Er, Sie und Es

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  • Žanr: UlmeMuuda
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7Malkah
Unter keinem Mond

Was ihm erschien, steckt dem Maharal im Fleisch wie ein Speer. Weder kann er sich dazu durchringen, es auszuführen, noch kann er sich gestatten, davon abzulassen. Ist es ungezügelter Ehrgeiz? Unaufhörlich prüft er sich selbst. Die Erschaffung eines Golems gilt als Meisterwerk eines wahren Adepten der Kabbala. Fürchtet er zu versagen? Hat er Angst um sich selbst bei diesem äußersten Versuch, die Macht des Wortes im Schöpfungsvorgang zu zügeln? Hat er Angst vor dem Misslingen oder hat er Angst vor dem Gelingen? Er ist ein Mann des Friedens gewesen, ein Rabbi, ein Lehrer, ein Weiser, dessen Einfluss durch die Macht des Gesetzes wirkt, durch die Kraft des Geistes, durch das Charisma eines starken Charakters. Der Gedanke an die Herstellung einer Waffe schließt deren Anwendung ein. Er ist auf halbem Wege, eine Kraft zu erschaffen, die der Gewalt fähig ist. Ist das nicht eine Abkehr von den Werten, nach denen er gelebt hat – Studium und Gebet und gute Werke?

Er überlegt, an wen er sich wenden kann. Seine Frau? Die rebezn Perl ist vier Jahre älter als ihr Mann und weise auf völlig andere Art: Sie hat über die Jahre gelernt, wie einen Haushalt von Hoffnung bestreiten, wie aus Wenigem Feste bereiten, wie Geld verstecken vor einem Mann, der den letzten Heller hergibt, wie vermitteln zwischen Judah und seinen Kindern, die heiliger zu sein haben, als ihnen lieb ist. Judah und Perl waren zehn Jahre lang verlobt, bevor der Rabbi Geld genug hatte, um sie zu heiraten. Ihr eigener Vater verlor all sein Geld (es war nie beträchtlich außer in seinen Erinnerungen), als sein Geschäft zusammenbrach. Sie wartete die ganze Zeit, betrieb eine Bäckerei und sparte auf den Tag, an dem sie endlich als Mann und Frau zusammenkamen.

Als sie dreißig war und er sechsundzwanzig, heirateten sie schließlich. Perl gebar sechs Töchter und einen Sohn, dies waren die Kinder, die das Säuglingsalter überlebten. Sie fing spät an und sie hörte spät auf. Sie trug ihre letzte Tochter, als sie zweiundfünfzig und ihre älteste Tochter ebenfalls schwanger war.

Zu sagen, dass Perl Judah verehrt, wäre wahr; zu sagen, dass sie ihn anbetet, nicht. Sie ist vielleicht der einzige Mensch, der Judah gut kennt, aber sein Temperament nicht fürchtet, denn sie hat ein eigenes. Sie ist gewohnt, Befehle zu erteilen, eine Bäckerei zu leiten, sich um alles zu kümmern, um Kleinigkeiten und Pfennige. Sie ist eine große Frau mit einem immer noch hübschen, rotbackigen Gesicht. In mittleren Jahren war sie saftik, doch das Alter hat an ihr geschnitzt, so dass ihre Knochen jetzt mehr ins Auge treten als ihr Fleisch. Sie hat kräftige Hände, groß genug, um die schlanken, wohl gestalteten Hände Judahs zu umschließen. Ihr Pelz weißer Haare ist stets zu kleinen Löckchen geschoren, wie Lammfell unter der hennaroten Perücke, die sie als züchtiges Eheweib trägt, um mit ihrem Haar nicht die Engel in Versuchung zu führen.

Alle Töchter heirateten, zwei von ihnen denselben Itzak Cohen, denn nachdem seine junge Braut Leah an Lungenentzündung starb, zu der sich eine harmlose Erkältung ausgewachsen hatte, heiratete er die nächste Schwester, Vogele. Drei ihrer eigenen Kinder hat Perl überlebt, zwei Töchter und ihren einzigen Sohn; die anderen will sie nicht überleben. Lass sie mich begraben und nicht umgekehrt, betet sie zum Ewigen. Sie betet in Jiddisch, denn wie die meisten Frauen hat sie nie Hebräisch gelernt.

Judah weiß, was sie ihm raten würde. Vergiss diesen Unsinn. Pass auf deine Enkelkinder auf, die zu schnell heranwachsen, pass auf deine Gemeinde auf, denn es gibt zwei ehebrecherische Paare, von denen ich jetzt schon weiß. Nein, Perl würde über solch ein gefährliches Experiment schimpfen.

Chava würde verstehen, aber es scheint nicht angemessen, die eigene Enkeltochter zu Rate zu ziehen. Im Jahr zuvor kehrte Itzaks Tochter Chava zurück, um bei ihnen zu leben. Chava hatte jung geheiratet und war jung verwitwet. Sie ist zufrieden, die Witwe Bachrach zu sein.

