Kerker aus Licht und Schatten

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

So ging es einige Zeit weiter, während welcher Jeremias nur stumm beobachtete. Die Buchstaben und deren Aussprache waren fremd für ihn. Lose Mosaikteile torkelten durch seinen Verstand; kein Bild ergab sich.

Nach einer Weile bat Judith Louise darum, ihr etwas zu trinken zu bringen.

Der Professor nickte zufrieden. „Vielleicht unterbrechen wir hier für eine kleine Pause.“

„Wolltet Ihr nicht vielleicht meinem Gast in der Zwischenzeit das Alphabet zeigen? Er muss schon die ganze Zeit über aushalten, während er nichts verstehen kann.“

„Oh ja ... ja, natürlich.“ Ein leises Seufzen entfuhr dem Gelehrten.

Jeremias Lippen kräuselten sich. Er schätzte keine arroganten Menschen.

Brüsk nahm der Professor eine Feder und schrieb die griechischen Buchstaben auf einem Bogen Papier nieder. Gleichzeitig ließ er den Namen des Buchstabens und dessen Aussprache verlauten. Er tat dies jedoch, da er diese Aufgabe offensichtlich unter seiner Würde empfand, in einer irrwitzigen Geschwindigkeit mit seiner näselnden Stimme. Hämisch zwinkerte er: „Konnte der junge Mann mir folgen und ist er nun des Alphabets mächtig?“ Ein hüstelndes Lachen erklang.

Jeremias formte ein Grinsen. Die Konzentration des Gelehrten hatte sich bereits seiner Schülerin zugewandt, die gerade ihre Kehle befeuchtete. Jeremias drehte den Bogen Papier um, sodass die von Dietrich gezeichneten Lettern nicht mehr zu sehen waren. Er führte die Feder auf das Papier und sagte laut: „Alpha, Beta, Gamma ... “

Die Köpfe Judiths und Dietrichs schwenkten verwundert herum. Jeremias zeichnete der Reihe nach das gesamte Alphabet auf. Geschwind war er damit fertig. Nichts war mehr zu hören. Alles erstorben.

Judith fasste sich als Erste: „Ich wusste nicht, dass man im Kontor der altgriechischen Lettern bedarf.“

„Das tun wir auch nicht“, sagte Jeremias. „Ich sah sie niemals zuvor.“

Dietrich schüttelte wild seinen Bart hin und her und räusperte sich. „Das ist unmöglich. Kein geschmackvoller Scherz von Eurer Seite.“

Die lächelnde Linie von Judiths Mund wirkte porös. Sie fuhr mit der Lektüre fort. Jeremias folgte dieses Mal den Worten und endlich merkte er, dass die Mosaiksteine eine Ordnung, eine Richtung annahmen. Sie fanden einzelne Sammlungspunkte, schwirrten um diese kleinen Zentren in immer dichteren Kreisen, bis sich Flächenteile auftaten, die wiederum zu einem ganzen Gemälde verwuchsen.

Der Unterricht wurde von dem Mittagessen unterbrochen, an dem Professor Dietrich gerne teilnahm. Als die drei zu dem Lehrzimmer zurückkehrten, studierte Jeremias einige Zeit das aufgeschlagene Buch. Gleich war Dietrich bei ihm und lupfte spöttisch die Brauen.

„Ja, so ein kompletter Text ist schon eindrucksvoll. Etwas anderes als nur einzelne Buchstaben. Es geht hier um den richtigen Kontext, die Betonung und ... “

Jeremias begann vorzulesen. Anfangs etwas unsicher, aber das Mosaik bekam immer mehr Gestalt und Farbe und Leben. Er versank dermaßen in der Lektüre, dass er die ungläubigen Reaktionen der anderen nicht bemerkte. Nach ein paar Seiten sah er auf und richtete an Professor Dietrich eine Frage, auf Altgriechisch. Doch der Schnurrbart des Gelehrten hing nur bewegungslos herunter. Judiths Wangen hatten eine fiebrige Färbung angenommen, die Gletscher in ihrem Antlitz waren starr.

Langsam vollbrachte der Professor es, sich zu rühren. „Meiner Treu, so etwas habe ich meinen Lebtag noch nicht erlebt. Ihr sprecht ja flüssiger als das Fräulein, geschwinder als überhaupt irgendjemand, den ich jemals traf.“

Jeremias’ Herz schlug ob des Lobes zunächst freudig, setzte dann jedoch aus. Er gewahrte mit einem Mal, dass Judiths Hecke dicht verschlossen war. Heißes Kribbeln waberte hinter seiner Stirn; er wandte sich mit einem Schmunzeln zu ihr um, doch eine Rettung war nicht mehr möglich. Zwei blaue Eisdolche stachen nach ihm und aus der Hecke sprossen lange Dornen. — Er hatte einen Fehler begangen. Was hatte er nur falsch gemacht? Die wundervollen Momente zuvor — alles verloren. Judiths Lippen waren zwei dünne Messerklingen.

