß, hing ein großes Bild. Auf dem Bild saß ein Mann auf einem Stuhl und hielt beide Hände vor sein weinendes Gesicht. Er trug blaue Hosen und einen blauen Pullover. Er saß an einem Kamin, in dem Feuer brannte.

Wo bin ich hier?, fragte sich Til. Es war ein bewölkter Morgen. Er konnte sich nur erinnern, dass er sich abends ins Bett gelegt hatte. Und jetzt war er in einer Stadt namens Verlorenherz? Das konnte nicht wahr sein! War das ein Traum?

Jetzt verschwand das seltsame Bild von dem alten Mann in der Luft.

Der Junge aus dem Wald hatte Til hierher gebracht. Er hatte Rafaels Wunsch erfüllt und Til in diese große Stadt gezaubert. Rafael und Til hatten sich oft gefragt, wohin der Bach ihrer Stadt floss, weil er in einem Tunnel endete und sie keine Stelle kannten, wo der Bach den Tunnel wieder verließ: Der Bach floss nach Verlorenherz, und hier hieß der Bach Erzählfluss – er floss ganz ruhig, aber sein Wasser war dunkel und der Fluss war sehr, sehr breit.

Zuerst einmal stand Til auf, blickte sich um und ging ins Bahnhofsgebäude hinein. Eigentlich sah alles aus wie auf einem gewöhnlichen Großstadtbahnhof: Es gab Gleise, Züge, Verkaufsstände, Fahrkartenschalter, Menschen – aber Augenblick mal!, dachte Til. Da waren Anzeigetafeln, die Zielorte wie Verlustig, Schwarzhausen, Konjunktivchen, Wortschatzlosen, Wüste Dehnung, Schloss Verlorenherz oder Ewige Dunkelheit anzeigten.

Und was machen die Menschen hier am Bahnhof nur?, fragte sich Til, denn während sie hektisch durch das Bahnhofsgebäude liefen, verloren sie allerlei Dinge: Wertvolle Uhren lösten sich von ihren Handgelenken, Mobiltelefone sprangen ihnen wie Kaninchen aus den Hosentaschen, Geldbörsen fielen auf die Straße – und das alles wurde vom Boden einfach aufgesaugt, wie wenn etwas ins Wasser fällt und darin versinkt! Die Menschen schienen gar nicht zu bemerken, dass sie etwas verloren; sie gingen einfach weiter eilig durch das Bahnhofsgebäude und sahen dabei sehr traurig und müde aus.

Plötzlich aber tanzte ein lustiger Mann durch die Menge auf Til zu: Er trug eine bunte Narrenmaske, ein gelbes Wams und grüne Strümpfe. Der Mann lief drei Meter, drehte sich dreimal im Kreis zwischen den traurigen Menschen, die Dinge verloren, lief wieder drei Meter, drehte sich wieder dreimal im Kreis zwischen den traurigen Menschen, lief wieder drei Meter und stand endlich vor Til.

Er setzte sich neben Til auf eine Sitzbank und blickte ihn mit großen blauen Augen aus seiner Narrenmaske an. „Ha!“, rief er erfreut, aber Til hatte keine Lust, zum Narren gehalten zu werden und sagte: „Was für ein blöder Traum! Du siehst aus wie Till Eulenspiegel – es fehlt nur noch ein blöder Spiegel!“

„Hahaha, du bist lustig!“, rief der merkwürdige Mann. „Du bist hier – in Verlorenherz! Ich bin zwar kein Till Eulenspiegel, aber ich besitze tatsächlich einen kleinen Zauberspiegel!“

Til schüttelte den Kopf. „Für wie dumm hältst du mich eigentlich?“, fragte er. „Ich bin dreizehn und kein Kleinkind mehr, das an Märchen glaubt!“

Da zeigte der lustige Mann Til einen kleinen, runden, silbrig funkelnden Taschenspiegel und sagte: „Dieser Spiegel zeigt dir, wohin du hier in Verlorenherz reisen musst. Dieser Roman wird eine lange Reise und ich kann dich gern auf dieser Reise begleiten – du bist dazu bestimmt, uns zu helfen!“