Chava ist anziehend und gebildet und hat immer Freier. Perl hat keine Eile, Chava wieder verheiratet zu sehen, denn Chava ist ihr eine große Hilfe. Perl wird immer langsamer vor Arthritis. Sie möchte nicht allein zu Haus gelassen werden mit dem Maharal, der, wie er selbst weiß, einer Frau ein schlechter Gesellschafter ist. Chava arbeitet als Hebamme im Ghetto und sie hat die Pflichten ihres Vaters Itzak als Sekretär des Maharal übernommen.

Auch der Maharal verspürt keine Eile, ihr einen zweiten Ehemann zu suchen, obwohl er mit jedem Mitglied seiner Gemeinde hart ins Gericht gegangen wäre, das sich so verhalten hätte, wie er es tut. Er hat es oft bemerkt und glaubt es immer noch: Chava ist sein aufgewecktestes Kind. Sie hat die Triebfedern, die seinem eigenen Sohn fehlten. Wie hat er versucht, Bezalel voranzutreiben, den Verstand seines Sohnes zu bilden, damit er seinen eigenen überträfe. Er hat ihn zu hart angetrieben. Er hat seinen Sohn vertrieben. Jetzt ist Bezalel tot und es gibt kein zweites Mal.

Er selber hat Chava Hebräisch gelehrt und sogar Aramäisch, wie einen Sohn. Sie hilft ihm bei seinen Forschungen, sie schreibt seine Predigten und seine Werke für ihn ins Reine in ihrer schönen hebräischen Handschrift und sie überwacht den Druck seiner Bücher bei Gersonides, der hebräischen Buchdruckerei von Prag. Nein, er will sie nicht verlieren an irgend so einen Tölpel von Ehemann, der sie durch eine Kindsgeburt nach der anderen auslaugt. Natürlich muss sie noch mehr Kinder gebären neben dem Sohn, den die Schwiegereltern hüten; sie muss fruchtbar sein und sich mehren, mit dem richtigen Ehemann. Auch Perl heiratete erst, als sie dreißig war, und gebar das erste Kind, als sie einunddreißig war, und sie ist gesund und kräftig bis auf den heutigen Tag, bis auf ein wenig Arthritis letztens. Viel Zeit.

Chava für ihr Teil zeigt wenig Interesse an jungen Männern, sogar den frommen, die der Maharal kurz für sie in Betracht zieht. Sie arbeitet gern als Hebamme und verdient sich ihren eigenen Lebensunterhalt. Judah hat sie zu Perl sagen hören, ich habe Tag und Nacht mit Neugeborenen zu tun. Alle Neugeborenen hier sind meine. Meine Familie ist jetzt schon riesengroß. Warum vermutet er, dass Chava in der Erschaffung des Golems – angenommen, er wagte sich wirklich daran – einen Übergriff nicht nur auf die Macht des Ewigen sehen wird, sondern auch auf die Macht der Frauen zu gebären, Leben zu spenden? Nein, etwas so Heiliges mit einer Frau besprechen, er kann es nicht.

Der Maharal und seine Familie wohnen im ersten Stock, die dritte Tochter, Jentel, mit Mann und Kindern über ihnen, und unten Samuel, ein Schneider, der auch mit getragenen Kleidungsstücken handelt. Das zweistöckige Haus hat eine Toreinfahrt, die zum Hof führt und einem weiteren Haus, wie im Ghetto eben alles zusammengequetscht ist, auf jedem freien Fleckchen, schmale Häuser, die sich zum Himmel recken wie von Lichtmangel halb verhungerte Schösslinge. Im Hof wohnt der Astronom und Historiker David Gans, in dem schmalen Haus seines Bruders. Vom Fenster ihrer guten Stube kann Perl über die wenigen Fußbreit zwischen den Gebäuden hinweg sprechen. »Komm und teile unser geringes Abendbrot, Davidl.« Sie redet ihn wie einen Sohn an, obwohl er in den Fünfzigern ist; er wirkt jünger, denn er ist behände und neugierig.

David ist blitzgescheit, aber nüchtern und jedem Streit abhold. Er hat moderne Ideen über die Astronomie. Er ist willkommen in dem Observatorium, das Tycho Brahe unter Rudolfs Schirmherrschaft erbaute, das beste und präziseste Observatorium in ganz Europa. Sein Werk, neue Entdeckungen in der Geografie dem Volk bekannt zu machen, schließt einige der vortrefflichsten Karten ein, die von der Neuen Welt gefertigt werden. Aber David Gans ist kein Kabbalist. Geistesdingen gegenüber ist er scheu. Er liebt es, Ideen zu erörtern, aber solche, die sich mit der für ihn realen Welt beschäftigen, der Welt der Materie.