Jeremias’ Halsschlagader pochte heftig, das Schlucken war eine Qual. „Ich ... ich ... mir ist eingefallen, dass ich im Kontor etwas zu erledigen habe. Vielleicht sollte ich gehen.“ Er hoffte so sehr, dass sie verneinte, dass sie ihn zum Bleiben überreden würde.

„Bien. Eine formidable Idee!“ Judiths Stimme zischte ihm entgegen.

Jeremias’ Hoffnung verwandelte sich in Übelkeit, die ihn zwang, sich auf seinem Stuhl zu krümmen. Ihr Blick quälte ihn weiter. Unendlich schwer waren seine Glieder, als er sich erhob.

„Judith, Madame, Professor … ich wünsche einen angenehmen Nachmittag.“

Keine Entgegnung.

Er hatte Angst, dass seine Stimme für einen weiteren Satz nicht mehr stetig genug wäre. Mit hängendem Haupt verließ er die Beletage und fand sich zerstört auf der Straße wieder — die Vertreibung aus dem Paradies. So müssen sich Adam und Eva gefühlt haben. Aber sie blieben wenigstens zusammen. Er war allein. Nicht Gott, sondern Eva hatte ihn verbannt. Ausgestoßen

Das Licht der Sonne erreichte ihn nicht mehr, bog sich um ihn herum und sperrte ihn in einen dunklen Fleck, der ihm überallhin folgte. Warum hatte Meister Brückfeld sein Treffen mit Judith überhaupt zugelassen? Hatte Brückfeld gewollt, dass Jeremias sich angesichts der Pracht der Beletage klein und gedemütigt vorkam? Hatte der Fettsack darauf gehofft, dass Judith sich von ihm abwandte, sobald sie ihn näher kennengelernt hatte?

Er schlich zurück ins Kontor. Hoffentlich fragte ihn niemand etwas, er wollte von keinem gesehen, von keinem wahrgenommen werden; nur auf den Platz niedersacken und sich in die Berge aus Dokumenten vertiefen.

Doch wiederum glitt sein Verstand zu Judith hin und vermochte es nicht, sich zu sammeln. Wie Teer klebte der Schmerz alles zusammen, brachte es zum Stocken.

„Ah, wieder da.“ Lössers Stimme peitschte in Jeremias’ Gehör.

Er richtete sich blitzartig auf. Die Miene des Oberbuchhalters war hart und unbeweglich.

„Früher als gedacht. Sehr gut. Es gibt eine Menge wegzuschaffen.“

„Sehr wohl, Herr Lösser!“

Der junge Mann seufzte und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Papiertürme. Er prügelte seinen Geist zu den Dokumenten, unterdrückte das Seelenjammern, sperrte es weg und langsam löste er sich aus dem klebrigen Pech; die Blätter sausten immer schneller unter seinen Fingern dahin. Der erste Stapel war bald abgearbeitet.

Er hielt inne: Er fühlte sich besser. Die Arbeit betrog ihn nicht, ein Schreiben war etwas Verlässliches; Tinte blieb gleich; Zahlen waren klar und Einnahmen befriedigten. Er entglitt in eine Welt des Handels, die sich auf dem Papier vor ihm auftat und nahm sie gerne entgegen. Er wollte Judith vergessen, wollte das Leiden in sich fortschließen, wollte seinen Frieden. — Hier fand er ihn. Die kühle Händlersprache, die kristallenen Summen linderten sein Verlangen.

Er nahm nicht wahr, wie die Sonne sank, wie Talglampen angezündet wurden, wie die Kollegen das Kontor verließen. Er bemerkte auch nicht, wie Herr Lösser ihn nachdenklich beobachtete, als es bereits nach Mitternacht war. Dies alles war ihm gleich. Er suchte Arbeit, brauchte Arbeit, begehrte Arbeit, um seine Gedanken darin zu ertränken. Er hatte Angst vor den Gedanken und hier konnte er ihnen entfliehen.

