Kerker aus Licht und Schatten

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Jeremias’ Flüstern schnitt durch die Stille des Raums: „Dieser eingebildete ... dieser widerliche Fettwanst. Für was hält er sich? Seine Dummheit wird nur noch durch seine Grausamkeit übertroffen. Alles hat er von seinem Vater geerbt und alles wird von seinen Untergebenen aufrechterhalten. Er kennt keine Handelszahlen, versteht nicht, was doppelte Buchführung ist, aber hält sich für einen kleinen König.“ Philipp wollte etwas sagen, aber Jeremias ließ ihn nicht. „Er widert mich an, diese scheußliche Schmalzblase. Wie eine Warze auf der Nase: hässlich, nutzlos, immer im Blick. Er bildet sich ein, dass er zu Recht über mir stünde und mir ins Gesicht spucken könnte.“ Philipps Hand war auf seinem Rücken, doch Jeremias konnte sich nicht beruhigen. „Sage mir Philipp, wie viele Händler in ganz Frankfurt haben die Zahlen schneller parat, können Kunden besser von ihren Waren begeistern und auch noch den verstocktesten Handelspartner überzeugen? Wie viele?“

Sekunden der Stille, bis der Niederländer schließlich zugab: „Ich kenne keinen Einzigen im ganzen Deutschen Reich, der dir gleichkäme. Ich sagte dir stets, dass ich deine Begabungen für einzigartig halte.“

„Und warum können alle dennoch auf mich herabglotzen und mich gering schätzen? Nur weil ich eine Waise bin? Weil ich arm geboren wurde?“

Der Tisch drohte unter Jeremias Händen zu bersten.

„Bitte beruhige dich doch. Wir haben bereits so viel gemeinsam erreicht. Es wird sich schon fügen, wenn ... “

„Ach, was soll sich denn fügen? Was hat sich in den letzten Jahren gefügt? Sieh’ dich doch einmal um. Nützte mir meine gute Kleidung heute etwas?“

„Aber vielleicht müssen wir uns auch manchmal mit dem bescheiden, was uns zuteilwurde. Gott verlangt Demut.“

„Oh ja, mit allem muss man sich zufriedengeben. Ja gewiss … gewiss. Die Welt ist eben so. Ja, das sagst du laufend. Man muss sich mit allem abfinden, alles hinnehmen und alles ertragen. Nein ... mit einer solchen Haltung kann man die Welt niemals verändern.“

Philipps Flüstern wurde eindringlicher: „Was willst du die Welt verändern? Es ist nun einmal die von Gott bestimmte Ordnung. Es gibt solche die herrschen und solche die gehorchen müssen. Selbst Kaiser und Papst müssen dem Herrn dienen. Jedermann kann nur auf die Gnade und Gerechtigkeit Gottes hoffen.“

Die Knöchel von Jeremias’ Fingern blitzten weiß auf. „Ha, Gerechtigkeit! Was für eine Gerechtigkeit denn? Das Los eines Menschen wird nicht durch dessen Güte bestimmt, sondern aus welcher Frau er als Säugling hervor kroch, aus wessen Schoß.“

„Jeremias!“

„Wo siehst du denn Gerechtigkeit? Sollten wir Menschen von Geburt an nicht dieselben Möglichkeiten besitzen und uns durch unsere Taten bewähren? Wo findest du dies?“

„Aber ... aber ... Gott ... “

„Ja, Gott! Wo ist Gott? Wo war ... “ Er hielt inne, denn er war an eine gefährliche Schwelle getreten. Wohl war auch Philipps Gottvertrauen erschüttert worden, aber noch immer benötigte dieser seinen Glauben als wichtige Stütze im Leben. Keinen Menschen wollte Jeremias verletzen — aber seinem Ziehvater wehzutun, dies wäre eine Sünde gewesen. Er atmete einige Mal tief ein, lockerte seinen Griff um den Tisch. Er wusste, dass Tränen in den Augen seines Mentors lauerten. Er beneidete Philipp um dessen Genügsamkeit. Könnte auch er so glücklicher sein? Jeremias lächelte, sachte ergriff er einen Arm von Philipp, der den freundlichen Ausdruck erwiderte. Ich liebe dich so sehr, Philipp. Ich will dir keine weitere Wunde zufügen. Niemals.

Sie umarmten sich und blieben miteinander verbunden im Raum stehen. Noch immer war es für Jeremias ungewohnt, dass ihm der Ältere, zu dem er einst hatte aufschauen müssen, gerade noch an die Schulter reichte. Einige Minuten dauerte es, bis sie sich voneinander lösten.