„Ich befinde mich in einem Roman?“

„Nun ja“, sagte der lustige Mann, „irgendetwas muss ich dir ja erzählen, wenn du mir schon nicht glauben willst, dass das hier mehr ist als nur ein Traum!“

Til sagte nichts mehr, weil er bemerkte, dass sich plötzlich ganz viele Menschen um ihn herum auf dem Bahnsteig versammelten, während eine lange schwarze Dampflokomotive sich auf den Schienen näherte und eine Ansage durch die Bahnhofshalle klang: „Achtung! Der Zug nach Verlustig fährt auf Gleis 2 ein. Vorsicht auf dem Bahnsteig!“

 

Verblüfft blickte Til die schwarze Dampflok an, auf der mit weißen Großbuchstaben geschrieben stand: VERLUSTIG-EXPRESS.

Der Lokführer, der den Zug anhielt und aus dem Fenster schaute, war ein seltsamer Mann mit bunten Haaren und einer weinerlichen Frauenstimme, die ungeduldig rief: „Abschied, Abschied, Abschied!“ Und die Menschen vor dem Zug umarmten einander und weinten sehr.

„Narr Silberspiegel“, sagte Til nun zu dem lustigen Mann, denn so nannte er ihn jetzt wegen seines silbern funkelnden Spiegels. „Wohin fährt denn dieser seltsame Zug und warum weinen die Menschen so sehr? Und weshalb verlieren die Menschen hier am Bahnhof ständig irgendwelche Dinge?“

Narr Silberspiegel machte hinter seiner Narrenmaske große blaue Augen und erzählte: „Du bist in einer Stadt, in der alle Menschen Dinge verlieren und es nicht einmal merken! Wenn sie es bemerken, dann ist es zu spät und sie weinen bitterlich, denn sie können ihre Sachen niemals zurückbekommen: Was man einmal verloren hat, gewinnt man hier in Verlorenherz nicht mehr zurück. Es gibt nämlich ein Gesetz im ganzen Land Verlorenherz: Niemand darf etwas Verlorenes zurückbekommen! Dieses Gesetz stammt von der Königin von Verlorenherz. Die Königin von Verlorenherz ist wirklich sehr hart. Sie verlangt, dass die Menschen, die etwas verloren haben, zu ihr kommen. Wenn jemand beispielsweise ein Haus verliert, weil die Königin es einstürzen lässt, dann erhält er von der Königin von Verlorenherz dafür ein neues. Und wenn er dieses neue Haus bald darauf wieder verliert, weil es die Königin in Luft auflöst, dann bekommt er von der Königin wieder ein neues und immer so weiter, aber lange behält hier in Verlorenherz leider keiner irgendetwas. Viele Menschen sind deshalb unglücklich und sie werden immer trauriger.“

„Wie bin ich denn hierhergekommen, Narr Silberspiegel?“, fragte Til. „Ist es wirklich kein Traum?“

Narr Silberspiegel schwieg. Er deutete auf die Menschen, die sich auf dem Bahnsteig verabschiedeten. Immer mehr Menschen wurden es. Viele von ihnen würden bald in den Zug VERLUSTIG-EXPRESS steigen.

Der Lokführer mit den bunten Haaren wurde immer nervöser: Die ganze Zeit rief er ungeduldig „Abschied, Abschied, Abschied!“, denn er wollte endlich losfahren, aber die Menschen umarmten sich weiter; sie begannen nun zu klagen und zu weinen und wollten ihre geliebten Freunde und Angehörigen gar nicht mehr loslassen.

Til flüsterte Narr Silberspiegel zu: „Die Menschen tun ja gerade so, als würden sie sich niemals wiedersehen!“

„Im Land Verlorenherz verliert man nicht nur Gegenstände“, erklärte Narr Silberspiegel ernst, „man verliert auch Menschen.“

„Menschen?“, fragte Til erstaunt.

Narr Silberspiegel nickte.