Die Nacht schritt dahin und mit ihr wurde sein Schreibtisch kahl. Er ging zu den Stapeln der anderen, nahm sie mit und fraß sie mit seiner Feder unter einem zittrigen Lampenlicht hinfort. Nur manchmal musste er innehalten, um den Docht der Talglampe zu stutzen, damit diese nicht rußte — Kerzen waren Lösser zu kostspielig. Jeremias gierte nach Papier und er fand es zuhauf.

Eine Hand senkte sich auf seine Schulter, er erschrak und eine kurze, lächerliche Hoffnung stach in ihm empor, aber es war nur Philipp, der ihn entsetzt ansah.

„Hast du die ganze Nacht hindurch gearbeitet?“

„Nacht? Es ist doch noch hell draußen“, sagte Jeremias.

„Ja, weil der nächste Tag begonnen hat. Du warst nicht zu Hause. Du bist die ganze Nacht hier gewesen.“

„So, na ja ... was soll’s. Kann ja gleich weitermachen.“

Er wandte sich um, machte eine Unterschrift, griff nach der nächsten Seite und fasste nur ins Leere: Alles im Kontor war von ihm weggearbeitet worden, alles verschlungen.

Seine Gedanken holten ihn ein. Er konnte nicht mehr fliehen, keinen verbergenden Schaffensnebel versprühen.

Philipp drang tiefer. „Es lief gestern nicht gut, oder?“

Jeremias’ Wimpern schlugen auf und ab. „Du musst dich meiner nicht schämen.“

„Das habe ich auch nicht befürchtet. Aber du hast dir mehr versprochen, als du gestern erfuhrst.“

Jeremias fuhr mit der Hand über seine Augen. Sie fühlten sich nicht müde an. Wie kam dies? Was zählte es jetzt? „Wir alle erwarten uns doch mehr, oder nicht?“, sagte Jeremias mit schmelzender Stimme. „Erst auf dem Sterbebett machen wir Kassensturz und sehen, ob sich unsere Investitionen ausgezahlt haben.“ Aber war seine Hoffnung nur aus einer verrückten Idee entstanden? Hatte er nicht Grund zu hoffen gehabt? Hatte er sich dermaßen geirrt?

„Jeremias, warum sagst du mir nicht, was passiert ... “

„Was ist das?“ Lössers Ton war beinahe hysterisch. Er machte ein paar Schritte in das Kontor hinein, japste, polierte seine Augengläser mit einem Tuch. „Es ist keine Arbeit mehr da. Das gibt es doch nicht.“ Er kontrollierte die von Jeremias bearbeiteten Seiten. Er durchblätterte alle Rechnungen und Dokumente, doch alles war in eiserner Perfektion abgearbeitet. Der Buchhalter wischte über seine Glatze.

Jeremias schmunzelte trüb. Sein Vorgesetzter konnte sich über zu viel geleistete Arbeit kaum aufregen, doch hatte er nun keine Beschäftigung mehr für die anderen. Aber nach Hause schicken? Das hätte sein Weltbild verspottet.

 

Jeremias erhob sich. „Hier drinnen bin ich erst einmal fertig. Es kommt heute eine neue Ladung vom Main her. Ich werde beim Verstauen helfen.“

Lösser schaute Philipp an, der nur mit den Schultern zuckte. Wortlos verließ Jeremias das Kontor.

Judith hatte den Griechischunterricht abgebrochen, nachdem Jeremias gegangen war; sie wollte einfach nur allein sein. Selbst ihre Zofe hatte sie weggeschickt. Stumm beobachtete sie durch das Fenster die Stadt.

Dieser verdammte Straßenjunge! Ihr Vater hatte recht behalten: Jeremias besaß keinen Anstand, keine Dankbarkeit und keine Manieren. So viel Mühe hatte es sie gekostet, ihrem Vater die Erlaubnis abzuringen Jeremias zu empfangen. Erst nach Stunden hatte ihr Vater gereizt eingewilligt. Wie hatte Jeremias sie nur derart bloßstellen können?

Er hatte sich ihre Gunst erschlichen, um ihr einen derartigen Stoß zu versetzen. Sie hatte ihn hineingelassen, hatte ihn exquisit speisen lassen und das sollte nun der Dank für alles gewesen sein?

Tränen fielen auf die Dielen neben ihre Füße, färbten das Holz mit ihrer salzigen Feuchtigkeit dunkel. „Wie konntest du es nur wagen? Wie konntest du mir das antun, du ... du ... “ Ihr Mund konnte das Wort zunächst nicht lautlich meißeln; vollbrachte es letztlich dennoch: „Du Gossenköter. Du widerlicher Emporkömmling.“ Sie schlug fest auf den Tisch vor ihr, vernahm den Schmerz ihrer Knöchel nicht und zerbrach in Schluchzen. Warum hatte sie diesen Unhold überhaupt eingelassen? Er hatte ihr das Leben gerettet. Na und? Hatte er dies wirklich selbstlos getan? Er hätte selbst von den Steinen erschlagen werden können. Wahrscheinlich stimmte, was ihr Vater sagte — die Steine wären nur neben ihr eingeschlagen. Er hätte mich nicht retten müssen. Nichts wäre geschehen.