Es fiel Philipp nicht leicht, Worte zu finden. „Ich wünschte es dir doch auch von Herzen, dass du die Anerkennung bekämest, welche du verdienst.“

„Warum können wir uns keinen anderen Dienstherrn suchen?“

Philipp erschrak. „Nein, Jeremias. Das wage ich nicht. Ich verlor bereits einmal alles. Dies überlebte ich kaum. Denk’ daran, was mit Luding und Winkler geschah, als sie aus Meister Brückfelds Diensten traten.“

Jeremias seufzte. Jeder kannte diese Geschichte: zwei erfolgreiche Kaufleute, die sich selbstständig machen wollten. Wegen Brückfelds Rachsucht stürzten sie ins Elend. Sie verendeten in der Leibeigenschaft.

Philipp schüttelte den Kopf: „Der Meister ist zu mächtig und er vergibt niemandem, der sich von ihm lösen will.“

„Das heißt, wir können hier nicht weg? Wir sind an ihn gebunden?“

„Wenn wir keine Not leiden wollen, müssen wir uns fügen.“

Jeremias keuchte leise. Sich fügen, solide sein, sich bescheiden — dies waren die Werte in dieser Welt. Täte er etwas wider diesen bürgerlichen Katechismus, fiele es auf Philipp zurück. Er merkte, dass das Blut allmählich erneut begann überzukochen, doch er musste Philipp schonen. So stellte er seine Schuhe in die Ecke, zog sein Hemd aus und eine ältere Hose an.

Philipp beobachtete ihn unruhig. „Was hast du vor?“

„Ich werde versuchen meine Unruhe mit dem zu kühlen, was in unserer Zunft am meisten geschätzt wird: mit Arbeit. Vielleicht hat der Lagervorarbeiter etwas für mich.“

Erst wollte Philipp ihn zurückhalten, erkannte aber, dass es besser war in dieser Sache nachzugeben.

Der Jüngling lief mit wallendem Haar zum neuen Lagerhaus gegenüber dem roten Sandsteinhaus der Brückfelds, das mit seinen Türmchen und Erkern wie ein kleines Schloss dalag. Sogleich entdeckte er den Vorarbeiter und lief zu diesem. „Sag’, hast du Arbeit für mich?“

Der Vorarbeiter blinzelte erstaunt. „Für dich? Du kommst wie gerufen. Ich habe nur zwei Männer, welche die Arbeit von fünfen erledigen müssen.“

„Wo sind die anderen?“

„Der Meister hat sie für die Bauarbeiten an seinem Haus abgezogen.“

Jeremias schaute zur Südseite des Hauses, die dem Meister und seiner Tochter vorbehalten war. „Wird neu hergerichtet, oder?“, fragte er.

„Ja genau. Oben auf dem Dach haben sie schon einiges an Ziegeln heraufgeschafft. Dafür brauchte der Meister meine Männer. Wir können deine Hände gut gebrauchen.“

„Sag’ den anderen, dass sie sich ein Stündchen ausruhen können, damit ich freie Bahn habe.“

„Freie Bahn? Was meinst du?“

Doch dies verstand der Vorarbeiter sogleich. Jeremias rannte zu den beladenen Wagen, lud sich mehr auf die Schultern, als zwei Männer hätten tragen können, und lief damit ins Lagerhaus. Im Gegensatz zum alten Lager musste er die Ware über eine Holztreppe hinauf in den Dachspeicher bringen — kein verhasster enger Keller.

Die Männer rauchten ihre Pfeifen und sahen zu, wie der Neuankömmling geschwind Säcke und Kisten ergriff, wie sich seine jungen Muskeln hervorwölbten, tiefe Furchen bildeten, und bald mit einer glänzenden Schweißschicht überzogen waren. Jeremias wollte den Zorn aus seinem Körper herausschuften. Seine Glieder sollten schreien, wenn er es nicht durfte. Er wollte nicht nur seine Grenzen erreichen, sondern sich an ihnen wund scheuern, um wenigstens für den heutigen Abend Ruhe zu finden.

Er erreichte sein Ziel. Als er die letzten Kisten im Speicher abgestellt hatte, kehrte er schnaufend auf die Straße zurück und setzte sich zu den anderen, die ihm lachend auf die Schulter klatschten. Sie hatten einen Krug Bier für ihn.

Da deutete einer zum Haus: „Seht mal, da kommt der Meister mit seiner Tochter.“

Wegen der Bauarbeiten mussten die beiden den Ausgang auf dieser Hausseite benutzen. Jeremias wollte den Meister und dessen hochnäsige Göre, die hinter ihm ging, nicht sehen. Erst ein unheilvolles Scharren und der Ruf eines Arbeiters auf dem Dach ließen ihn emporsehen und verstehen. Er ließ den Bierkrug fallen und preschte los.