Til musste einen Augenblick an seinen Vater denken. „Verlustig … sie fahren also nach Verlustig …“, flüsterte er, und dann fragte er noch: „Was weißt du über dieses Land?“

„Das ist das Land, wohin die Menschen gleich fahren. Sie werden niemals wieder aus diesem Land zurückkehren. Verlorenherz ist eigentlich ein Land, in dem sich Menschen nach ihrem Tod wieder begegnen, Til – aber wegen der Königin ist es ein Land geworden, in dem sich alle Familien, die nach ihrem Tod zusammen gefunden haben, wieder trennen müssen. Die Menschen, die ihre Wertsachen verlieren, hatten in ihrem Leben keinen geliebten Menschen, weil ihnen materielle Dinge wichtiger waren, und so verlieren sie ständig Sachen. Alle Menschen, die nach Verlorenherz kommen, müssen eine schwarze herzförmige Muschel an ihr Ohr halten, die Vergissmeinmuschel. Dadurch vergessen sie allmählich die Trauer über ihr verlorenes Leben auf der Welt und haben Mut, hier in Verlorenherz ein neues Leben anzufangen. Aber wegen der Königin von Verlorenherz ist das hier ein sehr trauriges Land für die Menschen geworden, Til.“

„Weißt du denn auch, ob mein verstorbener Vater hier irgendwo in Verlorenherz ist?“, fragte Til, als er hörte, dass in diesem Reich die Menschen nach ihrem Tod lebten.

Aber Narr Silberspiegel seufzte nur, schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, Til. Das weiß ich leider nicht …“

Til beobachtete eine Familie: Zwei Jungen sollten sich gerade von ihrem Vater verabschieden, der in den Verlustig-Zug steigen musste. Die Familie war bei einem schlimmen Autounfall gemeinsam gestorben und hatte sich danach in Verlorenherz wiedergefunden, aber jetzt sollten sich die Söhne mit der Mutter von ihrem Papa trennen. Der ältere Junge war etwa zehn Jahre alt und musste weinen – es war ein heftiges Weinen, seine Brust bewegte sich auf und ab. Der Vater senkte den Blick und hatte einen Arm um die Schulter des weinenden Jungen gelegt. Der kleinere Junge war erst zwei Jahre alt. Er blickte nur ganz verwundert auf seinen großen weinenden Bruder. Die Mutter fasste den kleineren Jungen fest an der Hand und musste sich zusammennehmen, um nicht auch noch anzufangen zu weinen, denn um sie herum weinten fast alle Menschen, die ihre Liebsten nach Verlustig schicken mussten. Auch ein Mädchen, das etwa gleich alt war wie Til, mit grünem Sommerkleid und blondem Haar, musste in den Zug steigen und sich von seinem weinenden Papa verabschieden. Til tat das Mädchen leid. Es verhielt sich zwar tapfer und hielt sein Weinen zurück, aber die Wut, die in den dunklen Augen des Mädchens stand, konnte Til erkennen: Nur allzu gern hätte das Mädchen die Gesetze dieses Landes verändert …

„Warum ist die Königin von Verlorenherz denn so hart?“, fragte Til seinen Freund, den Narren Silberspiegel, aber der Narr gab ihm keine Antwort, sondern blickte nur weiter auf die traurigen Menschen.

Einige Menschen stiegen jetzt endlich in den Zug nach Verlustig ein, aber andere wurden von ihren Angehörigen immer wieder festgehalten und umarmt. Es gab viele Menschen, die die Hände ihrer Eltern, Kinder oder Freunde gar nicht loslassen wollten. Wieder rief der Lokführer mit den bunten Haaren „Abschied, Abschied, Abschied!“ – Da stiegen schließlich auch die letzten Menschen in den Zug und mussten ihre Angehörigen zurücklassen. Die Türen schlossen sich.

Viele Menschen liefen dem wegfahrenden Zug noch ein Stück hinterher. Sie winkten, schrien, weinten und verfluchten die Königin von Verlorenherz. Der Zug fuhr aus dem Bahnhofsgebäude heraus und verschwand dann weiter draußen in einem merkwürdigen weißen Nebel – es schien, als hätte dieser Nebel den Zug VERLUSTIG-EXPRESS einfach verschluckt.