Doch sie konnte sich nicht belügen. Sie entsann sich seiner Berührung. Hatte sie nicht für einen Moment etwas gefühlt, als sei sie an ihrem Ziel angekommen, als hätte sie das erhalten, wonach sie derart lange gestrebt hatte? Und als sich ihre Hände in ihrem Musizierzimmer berührt hatten? Er war ihr nahe gewesen wie noch niemand zuvor.

Aber wie konnte er sie auf diese Weise verletzen? Derart viel hatte er bei ihr damit verspielt. — Doch was hatte er Schlimmes getan? Ja, was war es? Er hatte nicht gesehen, dass er sie in fürchterliche Bedrängnis gebracht hatte. Sie trug die Bürde, das Haus Brückfeld zu repräsentieren. Diese hatte er erschwert. Konnte er das wissen? Er blickte doch sonst so tief. Warum hatte er dies nicht verstanden? Sie wollte doch nur zeigen, dass sie es wert war, den Namen Brückfeld zu tragen. Diese ganzen wunderbaren Vorfahren — Männer, die den Ruhm ihres Handelshauses begründet, welches weite Teile Europas überspannte und einen festen Platz in dieser Stadt besaß. Gewiss, es waren alles Männer gewesen, keine Taten einer Frau waren in den Chroniken ihrer Familie überliefert; nur den Männern war es vorbehalten, sich zu verewigen. Frauen durften nur die Männer gebären, die später einmal die Lorbeeren ernten würden. — Das war nicht gerecht. Ihre Hände verkrampften sich. Sie hatte diese Ungerechtigkeit stets gehasst. Hatte ihre Großmutter noch etwas zu bestimmen gehabt im Handelshaus, so war Judith dies heute verwehrt. Sie konnte sich nicht im Handel bewähren, nicht im Stadtrat mächtig werden, keinen Siegerlorbeer im Krieg ernten. Ihre Erziehung von klein auf bereitete sie nur auf die Rolle als Gattin vor. — Aber doch als die Gattin eines Edelmannes, eines Grafen, eines Herzogs. Sie würde hiermit das Prestige ihrer Familie mehren und so ebenfalls in die Annalen eingehen. Dies wäre ihr Verdienst. Aber wäre es wahrlich ein Verdienst, oder nur aus dem Umstand heraus entstanden, dass ihr Vater eine hohe Mitgift für sie zahlte? Hatte sie sich dies verdient?

Sie hatte all die Bildung angehäuft, um diesen Zweifel zerstreuen zu können. Wie viele Menschen in Frankfurt beherrschten die Sprachen wie sie, konnten fließend Französisch, Latein und bald auch Griechisch sprechen, kannten die Literatur, Musik und Kunst? Keine Handvoll. Niemanden hatte sie bisher kennengelernt, der ihren Grad erreicht hätte in solch jungen Jahren. Dies war ihr Reich gewesen. Keiner durfte hier mehr zu sagen haben. Also war es doch nur gerecht, wenn sie durch eine zukünftige Heirat erhöht, wenn sie aus dem Bürgertum in den Adel aufgenommen werden würde? Durch ihre Klugheit besäße sie etwas, was sie den Männern ebenbürtig werden ließe, ihr einen eigenen Platz in der Familiengeschichte sicherte.

Doch dann war er gekommen: Jeremias; hatte ihr gezeigt, dass sie geistig nicht alle überragte, wie sie glaubte. Der Zweitbeste war stets nur der erste Verlierer. Sie wollte nicht verlieren — sie wollte gewinnen. Aber sie hatte verloren; gegen ihn. Das konnte sie ihm nicht verzeihen. Gewiss hatte er zuvor bereits geübt gehabt, hatte auf eine solche Möglichkeit hingearbeitet, sie zu blamieren. Ihre Finger bohrten sich in ihre Wange. Ja, er hatte Griechisch bestimmt schon beherrscht. Niemand konnte derart schnell lernen. Niemand. Nicht einmal sie. Gewiss, dies musste es gewesen sein. Es konnte nicht anders sein, ja ...