Das junge Fräulein Brückfeld war es nicht gewohnt, diesen Ausgang zu nehmen, der sonst von den Bediensteten genutzt wurde. Diese glanzlose Pforte war ihr peinlich. Zum Glück sah niemand außer einigen Arbeitern, dass sie diesen nicht gerade schmeichelhaften Weg beschreiten musste. Mon dieu, es wäre nicht auszudenken, wenn dies jemand aus den höheren Familien mitbekäme. All das heimliche lästernde Gerede, stichelnde Bemerkungen — darauf konnte sie verzichten. Es war nicht immer leicht, das hohe Ansehen ihrer Familie zu wahren. Die Kutsche für sie und ihren Vater würde hoffentlich bald erscheinen. Plötzlich gewahrte sie ein seltsames Geräusch über sich. Dann ein Schrei. Immer diese lauten Arbeiter. Es ist ein Gräuel. Da wandte sie den Kopf nach oben: Direkt über ihr kippte ein Trog mit Ziegelsteinen um; alles schien zu erstarren — die Steine hingen in der Luft, ihr Herz stockte, alle Muskeln waren gelähmt; die Ziegel würden sie zermalmen. Sie wollte schreien, doch blitzschnell zerrte sie etwas mit sich, sank mit ihr zu Boden. Dicht neben ihr krachten die Steine herab.

Zuerst wusste sie nicht, wohin sie sich wenden sollte. Überall aufgewirbelter Staub. Sie musste husten. Endlich konnte sie ihre Umgebung erkennen. Ein Mann lag an ihrer Seite. Er hatte sie gerettet. Aber kannte sie ihn nicht? Nur hatte sie ihn als Jungen in Erinnerung. Es war Jeremias. Sie blinzelte. Er war zu einem Mann geworden ... Seine weichen braunen Augen — sie kamen ihr ungewöhnlich tief vor. Zut alors! Ich liege hier im Staub und starre einen ungewaschenen Handlanger an! Bin ich noch bei Sinnen? Doch noch immer betrachtete sie den Jüngling. Sie stockte. Er war ... so schön — auch mit all dem staubigen Schweiß. Oder vielleicht gerade deswegen? Ihre Hand lag auf seinem kräftigen Arm, der sie noch immer umfasst hielt. Feuchte Wärme ging von ihm aus, drang durch ihr Kleid. Ein seltsames Gefühl; und doch: es war ... Warum wurde ihr wärmer? Sie wollte aufstehen, doch ... wollte sie wirklich? Sie fühlte sich gerade so wohl.

 

Plötzlich war ihr Vater über ihr. „Judith, mein Kindchen, hast du dich verletzt? Du Lump! Bist du toll, dass du dich auf meine Tochter stürzt?“

Etwas enttäuscht erhob sich Judith unter der gleichzeitigen Hilfe Jeremias’ und ihres Vaters, der den Jüngeren jedoch fortscheuchte.

„Wag’ es nicht, sie noch einmal anzufassen! Sonst werde ich dich rädern lassen. Hast du verstanden?“

Jeremias stand reglos da und sah demütig hinab.

Judith ordnete ihre prächtigen Kleider. „Papa, er hat mich gerettet. Ohne ihn wäre ich ... “

„Nein, meine kleine Prinzessin. Das sah schlimmer aus, als es tatsächlich war.“

Ihr Mund blieb offen stehen. „Aber die Steine hätten mich erschlagen, wenn Jeremias nicht gewesen wäre.“

Ihr Vater zuckte bei dem Namen seltsam zusammen. „Nein, Kind, schau’ … die Steine wären zwar dicht neben dir eingeschlagen, hätten dich aber nicht getroffen. Du standest weiter hier. Da konnte nichts passieren.“

Warum will er nicht wahrhaben, dass ich tot gewesen wäre? Ich habe die Ziegel doch genau über mir gesehen. „Wie dem auch sei, Papa, ich möchte Jeremias danken.“

„Wofür? Dass er dich in den Gossendreck gezogen hat?“

Am Rand ihres Sichtfeldes bemerkte sie, wie sich die Muskeln des jungen Mannes zusammenzogen. Sie lächelte. „Danke für deine Hilfe, Jeremias. Merci beaucoup.“

Nach einer unschlüssigen Sekunde verneigte sich der Jüngling. „Tout le plaisir était pour moi, Mademoiselle Brückfeld. Si vous avez encore besoin de moi … Ihr wisst, wo Ihr mich findet.“

Sie wollte etwas entgegnen, doch ihre Sprache versiegte. Er hatte Französisch gesprochen, dieser ehemals so schüchterne Waisenjunge. Wie konnte dies ... ?