Und Til dachte plötzlich: Vielleicht ist auch mein Vater dort? – In Verlustig!

Kapitel 5

Rafael traute seinen Augen nicht: In Tils Bett lag der Junge aus dem Wald! Das durfte nicht wahr sein! Hatte der Junge aus dem Wald nicht versprochen, alles rückgängig zu machen, sobald Mama den Ring von Rafaels Finger ziehen würde? Und wo war der Ring jetzt? Bei Mama? Rafael verstand nichts mehr. Am liebsten hätte er sich auf den Jungen gestürzt und ihn angeschrien: „Was hast du mit meinem Bruder gemacht?!“ Aber schließlich schlief seine Mama nebenan in ihrem Schlafzimmer. Also beschloss er, sich wieder in sein Bett zu legen und bis zum nächsten Morgen zu warten.

Er schlief lange nicht ein, weil er in der Dunkelheit immerzu an Til denken musste: Hatte der merkwürdige Junge aus dem Wald jetzt Tils Platz eingenommen? Woher kam er nur? Und was würde Mama dazu sagen? Niemals würde sie Rafael diese Geschichte glauben!

Wäre Til doch wieder Til und ich könnte mit ihm Fußball spielen, ganz allein mit ihm trainieren, wie wir es manchmal getan haben, dachte Rafael, auch wenn Til mich oft dazu zwingen musste, mit ihm auf der überwucherten Wiese am Straßenende zu trainieren, weil ich lieber im Haus geblieben bin und Bücher gelesen habe. Und wenn Til jetzt für immer wegbleibt? Nein, das darf ich nicht zulassen! Am liebsten würde ich den Jungen aus dem Wald ordentlich verhauen! Selbst kleine Zauberer, wie er wohl einer ist, sollten ihr Wort halten!

Am nächsten Morgen wachte Rafael früh auf – es war halb sieben Uhr morgens. Draußen war es schon hell, denn es war Mai, und durch die Vorhänge vor den Fenstern drang schon das Tageslicht ins Zimmer. Bald würde Mamas Wecker klingeln. Dann würde sie Frühstück machen und Rafael und Til wecken – die beiden Jungen müssten aufstehen, sich waschen, ihre Schultaschen packen, frühstücken und ihre Mama würde inzwischen zu ihrer Arbeit in die Stadtbibliothek fahren.

Til!, dachte Rafael und erschrak. Zuerst muss ich wissen, ob der Junge aus dem Wald immer noch oben im Bett liegt! Leise stieg er aus seinem Bett. Er wollte den Jungen nicht wecken, das traute er sich nicht, denn irgendwie hatte er Angst davor, was passieren würde, wenn dieser seltsame Junge erwachte.

Vorsichtig kletterte Rafael zwei Sprossen der Leiter des Etagenbetts hoch, damit er ganz ins Bett hineinsehen konnte. Aber das ist unmöglich!, dachte er: Im Bett lag nun wieder sein Bruder Til und schlief, als ob es überhaupt nie einen Jungen aus dem Wald gegeben hätte! Habe ich das alles vielleicht nur geträumt?, fragte sich Rafael, obwohl er sich das kaum vorstellen konnte.

Eine Zeitlang stand Rafael auf der Leiter und überlegte, was er jetzt tun sollte. Schließlich beschloss er, seinen Bruder aufzuwecken. Er flüsterte ein paar Mal „Til!“, doch der regte sich nicht: Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und atmete ganz ruhig. Sein dunkelblondes Haar fiel ihm zerzaust ins Gesicht – das erinnerte Rafael daran, wie Til oft aussah, nachdem er Fußball gespielt hatte: Verschwitzt, mit zerzaustem dunkelblonden Haar, aber glücklichen blaugrünen Augen und einem zufriedenen Lächeln. So kannte er seinen Bruder. Dieser Junge musste einfach Til sein!

Plötzlich stand Julia in der Tür. „Aufstehen, Rafael und Til!“, rief sie.