Aber nach einigen Minuten schwand die Gewissheit: Nein, Jeremias hatte zuvor noch nie mit Griechisch zu tun gehabt. Sie hatte es gesehen. Es konnte nicht gespielt gewesen sein. Er hatte anfangs nichts verstanden. Aber wie war das möglich? Sie grübelte und zermarterte sich ihren Geist. Wie schwarzes Blut aus einer aufgekratzten Narbe sprang ihr ein Gedanke entgegen, welcher ihr Übelkeit bereitete: Womit war ihr Reichtum, ihr Ansehen, ihre hohe Stellung gerechtfertigt, wenn ein Waisenjunge ihre Fähigkeiten dermaßen schnell erreichte? Dieser Zweifel an der eigenen Rechtfertigung ließ sie schwitzen. Dieser Zweifel war derart fürchterlich. Ja, dies war der Grund, dafür hasste sie Jeremias, dass er ihr diese lange beiseitegeschobenen Gedanken wieder bewusst gemacht hatte!

Die folgenden Wochen über gab Jeremias sein Bestes, seine Erinnerungen und Gedanken zu verbergen. Selbst mit Philipp hatte er nicht darüber gesprochen, aber er wusste, dass der feinfühlige Niederländer nicht blind war. Er wollte Judith einfach aus seinem Kopf brennen, sie herausschneiden wie eine faule Stelle in einer Frucht, doch es gelang ihm nicht. Keine noch so harte Arbeit konnte ihn länger als ein paar Stunden vor ihr bewahren, stets bereitete sie ihm erneut Qualen. Wie sie seine Hand berührt, für ihn gespielt und ihn angeblickt hatte … Sollte er sich dies alles nur eingebildet haben? Das konnte doch nicht sein. Aber ich kann ohne sie leben. Wer braucht sie schon? Ein Mädchen! Zuvor haben mir die Röcke auch nicht gefehlt.

Es kostete ihn Mühe, vor sich zuzugeben, dass dies nun anders war. Er wollte nicht wahrhaben, wie sehr er sich nach Judith sehnte. Er hätte sein Gesicht so gern in ihren Kupferhaaren wie in erfrischendes Wasser versenkt. Die bloße Vorstellung belebte das Pochen zwischen seinen Beinen, das er nun fürchtete und nur zu gern völlig aus seinem Empfinden verbannt hätte.

Weniger sein Verstand als ein tierischer Instinkt trieb ihn noch einmal an die Pforte hin zum Paradies. Der Meister war außer Haus und Herr Lösser beschäftigt — die Gelegenheit schien günstig. Er stand vor der Tür und wollte anklopfen, da gewahrte er, wie viel es für ihn zu verlieren gab: Würde er nicht seine verwundbarste Stelle vor Judith ausbreiten, sich ihr ausliefern? Der Boden schwankte. Langsam hob er seine Hand zum Klopfen, es war, als hingen bleierne Armbänder daran. Noch konnte er zurückkehren, ohne dass etwas geschehen war. Noch hatte er dazu die Gelegenheit. Doch stimmte dies? Würde er sich nicht verfluchen für seine Feigheit? Bevor er es gewahrte, klopfte seine Hand bereits an …

Er hielt die Luft an. Alles still. War niemand zugegen? War sein Mut umsonst und verschwendet gewesen? Endlich leise Schritte, die sich näherten. Das Türschloss öffnete sich und vor Jeremias stand Louise.

„Was machst du hier?“

Allein der weiche Akzent der Zofe erinnerte Jeremias an den wunderbaren Garten hinter dieser Tür, in dem er für einige Stunden hatte wandeln dürfen.

„Ist Judith vielleicht zu sprechen?“

„Non, ist sie nicht!“ Eine Antwort wie ein Hieb.

Jeremias’ Zunge benetzte seine Lippen. Fassung bewahren.

„Könntet Ihr Judith eine Nachricht übermitteln?“

„Non, Mademoiselle will nichts von dir hören. Du solltest dies lieber beherzigen. Du hast hier nichts zu suchen.“

Jeremias’ Kopf sank herab. Er hatte von dieser Frau nichts zu erwarten. Sie war das Geschöpf ihrer Herrin und würde diese bis zum Letzten hüten.

Er schleppte sich zurück zur Straße. Er hatte es gewagt und alles verloren. Louises Schärfe hatte tief in sein Inneres geschnitten.

Erneut vergingen quälende Tage und Wochen, es war bereits Sommer geworden. Der Zufall kam Jeremias zu Hilfe: Er war auf dem Weg zum Kontor, als sich die Südtür des Hauses öffnete und Judith allein herauskam; sie hatte ihn noch nicht entdeckt.