Ihr Vater zog sie am Arm davon und rief Jeremias zu: „Es ist eine Schande, wie du herumläufst: barfuß, halb nackt, schmutzig. Ich werde mit Jansen sprechen.“

„Aber Papa, wichtig ist doch, dass jeder unversehrt ... “

Brückfeld schritt unwirsch voran. „Versprich mir, dass du mit niemandem hierüber redest. Kein Wort!“

Sie willigte ein. Jeremias — sein Arm um ihre Hüfte, seine Augen; all dies ging ihr nicht aus dem Sinn. In einem längst bekannten Buch hatte sie eine verborgene Seite aufgeschlagen, welche das zuvor Gelesene vertieft und in etwas verwandelt hatte, dessen Versprechen ihr Leidenschaft und Furcht zugleich bescherte.

Jeremias sah den beiden hinterher, bis sie abfuhren. Er war benommen, ja benebelt. Dies sollte das kleine Balg sein, das ihm vor Jahren derart auf die Nerven gegangen war? Er hatte sie seitdem nur flüchtig aus der Ferne gesehen. Beeindruckend. Diese hohen Wangenknochen, auf seinem Arm war noch ein leises Prickeln ihrer Berührung … Hatte das Strauchwerk in ihrem Inneren da nicht einen winzigen Augenblick lang die Sicht freimachen wollen, als wäre es dünner und biegsamer geworden?

Er lief über den Rathausplatz, vorbei am Dom. Er nahm seine Umgebung kaum wahr. Schließlich hatte er die Stadt verlassen. Nackt sprang er in den kühlen Main, ließ sich vom Fluss treiben, Judiths klare Augen vor sich — erfrischend wie das Wasser, in dem er schwamm.

Kapitel 4: Das Geschenk

Jeremias begann noch vor Sonnenaufgang mit seiner alltäglichen Arbeit im Kontor. Trotz aller Mühe zerfaserte sein Geist nur allzu gern, verlor sich in Rinnsalen und sammelte sich in dem glühenden Haar, dem weißen Antlitz und den blauen Augen Judiths.

Herr Lösser betrat den Raum. Jeremias zuckte zusammen. Der Hauptbuchhalter starrte ihn mit dürrer Miene an. Tuscheln, Federkritzeln und selbst Atmen erstarben. Die Pupillen hinter den Gläsern verrieten kein Gefühl.

Ein Zweigfinger deutete auf Jeremias. „Mitkommen!“

Ein heißkalter Schauder durchwogte ihn. Oh mein Gott! Der Meister hat Herrn Lösser erzählt, dass ich seine Tochter belästigt hätte. Es kostete ihn Überwindung, seine Beine durchzudrücken und staksig zu folgen. Sie traten in die Schreibkammer Herrn Lössers ein, wo ein verspannter Philipp bereits auf sie wartete. Das Blut pulsierte heftig in Jeremias’ Schädel. Herr Lösser betrachtete beide eingehend.

„Jeremias, machtest du bereits einmal Bekanntschaft mit Fräulein Brückfeld?“

Philipp erbebte.

Jeremias’ Mund war mehlig geworden. „Ich ... also ich ... ich traf sie einmal vor Jahren in Eurer Gegenwart, gewiss könnt Ihr Euch noch daran ... “

Lösser winkte ab. „Tut nichts zur Sache. Auf Wunsch des werten Fräuleins gab der Meister dir für den morgigen Tag frei, um der jungen Dame Gesellschaft zu leisten. Er selbst ist leider verhindert, aber er sprach davon ... oder deutete zumindest indirekt an, dass du dich aus Sicht seiner Tochter verdient gemacht hättest. Behandle das Ganze diskret. Sollte unwürdiges Getuschel an meine Ohren dringen, wirst du nicht ungeschoren davonkommen.“ Er notierte zufrieden Jeremias’ Nicken. „Wie dem auch sei. Ich erwarte von dir, dass du dich morgen makellos gekleidet und gewaschen pünktlich um neun Uhr vor der privaten Pforte der ehrenwerten Familie Brückfeld einfindest, verstanden? Die Zofe Louise wird dir Einlass gewähren. Betrage dich vorzüglich, nichts weniger lasse ich gelten. Dass mir keine Klagen kommen, ich hätte verrohte Lümmel im Kontor sitzen.“

„Ge... gewiss, Herr Lösser.“

„Gut, dann ist das geklärt. Du arbeitest heute länger, damit du übermorgen den verlorenen Tag wieder aufholen kannst. Wir wären fertig. Herr Jansen, ich verlasse mich auf Euren väterlichen Einfluss dem Jungen gegenüber.“

„Selbstredend, Herr Lösser.“

„Hmmh!“ Der Buchhalter hatte aus seiner Sicht alles Erforderliche getan; so entließ er die beiden.