Rafael schauderte, als Til in diesem Moment die Augen aufschlug. Er sah genauso aus wie sein Bruder, gähnte einmal kräftig, streckte seine Glieder und richtete sich im Bett auf. Rafael war sich jetzt ganz sicher, dass es sein Bruder Til war …

Kapitel 6

„Narr Silberspiegel!“, sagte Til, der immer noch am Bahnhof von Verlorenherz stand. „Erkläre mir doch einmal, warum noch nie jemand aus Verlustig zurückgekommen ist!“

Narr Silberspiegel blickte auf die Menschen, die immer noch am Bahnhof standen und um ihre Angehörigen weinten, die soeben im VERLUSTIG-EXPRESS aus der Stadt gebracht worden waren.

„Es hat mit der Geschichte der Königin von Verlorenherz zu tun“, sagte er, blickte in seinen kleinen, runden Silberspiegel und begann, zu erzählen:

Es war einmal eine liebe Königin, die hatte einen noch lieberen Gatten, den Herrn König von Weichlieb. Sie liebte ihn von ganzem Herzen. Unter seiner Herrschaft herrschte überall im Reich Frieden und Glück und das Königreich hieß damals Weichlieb, nicht Verlorenherz. Der König von Weichlieb war ein lieber König und er wollte sein Glück mit allen Menschen in seinem Reich teilen. Es gab auch keinen Hass, keinen Neid und keine Eifersucht in diesem wunderbaren Reich, denn alle Menschen liebten und achteten einander.

Der König von Weichlieb unternahm gern weite Reisen auf magischen Teppichen, aber diese Fliegerei des Königs von Weichlieb gefiel der Königin leider gar nicht. Immer hatte sie Angst, dass der König von Weichlieb von seinen weiten Reisen nicht mehr zurückkehrte. Eines Tages musste sich die Königin wie so oft vom König von Weichlieb verabschieden, denn er plante wieder einmal eine weite Reise auf einem seiner magischen Teppiche. Es war ein warmer Herbstabend, an dem der König und die Königin im Schlossgarten unter zahlreichen bunten Bäumen Abschied nahmen. Die Bäume verloren schon ihre ersten Blätter und als die Königin das sah, überkam sie ein eigenartiges Gefühl der Trauer. Der König von Weichlieb schenkte ihr noch einen Abschiedskuss und flog dann munter auf seinem Teppich davon, der war so bunt wie das Laub der Herbstbäume. Es war das letzte Mal gewesen, dass die Königin ihn gesehen hatte. Der König wurde lange gesucht, aber nirgendwo gefunden. Die Königin war nun ganz allein und sehr traurig. Der ganze Hofstaat machte Anstalten, die Königin wieder zu verheiraten, doch keiner der Anwärter gefiel der Königin so wie ihr verschwundener König von Weichlieb.

Tagsüber blieb die Königin nun immer in ihrem Schloss. Manchmal schlich sie sich aber nachts nach draußen und ging dann durch die Straßen und Gassen der Stadt. Oft sah sie reiche Menschen, die sich an ihren Reichtümern erfreuten, an hohen Häusern oder teuren Autos, und sie sah Menschen, die jung gestorben, aber in Weichlieb glücklich wieder vereint waren und sich küssten und umarmten. Da wurde ihr bewusst: Ihrem Volk ging es besser als ihr selbst.

 

Das machte sie endlich so wütend, dass sie befahl, dass in ihrem Land fortan kein Mensch mehr etwas behalten sollte, weder einen geliebten Menschen noch ein Tier noch ein Haus noch auch nur den kleinsten Gegenstand. Wenn ein Mensch beispielsweise ein schönes Auto besaß, von dem er glaubte, dass es ihm nun gehörte, so verwandelte sich dieses Auto am nächsten Tag in ein neues und am übernächsten wiederum in ein neues und immer so weiter. Kein Gegenstand blieb in Verlorenherz länger als einen Tag bei einem Menschen, selbst Pullover, Hosen, Mäntel, ja sogar Zuckerdosen und Pfannen und so weiter gingen nach kürzester Zeit verloren. Dann mussten die Menschen stets zur Königin von Verlorenherz gehen und sie um neue Dinge bitten und die Königin hatte dann allerhand zu tun, den Menschen diese Dinge herbeizuzaubern, die sie brauchten, aber das lenkte sie wenigstens von ihrer eigenen Trauer ab.