Er konnte nicht anders und ging hin zu ihr. „Guten Tag, Judith. Ist es ... ist es Euch in den letzten Wochen wohlergangen?“

Die junge Frau war dermaßen geübt darin, in der Öffentlichkeit Haltung zu bewahren, dass man kaum ihr Zusammenzucken bemerkt hätte; Jeremias entging es nicht. Sie machte noch einige Schritte die kleine Treppe hinab, während sie nach Worten suchte.

„Oui. Bien, merci. Es ist mir gut ergangen.“ Sie drehte ihren Körper halb von ihm weg, als wollte sie an ihm vorbeigehen, verharrte jedoch in dieser verdrehten Stellung, in welcher ihre Füße von Jeremias weg zeigten, ihr Gesicht noch halb zu ihm wies.

Jeremias zwinkerte nervös. „Das ... das freut mich. Ich habe Euch nicht oft gesehen.“

„Bien sûr. Ich war die letzten Wochen oft bei befreundeten Familien.“

„Oh ja, natürlich. Sicher.“

„Und deine Arbeit im Kontor?“

„Oh, alles bestens. Ja ... alles in bester Ordnung.“

„Schön. Da müssen wir uns nicht um den Handel sorgen.“

„Oh, nein, nein. Wirklich nicht.“

Jeremias verlagerte das Gewicht von dem einen auf den anderen Fuß. Judiths Augen sprühten ihn an. Er hoffte, dass er nicht errötete. Es war ihm plötzlich derart heiß, dass er nur mit Mühe widerstand, sein Hemd zu lockern.

Ihr Ausdruck verhärtete sich noch mehr. „Nun, ist noch etwas?“

„Äh, nun, äh, ich ... “ Verdammt! Halte deine Hände ruhig! Schau’ sie direkt an — nicht wie damals zu Boden. Diesmal nicht! Einige marternde Herzschläge später brachte er die Worte zusammen: „Da du bereits das Haus verlassen hast, wollte ich dich fragen, ob du es mir erlaubst, dich auf einem kleinen Spaziergang zu geleiten?“

„Oh non, merci beaucoup.“

„Wir könnten ein wenig Französisch miteinander sprechen. Es wäre eine Freude für mich, ein wenig mit dir zu üben.“

„Ich bedaure. Ein andermal gerne, aber für heute kehre ich wieder ins Haus zurück.“

„Aber warum denn?“

„Ähm, wegen des ... Regens, ja, es könnte gleich anfangen zu regnen.“

Jeremias prüfte verwundert den Himmel. „Regen? Aber es ist doch warm und es sind nur wenige Wolken zu sehen.“

„Es ist sehr schwül heute und da kann es leicht einmal regnen. Ich glaube, dass es heute noch regnen wird.“

„Dann dürftest du niemals auf die Straße gehen.“

„Sehr amüsant! Heute erscheint es mir gefährlicher als sonst. Meinen Kleidern wäre es alles andere als zuträglich. Ich kann es mir nicht leisten, durchnässt und entwürdigt durch die Gassen zu taumeln wie eine Bäuerin.“

„Aber wenn ich bei dir wäre, könnte ich dir gute Unterstände zeigen, wo es sicher und trocken wäre. Dort könnten wir abwarten, bis der Regen vorüber ist.“

Nun betrachtete sie ihn nur noch aus den Augenwinkeln, während sie den Hauptteil ihrer Aufmerksamkeit in die Ferne zu wenden schien.

„Vielleicht würden mir deine Unterschlüpfe nicht zusagen. Vielleicht wären sie inconfortable, gar schmutzig.“

„Ich kenne einige gute Tavernen und habe Freunde. Da würden wir etwas Gemütliches finden.“

Judith zischte zwischen den Schneidezähnen hindurch: „Wäre es passend für mich? Würde ich mich wohlfühlen?“

„Ich würde alles mir Mögliche unternehmen, damit es dir gut erginge. Ich verspreche es.“ Jeremias hatte Mühe, dass sich seine Stimme nicht überschlug.