Im Flur flüsterte Philipp: „Wie kommst du zu solcher Ehre?“

„Ich erzähle es dir heute Abend nach der Arbeit.“

Diese Arbeit sollte Jeremias so leicht von der Hand gehen, wie schon lange nicht mehr, obwohl er höchstens die Hälfte seines Verstandes einsetzte — die andere Hälfte war dem morgigen Tag gewidmet.

Kaum war er zu Hause, holte er seine besten Schuhe hervor und begann sie zu polieren.

Als Philipp in die Stube trat, schüttelte er lachend den Kopf. „Lass’ noch etwas Leder an den Schuhen. In der ganz Stadt wird man kein Paar finden, das mehr spiegelt.“

„Weißt du, wo meine Jacke mit den schönen Knöpfen ist?“

„Du meinst die, welche ich dir vor zwei Jahren kaufte und die du niemals anziehen wolltest, weil sie dir zu pompös erschien?“ Philipp grinste spöttisch. „Oder soll ich besser sagen, welche du in weiser Voraussicht für den morgigen Anlass schontest?“

Jeremias ignorierte diese Bemerkung derart brüsk, dass der Ältere prusten musste.

„Ausgerechnet du, der am liebsten in einem Lendenschurz umherliefe. Ha, was eine junge Dame so bewirken kann.“

„Jetzt lass’ deine Lästereien. Du hast doch immer einen Kamm gehabt. Wo ist der? Ich brauche auch noch Seife.“

Philipp konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. „Ich hätte nicht meine Töchter, sondern dich verheiraten sollen. Dann hätte ich mich nicht so häufig mit deiner Toilette und Garderobe herumschlagen müssen.“

„Du bist mir keine große Hilfe. Mir läuft die Zeit davon.“

„Gemach, gemach. Selbst für dich reicht die Zeit noch, um mit seiden glänzendem Haar bei der Dame anzukommen.“

Jeremias knurrte. Während er seine Kleidung und sein Haar ordnete, erzählte er Philipp das Erlebnis mit den Brückfelds.

Kurz bevor sie zu Bett gingen, wirkte der Niederländer überraschend ernst. „Es gefällt mir nicht — Ehre hin oder her. Das Risiko ist groß. Tue nichts Unüberlegtes. Ich kenne die Launen der jungen Dame nicht, aber versprich mir, dass du diese in jedem Fall erträgst. Denke an deine Anstellung.“

Jeremias verwandte die ersten zwei Stunden des nächsten Tages ausschließlich für seine Körperpflege und seine Kleidung. Lange konnte er sich nicht von dem kleinen Spiegel losreißen. Gab es noch einen Knitter am Hemd, eine lose Haarsträhne oder einen Fussel auf der Jacke?

Endlich machte er sich auf den Weg.

Er holte einige Male tief Luft, bis er es wagte, an die Pforte der Brückfelds anzuklopfen. Louise öffnete.

„Bonjour, Madame.“

„Bonjour! Dein Kragen, Junge.“

„Mein Kragen?“

„Ja, der Kragen deiner Jacke liegt nicht ordentlich an.“

Jeremias richtete das winzige Malheur sofort. „Danke.“

„Mademoiselle Brückfeld ist im Musikzimmer. Bitte folge mir!“

Im Vorübergehen bewunderte Jeremias kunstvoll ornamentierte Eichenmöbel, bunte Wandteppiche und prächtige Vasen. Sogleich vernahm er Flötenklänge.

Louise klopfte an die Zimmertür. „Mademoiselle. Es ist der junge Herr, den Ihr einludet.“

„Bien, Louise. Merci. Entre!“

Jeremias trat durch die Tür. In der Mitte des Raums, der auf zwei Seiten durch grüne Fenster erhellt wurde, saß Judith mit ihrer Flöte. Die junge Frau fuhr damit fort, ihre Melodie zu spielen. Die Noten hallten in Jeremias’ Brust wider, doch bald legte Judith ihr Instrument weg.