Aber Menschen konnte die Königin natürlich nicht ersetzen – und es gab ein Gesetz im ganzen Land, das die Königin selbst eingeführt hatte: Die Menschen verloren ihre Liebsten, indem alle dreißig Tage der Zug Verlustig-Express in die Stadt einfuhr. Dieser Zug holte jene Menschen ab, welche die Königin von Verlorenherz dazu bestimmt hatte. Dadurch zerreißt die böse Königin bis heute ganze Familien! Aber niemand kann die Macht der Königin so einfach brechen, denn die Königin ist eine große Zauberin und als solche mächtig und gefürchtet. Und so müssen die Menschen in Verlorenherz wohl oder übel mit den Entscheidungen der bösen Königin leben und ebenso traurig sein wie sie selbst.

Die Geschichte von Narr Silberspiegel erinnerte Til an seinen Großvater, der seine Mama verlassen hatte – das hatte ihm seine Mama einmal erzählt: Sie war damals erst drei Jahre alt gewesen. Ihr Papa, Tils Großpapa, war immer gerne mit Kleinflugzeugen geflogen. An einem warmen Herbstabend stand die kleine Julia mit ihrer Mutter auf dem Flugplatz, um sich von ihrem Papa zu verabschieden. Die Bäume verloren ihre ersten Blätter und Tils Mutter erinnerte sich später noch ganz genau daran, wie sie sich zum letzten Mal von ihrem Papa verabschiedete. Er sagte zu ihr: „Wenn du größer bist, dann fliegst du mit und wir fliegen zusammen bis in die Wolken!“ Die kleine Julia wollte lieber gleich mit, aber ihre Mutter sagte: „Dafür bist du noch zu klein!“ Julia weinte und quengelte deshalb noch den ganzen Tag. Es war das letzte Mal gewesen, dass Julia ihren Papa gesehen hatte. Er kam nie wieder zurück, das Leichtflugzeug wurde lange gesucht, aber niemand konnte es finden. Man nahm an, es wäre irgendwo abgestürzt.

„Aber warum müssen denn alle Menschen in Verlorenherz mit den Entscheidungen der Königin leben?“, wollte Til wissen und fühlte sich wieder sehr traurig. „Da muss man doch irgendetwas dagegen tun können!“

Narr Silberspiegel überlegte scharf. Die Menschen um sie herum auf dem Bahnsteig wurden nun endlich weniger, aber es blieben immer noch einige zurück, die sehnsuchtsvoll und traurig um sich blickten und nicht glauben konnten, dass sie ihre Liebsten nun für immer verloren hatten. Til wurde auf einen Jungen aufmerksam, der seinen Vater verloren hatte. Nun saß er auf dem Bahnsteig und blickte stumm in die Richtung, in die der Zug verschwunden war. Und unweigerlich musste sich Til nun auch an seinen eigenen Vater erinnern:

Rafael und Til waren vier und fünf Jahre alt gewesen. Ihr Papa hatte sie zur Geburtstagsfeier eines Freundes von Rafael gefahren. Abends wollte er die beiden Jungen dann abholen, aber auf dem Weg zu ihnen geriet er in ein Gewitter. Durch den heftigen Regen, der sich wie ein weißer Vorhang auf seine Windschutzscheibe legte, war er mit dem Auto von der Straße abgekommen und in den Bach gestürzt. Til war bei der Beerdigung dabei gewesen, aber er erinnerte sich nur noch daran, wie traurig er gewesen war und dass er ständig sein Weinen unterdrückt hatte, weil seine Mama auch nicht geweint, sondern nur traurig ausgesehen hatte. Und er wusste noch, wie er dann eine Weile bei seiner Mama im Bett geschlafen hatte, die nachts oft geweint und ihn dabei umarmt hatte. Vielleicht hatte die Königin seinen Papa auch nach Verlustig geschickt? Dann musste Til ihn unbedingt zurückholen und vielleicht konnte er auch die anderen Menschen aus Verlorenherz wieder glücklich machen!