Die junge Frau nestelte an ihren Seidenhandschuhen. „Und was würden wir die ganze Zeit über machen? Regentropfen zählen?“

 

„Wir könnten uns unterhalten.“

„Was ist, wenn wir kein passendes Thema finden? Wenn wir uns nichts zu sagen haben?“

„Aber warum sollte dies geschehen? Wir haben doch ... einiges gemeinsam.“

„Was sollte dies bitte sein?“

„Wir beide mögen Musik, sprechen gerne Französisch und ... “

Nun deuteten ihre Kristallaugen gänzlich von ihm weg. „Meinst du wirklich, dass dies ausreicht? Dass uns dies, bei allem was uns trennt, die ganze Zeit über zusammenhielte, bis der Regen überstanden wäre, ja?“

„Aber Judith, das letzte Mal hast du doch ... “

„Ich kann mich nicht entsinnen, dass ich es dir einmal anbot, mich bei meinem Vornamen zu nennen. Es ziemte sich eher für dich, wenn du mich mit Fräulein oder Mademoiselle Brückfeld ansprächest. Befleißige dich bitte dieser Etikette. Oder hast du in deiner Zeit im Kontor meines Vaters überhaupt nichts gelernt?“ Ihre Seelenhecke starrte vor Dornen, erstickte jedwede Sicht.

Jeremias fand keine Worte mehr. Als sich Judith wieder zu ihm wandte, stand nur noch ein geprügelter Kadaver vor ihr.

„Merci für dein Angebot“, sagte sie. „Ich werde nun lieber wieder in das Haus meines Vaters zurückkehren. Dort bin ich vor jedweder Unbill gefeit. Adieu!“ Ohne sich noch einmal umzuwenden, ließ sie ihn zurück und verschwand hinter der Eingangstür.

Jeremias kämpfte darum, seinen Geist aus den Trümmern seiner Empfindungen zu schälen, ihn in den Griff zu bekommen und einen klaren Gedanken zu formen. Schwindel umbrandete ihn, sodass er sich mit einer Hand an einer Hauswand abstützen musste. Er schleppte sich in eine schattige Ecke, in welcher ihn niemand sah, und sackte zu Boden. Seine Hände bedeckten sein Gesicht, vermochten jedoch nicht sein Schluchzen zum Verstummen zu bringen. Er war einsam wie nie zuvor in seinem Leben; er wollte nur zu Judith. Wenn er nur ein kleines Lächeln von ihr bekommen hätte — er wäre der glücklichste Mensch gewesen; aber nichts hatte sie für ihn übrig. Nur Verachtung. Doch warum? Warum hasste sie ihn dermaßen? Warum hatte er die Zuneigung, die sie ihm doch einmal offenbart hatte, verloren? Schwärze fraß sich in seine Eingeweide, kaute an ihnen und ließ seine Magensäfte bis zum Gaumen brodeln.

Er blieb dort im Verborgenen über Stunden sitzen, unfähig sich zu rühren.

Wie konnte es sein, dass diese Frau, kaum mehr als ein Mädchen, eine solche Macht über ihn ausübte? Er hatte stets nur gelacht über Geschichten von Männern, die ihren Verstand, ihren Besitz und gar die Seele ihrem Verlangen nach einer Frau geopfert hatten. — Nun konnte er nicht mehr lachen; nie wieder. Das Licht in ihm war erloschen.

Als der Abend in die Nacht mündete, konnte er genug Kraft in seinen Beinen sammeln, dass sie ihn nach Hause trugen. Doch versagte seine Stimme, als ein besorgter Philipp ihn ansprach. Dies war genug für den Älteren, er wusste, was in seinem Schützling vorging und wie machtlos er war.

Die Sonne dieses Sommers war nicht hell und warm genug, um Jeremias’ Gemüt auch nur annähernd aufzuheitern. Die Tage türmten sich zu einer unerträglichen Ödnis auf, die ihn unter sich zu begraben drohte.

Buchhalter Lösser beäugte Jeremias kritisch, der vor seinem Schreibpult eher kauerte als saß. Doch er sagte nichts, weder Schelte noch Zuspruch. — Nichts.

Zwar konnte Jeremias mit Philipp einige günstige Geschäftsabschlüsse tätigen, aber dies war ihm nicht wichtig und auch in dem Handelshaus Brückfeld gab es aufregendere Neuigkeiten. Ein Abkommen mit venezianischen Händlern war geschlossen worden. Große Mengen an Gewürzen sollten nach Frankfurt geliefert werden. Kunden für diese Spezereien hatte man schon. Riesige Gewinne lockten.

Der Juli war bereits fortgeschritten, als Meister Brückfeld seinen Untergebenen in der großen Versammlungshalle eröffnete: „Heute ist ein besonderer Tag, und diesen wollte ich mit euch zusammen begehen. Meine kleine Tochter Judith ist zur Frau herangewachsen und feiert heute ihren achtzehnten Geburtstag. Komme nur herein, mein Liebling.“

Brückfelds Stimme war kaum verklungen, als sich im Hintergrund die private Pforte öffnete und Judith erschien. So stand ihre stolze Figur erneut vor Jeremias. Seine Bauchdecke verkrampfte sich schmerzhaft. Die junge Frau ging strahlend zu ihrem Vater, der sich ächzend von seinem Sitz erhob und sie umarmte.