„Sei gegrüßt, Jeremias. Es freut mich, dass du gekommen bist. Hast du bereits gefrühstückt?“

„Äh, nein.“ Er aß morgens beinahe nie etwas.

„Magnifique! Wir haben eigens für dich den Tisch bereiten lassen. Gehen wir in das Speisezimmer. Louise, wärest du so freundlich, uns Gesellschaft zu leisten?“

„Bien sûr, Mademoiselle.“

So nahmen sie an einer Tafel Platz, die auch noch Raum für mehr Mitessende gelassen hätte. Es war nicht leicht für Jeremias, die zahlreichen Speisen, von denen er einige nicht kannte, zwischen den farbenfrohen Porzellantellern und glänzenden Silberbestecken zu erfassen. Er begann mit einem Stück Brot und etwas, was ihn an Schinken erinnerte, aber anders schmeckte. Seine Zunge wurde stumpf; er trank von dem Wein. Stille, kein Wort am Tisch; nur das Geräusch von schneidenden Messern und pickenden Gabeln auf Porzellan. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Alles wirkte unpassend und ungeschickt und er wollte jedweden ungünstigen Eindruck unbedingt vermeiden. Er konnte das Essen kaum genießen, da er sich unentwegt sorgte, eine schlechte Figur zu machen.

Judith lächelte ihm zu, wohingegen die Zofe ihn mürrisch taxierte.

Muss sie jeden Bissen, den ich zum Mund führe, beobachten? Ich gebe doch schon mein Bestes.

„Parlieren wir ein wenig auf Französisch?“ Judiths klare Stimme erlöste ihn.

„Sehr gerne.“

„Wo lerntest du es derart gut?“

„Bei Herr Jansen. Er ist ein fabelhafter Lehrer.“

„Oder du ein außergewöhnlicher Schüler.“ Sie schmunzelte, da er verlegen war. Bevor er sich fing, fuhr sie fort: „Wie steht es gerade mit dem Handel in Frankfurt?“

„Oh, wahrlich annehmbar. Unsere beiden Messen in Frankfurt sind von der ganzen Christenheit gut besucht. Euch interessiert der Handel?“

„Alors, ich gebe zu, dass ich mehr davon wissen sollte, da es immerhin das Metier meines Vaters ist, aber er scheint mich lieber davon fernhalten zu wollen.“

„Meint Ihr wirklich?“

„Oui, die Ausbildung, die er mir angedeihen lässt, hat nichts mit deinem Handwerk zu tun. Es sei denn, euer Tagwerk im Kontor bestünde darin, Romane zu lesen, Flöte zu spielen und Bilder auf Leinwand zu malen.“

Jeremias bemühte sich um einen entspannten Ausdruck, der sich jedoch nicht allzu entspannt anfühlte. „Zum Glück nicht. Denn dies sind keine Dinge, in denen ich sonderlich gut bin.“

„Hast du es denn schon jemals versucht?“

„Nein.“

„Woher willst du dann wissen, dass du nicht gut darin bist?“

„Nun ... ähm ... “

„Es war wohl einfach nur gedankenlos dahin gesagt, oder? Um ein wenig die Anspannung zu lösen?“ Ihre Stimme hatte plötzlich einen neckischen Unterton.

Jeremias blieb stumm und versuchte möglichst unauffällig zu schlucken. „Würdet Ihr mir zeigen, wie man malt?“

„Gerne. Wir können gleich nach dem Essen beginnen.“

Kurz darauf gingen sie zurück ins Musikzimmer. Hier fand sich auch eine leere Leinwand. Sie reichte ihm einen Pinsel.

„Voilà. Fange einfach an.“

„Aber was soll ich malen?“

„Was dir in den Sinn kommt. Wähle ein Motiv, welches du dir am besten vorstellen kannst.“

Jeremias überlegte und entschied sich schließlich für das Rathaus. Unsicher tupfte er die zarten Haare des Pinsels in kleine Farbtöpfe und führte sie zu der Leinwand. Er schaute zweifelnd zu Judith. Doch sie ermutigte ihn.

 

„Keine Angst. Versuche es einfach!“

Mit einigen Mühen schaffte er endlich so etwas wie die Umrisse eines Hauses. Als er wieder den Pinsel auf der Leinwand ansetzen wollte, schloss sich Judiths schlanke Hand um die seine, sein ganzer Körper spannte sich an.