„Was ist denn das?“, fragte Til erstaunt, als er im Spiegel des Narren plötzlich tanzende bunte Buchstaben erkannte, die sich allmählich zu einem Satz zusammensetzten: Geh nach Verlustig! Nun blickte auch Til in die Richtung, in die der Zug nach Verlustig verschwunden war. Außerhalb des Bahnhofsgebäudes lag dort alles in einem weißen, dichten Nebel. Einen Augenblick lang überlegte Til, wie er überhaupt wieder zurück zu Mama und Rafael kommen konnte, aber dann dachte er wieder an seinen Papa und an die traurigen Menschen aus Verlorenherz und sagte entschlossen: „Gehen wir nach Verlustig und tun, was der Spiegel uns sagt, Narr Silberspiegel!“

Da lächelte Narr Silberspiegel. „Das ist recht: Tu, was der Spiegel dir sagt! Du hast hier eine Aufgabe zu erfüllen, Til. Meine Freundin Resi Redewendung, die du später noch kennen lernen wirst, hat mir den Zauberspiegel überlassen, um die bösen Mächte der Königin zu besiegen. Der Spiegel weist uns den Weg, und durch ihn kann uns die Königin nicht sehen, denn er macht uns vor ihrem eigenen schwarzen Zauberspiegel, mit dem sie sonst alles in ihrem Reich sehen kann, unsichtbar. Und im Laufe der Zeit wirst du auch erfahren, wie du wieder nach Hause kommst. Alles wird sich allmählich entwickeln!“

Til fand das alles sehr spannend. Abenteuerlustig, wie er nun plötzlich war, wollte er sofort nach Verlustig aufbrechen und fragte: „Narr Silberspiegel, wie gelangen wir nach Verlustig? Schaffen wir es ohne den Trauerzug?“

„Wir schaffen es mit Hilfe des Zauberspiegels!“, sagte Narr Silberspiegel.

„Was bedeutet denn das?“, fragte Til abermals erstaunt, als er im Spiegel des Narren nun wieder tanzende Buchstaben erkannte, die sich allmählich zu einem Satz zusammensetzten: Tanzt, denn nur lustig findet ihr nach Verlustig!

Da sprang Narr Silberspiegel auf, drehte sich einige Male im Kreis, tanzte lustig und ausgelassen auf dem Bahnsteig herum und rief voller Freude: „Ich habe meinen Sohn wieder!“, während ein paar traurige Menschen um ihn herum immer noch weinten. „Tanz mir nach, Til“, rief Narr Silberspiegel, „denn nur lustig kommst du nach Verlustig!“

„Was hast du denn mit deinem Sohn gemeint?“, fragte Til.

„Ich stelle mir vor, dass ich einen meiner verlorenen Söhne in Verlustig wiederfinde!“, sagte Narr Silberspiegel. „Und du musst dir beim Tanzen auch etwas ganz Schönes vorstellen, damit du lustig wirst, denn sonst kommen wir nicht nach Verlustig!“

Und obwohl Til sonst niemals tanzte, stand er nun auf und tanzte quer über den Bahnsteig. Er versuchte, Narr Silberspiegel in seinen schnellen Bewegungen, Schritten und Drehungen zu folgen. Er hätte diesen Tanz gar nicht beschreiben können: Sie tanzten so, wie sie sich eben fühlten, und Til fühlte sich großartig, denn er stellte sich vor, wie er ein Fußballspiel gegen das beste Team der Liga gewann und seine Mannschaft dabei zum vierten Mal in Folge die Meisterschaft für sich entschied; wie er selbst Torschützenkönig wurde und ihn alle bejubelten, wie es in den vergangenen Jahren schon geschehen war: Immer war es ein großartiges Gefühl gewesen. Aber da war noch ein viel größerer Wunsch in ihm, der ihn in Gedanken an seine Erfüllung unendlich glücklich machte.