Schließlich griff der Meister in seine Manteltasche und verkündete: „Es hat mich viel Zeit gekostet etwas zu finden, was der Schönheit und Pracht meiner Tochter, meinem einzigen Kind, würdig wäre. Aber schließlich, denke ich, ist es mir einigermaßen geglückt.“ Die Specklippen bogen sich nach oben.

Brückfeld zog ein gleißendes Collier hervor. Unzählige Edelsteine schmückten das kunstvolle Kleinod, das der feiste Großkaufmann seiner Tochter ungeschickt um den Hals legte. Die Zuschauer klatschten. Vater und Tochter drehten sich gefällig zu der Menge und nahmen die Huldigung entgegen.

Judith musterte der Reihe nach die Untergebenen ihres Vaters; nur Jeremias überging sie, als wäre er ein unansehnliches Möbelstück. Er jedoch betrachtete das wertvolle Halsband. Er schnaubte verächtlich. Solch eine protzige Preziose. Dies passte zu Brückfeld: kein Geschmack und kein Esprit. Was für ein unwürdiges Geschenk für eine Frau wie Judith — lächerlich. Er selbst wüsste etwas, das Judith sich wahrlich wünschte; etwas, das tief in ihrem Inneren eine gewaltige Wirkung entfesseln würde. So wie sie ihren Vater angelächelt hatte, so sollte sie ihn, Jeremias, ebenfalls anstrahlen. Er würde es sich verdienen — ihr Lächeln.

Er eilte ins Stadtinnere. Sein Ziel war ein griechisches Buch. Damit würde er das Amulett ausstechen. Doch er hatte sich dies zu leicht vorgestellt. Bücher in dieser Sprache waren selten oder derart teuer, dass er ein Greis gewesen wäre, bis er das Geld für eines zusammengehabt hätte. Ärger brodelte unter seiner Enttäuschung. Erneut scheiterte es an seinem Stand. Für Brückfeld wäre es gewiss keine Schwierigkeit gewesen, dieses Buch zu erwerben, aber für ihn — unerreichbar. Das hatte der Meister geschickt angestellt: Durch den niedrigen Lohn hielt er Jeremias auch in dieser Situation am Boden.

Jeremias schlich einige Zeit ohne Ziel durch die engen Gassen der Stadt, ohne seiner Umgebung Aufmerksamkeit zu schenken. Er kam sich beschämt und wertlos vor. Doch plötzlich ließ ihn etwas aufmerken. Hatte er etwas gehört? Nein, der Lärm ringsum war zu laut. Er hatte etwas gespürt: Angst und Schmerzen. So schaute er sich um und gewahrte, dass in einiger Entfernung ein bulliger Kerl auf einen alten Mann eintrat, der vor ihm im Straßendreck lag. Warum half niemand dem alten Herrn, der von diesem Unhold misshandelt wurde? Jeremias fühlte mehr, als er durch die Menschenmassen erkennen konnte, wie der Alte vor Schmerzen stöhnte, sich vergeblich schützen wollte: blutige Lippen, Rippen gebrochen, zu schwach, um fortzukriechen, Gelächter ... Der am Boden Liegende erflehte Beistand — vergeblich. Diese Not stach in Jeremias’ Seele, als erlitte er sie selbst. Er wischte sich die verschwitzten Haare aus der Stirn, sein Schritt beschleunigte und seine Arme schossen hervor, sodass sie den überraschten Schläger zu Boden schleuderten. Der kräftige Mann wälzte sich fluchend auf der Erde. Jeremias musterte ihn. An was erinnerten ihn die farbenfrohen Kleider dieses Rohlings? Es fiel ihm nicht ein, spielte in diesem Augenblick keine Rolle.

Er half dem Verletzen auf. Der Alte hatte Mühe Luft zu holen und zog eine Grimasse des Schmerzes. Er wandte sich Jeremias dankbar zu. Auf einmal jedoch weiteten sich seine Augen: Sein Peiniger war wieder auf den Beinen.

Der wütende Mann schnaubte zu Jeremias: „Was hast du dich einzumischen? Warum halfst du ihm?“

Jeremias erhob sich zu seiner vollen Größe. „Was tat er dir, dass du dich so über ihn hermachst?“