Sie leitete nun seine Hand. „Siehst du? Auf diese Weise wird deine Linie gleichmäßiger. Du kannst den Strich besser lenken.“

Er nickte, obwohl ihre Stimme nicht in seinen Verstand drang, sondern wie ein warmer Regen sanft über ihn hinwegperlte. Gänsehaut überzog seinen Körper. Ihre zarten Finger fühlten sich gut an … Er hätte so gerne den Pinsel fallen gelassen und ihre Hand ergriffen; einfach nur ihre Haut an seiner eigenen gespürt. Aber er widerstand. Er musste es.

Allmählich verstand er was sie meinte, und als sie dies merkte, nahm sie ihre Hand wieder fort. Ein Teil von ihm seufzte laut auf.

„Jetzt versuche es allein. Du wirst sehen, es geht.“

Sie hatte recht. Jeremias wurde sicherer.

Der Pinsel glitt nun mit weniger Mühe dahin, hinterließ seine feinen Linien. Es bereitete ihm zunehmend Freude, vor sich etwas entstehen zu sehen, was er bisher nur in seinem Geiste mit sich getragen hatte.

Plötzlich ertönte wieder Judiths Flöte ganz dicht bei ihm. Aber dieses Mal war es kein schriller Angriff auf seine Ohren, sondern glich einem Streicheln, das zu ihm herüberwehte, sich auf seiner Haut niederließ, die dünnen Härchen auf seinen Oberarmen empor lockte und seinem Denken die festen Konturen nahm, sodass seine Sinne zu reiner Fantasie zerrannen, die aus ihm herausfloss, um sich zumindest zum Teil auf der Leinwand vor ihm neu zu formieren. Die Klänge tasteten über seinen Körper, über seinen Geist; fanden versteckte Zugänge in sein Inneres und liebkosten Stellen, die noch niemals zuvor eine Berührung erfahren hatten. Das grüne Licht der Fenster hörte sich wie Blätterrauschen an, das sich mit dem Flötenspiel verband und einen süßen Geschmack formte, der über sein träumerisches Atmen tänzelte. Das Stück hätte noch ewig dauern können, ewig ihn durchfließen, ewig ihn auflösen.

Schließlich verstummte die Flöte und auch er hielt den Pinsel ruhig. Stille. Sie schmeckte wie eine verbotene Frucht. Judith stand neben ihm; er vernahm ihren warmen Atem an seinem Hals — wieder ein unerträglich wohliger Schauder. Einer ihrer Finger fuhr über seinen Handrücken; nur kurz und kaum vernehmbar; und doch riss die Wonne beinahe Jeremias’ Gleichgewicht hinweg. Atmen fiel schwer, da sich ein Pulsieren, das von seiner Körpermitte ausging, immer mehr Platz machte und den Körper zum Beben brachte.

„Es war wirklich dein erstes Bild?“

Jeremias blinzelte. Was meint sie? Was für ein Bild? „Oh, ja ... ja. Es war mein erstes.“

„Dafür ist es wahrlich sehr gut. Warum meintest du, dass du dies nicht vermöchtest?“ Sie lachte zart auf und sagte: „Allerdings ist deine Wahrnehmung anders als die Wirklichkeit. Es fließt kein Fluss über den Rathausplatz und auf den Dächern gibt es auch keine Bäume. Du musst zwischendurch etwas anderes im Sinn gehabt haben, als nur die äußere Welt abzubilden.“ Sie lächelte zu ihm empor.

Sie standen voreinander; wieder Stille, noch köstlicher als zuvor. Weniger als ein Schritt lag zwischen ihren beiden Körpern. Ein unerträglicher Sog — ihre Lippen waren so voll, schienen wie ein Echo auf das Pulsieren in ihm … Der Anblick der Zofe jedoch stach in seinem Augenwinkel. Das Pulsieren beruhigte sich etwas.

„Würdest du noch einmal für mich spielen, Judith?“

Sie senkte die Lider, ihr Lächeln wurde für einen Herzschlag wellig; noch nie hatte er ihren Vornamen verwendet. Doch schließlich leuchteten ihre Zähne erneut.

„Magst du mein Flötenspiel?“

„Ja, sehr.“

„Vor sieben Jahren wirst du es nicht geschätzt haben.“

„Nun, das waren andere Umstände. Ich musste meine Aufmerksamkeit auf Dokumente richten und konnte mich nicht ... mich ... nicht hingegeben ... ja ... “

„Und nun kannst du dich hingeben? Würdest dich hingeben?“

Sein Atem war plötzlich heiß.

Da erklang ein lautes Hüsteln von Louise. „Mademoiselle, lasst doch unseren Gast nicht derart lange warten. Er wünscht sich, Eure Musik zu hören. Im Kontor hat er nicht viel Muße. So gönnt es ihm wenigstens an diesem Tag.“

Judiths Züge nahmen eine wissende Nuance an, als hätte sie den Vorschlag ihrer Zofe bereits erwartet. So griff sie nach ihrer Flöte, um Jeremias in einen lichten Klangfluss zu tauchen. Jeremias bewunderte das feine Spiel ihrer wohlgeformten Finger, wünschte sich, dass er alleine mit ihr hätte sein können, dass sie nur für ihn spielte, umfangen von atmender Natur; dann würde das Flötenspiel, so himmlisch es war, nur ein Vorspiel sein auf eine weitaus größere Prachtentfaltung. In diesen Träumen konnte er sich nun treiben lassen und die Musik gab ihm einen Hauch von Hoffnung, dass diese sich einmal erfüllen könnten. Die Zweige der Hecke in Judith waren weich geworden und blühten. Als wollten Blätter und Äste endlich den Blick freimachen und warteten nur auf einen letzten Impuls. Jeremias wollte nicht hindurch stoßen; er wollte warten, bis sich das Gesträuch freiwillig vor ihm öffnete.

Er wusste nicht, wie lang er dem Flötenspiel lauschte; Zeit hatte ihre Festigkeit verloren. Plötzlich klopfte es an die Tür.

Louise sprang auf. „Gewiss Professor Dietrich. Ich gehe schnell öffnen.“

Kaum war sie entschwunden, erstarb das Flötenspiel und Jeremias benötigte einige Sekunden, sich in der klangtrockenen Welt wieder zurechtzufinden.

„Professor Dietrich ist mein Griechischlehrer“, sagte Judith. „Du kannst gerne bleiben, wenn du willst. Aber es wird sicherlich langweilig sein für dich. Man braucht eine Weile, bis man diese Sprache genießen kann. Ich habe schon drei Jahre lang jede Woche zweimal Unterricht und es fällt mir noch immer nicht ganz leicht.“

„Ich bleibe gerne noch.“

Es spielte für ihn keine Rolle, welcher Tätigkeit Judith sich gewidmet hätte — er wäre in jedem Fall geblieben. Die Pein des Abschieds würde früh genug kommen.

Louise kam mit einem rundlichen Herrn, dem ein langer weißer Schnauzbart über den Mund wehte, herein. Professor Dietrich machte eine umständliche Verbeugung vor seiner Schülerin, die aufstand und ihm die Hand reichte. Anschließend deutete sie auf ihren Gast.

„Dies ist Jeremias. Ich hoffe, es stört Euch nicht, wenn er bei unserer gemeinsamen Lektion zugegen ist.“

Der Professor betrachtete Jeremias ausdruckslos, schnaubte seinen langen Bart von sich und antwortete mit einer näselnden Stimme: „Solange er Euch nicht ablenkt, ist er mir willkommen. Besitzt er denn Kenntnisse der hellenischen Sprache?“

„Leider nein“, sagte Jeremias verlegen.

Der Professor ließ erneut seinen Bart flattern. „Wie dem auch sei. Es ist nicht jedem vergönnt. Ich kann Euch ja zumindest einmal das Alphabet vorführen.“

Die kleine Gesellschaft wechselte an ein Tischlein. Hier lagen bereits einige Bögen Papier. Professor Dietrich holte aus einem Regal ein dickes Buch hervor. Er trug es vorsichtig, als wäre es ein kleines Kind.

„Aristoteles. Wahrlich ein fabelhaftes Werk. Nicht nur von seiner Sprache her sehr lehrreich für Euch.“

„Leider bisher auch das einzige in meiner Bibliothek, das auf Griechisch ist“, sagte Judith.

„Nicht verzagen. Wir haben in ihm noch einige Seiten zu besprechen und mit der Zeit werden sich noch andere Folianten derselben Sprache in Euren Bestand verirren.“

Judith öffnete das Buch, sodass auch Jeremias hineinsehen konnte.

Dietrich stellte sich hinter seine Schülerin. „Beginnt ruhig noch einmal das Kapitel, bei dem wir letzte Woche Halt machten, Fräulein Brückfeld.“

Judith atmete tief durch die Nase ein und begann einige Sätze zu lesen, deren Klang Jeremias gefiel, die er jedoch nicht verstand. Anschließend übersetzte sie das Gelesene.

Professor Dietrich lobte: „Fräulein Brückfeld, ich beteure vor dem Herrgott, dass ich niemals zuvor eine begabtere Schülerin als Euch traf. Wie schnell Ihr diese überaus anspruchsvolle Thematik gemeistert habt — eine Hochachtung.“ Dennoch erteilte er ein paar Ratschläge bezüglich der Intonation.