Soll Judah seinen Schwiegersohn und früheren Sekretär zu Rate ziehen, Itzak Cohen? Itzak ist ein guter Mann, ein gescheiter Mann, aber er folgt der Führung des Maharal. Die Antwort, um die er sich bemühen wird – würde ihm die Fragestellung vorgelegt –, wird die sein, die der Maharal von ihm hören möchte. Er ist Judah doppelt kostbar, weil er zuerst Leah heiratete, dann, nach ihrem Tod, Vogele, und weil er der Vater von Chava ist, Judah von allen am teuersten, aber Itzaks Meinungen einholen heißt, in einen wässerigen Spiegel schauen.

Itzak Cohen ist Anfang fünfzig, sein Bart buschig und weiß. Draußen in der Welt ist er ein berühmter Gelehrter, ein Mann, dessen Rat gesucht wird, der als weise gilt und auch als klug in Geschäftsdingen, ein seltenes Zusammentreffen. Sobald er mit dem Maharal ist, überkommt ihn jedoch die ehrfürchtige Scheu vor seinem Lehrer. Seine Stimme wird etwas höher. Er scheint kleiner. Er wird wieder zum Knaben.

Vielleicht hätte er die Rolle des Ersatzsohnes füllen können, wäre sein eigener Vater weniger stark in Erscheinung getreten. Mit seinem leiblichen Vater ist Itzak fest, großzügig, versöhnlich; er vertritt Vaterstelle an seinem eigenen, glücklosen Erzeuger, gewährt ihm in seinem Hause Obdach. Der ältere Cohen ist der geborene Lackmeier, den ein Schwindler nach dem anderen schröpft.

Was ist mit Judahs begabtestem Schüler, Jakov Sassun ha-Levi? Jakov ist zwanzig Jahre jünger als Itzak; er erhellt des Rabbis alte Tage mit seinem hervorragenden Verstand. Er ist undiszipliniert; in ihm erkennt der Maharal seine eigene Liebe zu Wortschlachten. Judah sucht dieses Feuer zu läutern mit Weisheit und Urteilskraft. Nein, Jakov würde auf der Stelle einen Golem machen wollen, einfach weil es gefährlich ist und am Rande der Blasphemie. Er hat immer noch ganz stark das Bedürfnis, sich zu beweisen, dieser Jakov Sassun.

 

Jakov Sassun ist ein schlanker, lederner, hochgewachsener Mann, seit kurzem Witwer. Er ist mit drei Kindern zurückgeblieben, alles Söhne, und schaut sich nach einer Frau um. Er hat schon sein Interesse an Chava bekundet, die ihn höflich, aber deutlich zurückwies. Jakov ist hartnäckig, überzeugt, dass er sie überreden kann. Ihm liegt mehr daran, in die Familie des Maharal zu heiraten, als ihm daran liegt, Chava zu heiraten, aber sie ist anziehend und gescheit. Jakov lahmt ein wenig, von einer Straßenschlägerei mit Christenraufbolden in seiner Jugend. Er hat eine schöne, kräftige tiefe Stimme und er singt oft in geselliger Runde, nicht nur religiöse Lieder, auch jiddische Lieder über wundertätige Rabbis und liebeskranke junge Leute und Heiraten und Todesfälle. Musik verzückt ihn, bis die Augen in seinem langen, hageren Gesicht leuchten. Judah hat ihn gern, wäre nicht allzu abgeneigt, wenn Chavas Wahl auf ihn fiele, doch Jakovs Urteilsvermögen muss erst noch geläutert werden, durch Erfahrung und mehr Weisheit.

Jakov wohnt nicht weit, im Haus von Chaim dem Silberschmied, der zu einigem Wohlstand gelangt ist und der für die Altneuschul eine wunderschöne silberne Krone für die Torarolle macht, zu Rosch Haschana soll sie fertig sein. Sie ist ein Geschenk von ihm. Etliche Synagogen haben schon Waschbecken und Kandelaber, die Chaim gemacht hat, aber sie wurden von reichen Spendern wie Mordechai Maisl bezahlt. Dies ist das erste Mal, dass Chaim meint, solch einen Beitrag selbst leisten zu können, aus seiner eigenen Werkstatt und seiner eigenen Tasche. Der Maharal hat mit Chaim mehrere Nächte über der Ausgestaltung der Krone zugebracht. Auf das Silber soll eine Methode angewandt werden, wie sie oft in kalligrafischen Zeichnungen benutzt wird: Viele winzige hebräische Buchstaben werden zu Gegenständen wie Blüten und Blättern zusammengesetzt.

Die Ereignisse entscheiden für Judah. Was ihn zu einem Entschluss bringt, ist die Verhaftung von Chaim dem Silberschmied. Er wird beschuldigt, gemeinsame Sache mit den Türken gemacht und militärische Geheimnisse weitergegeben zu haben, aber er ist in Schwierigkeiten, weil er in aller Stille begonnen hat, feine Kandelaber und Kultgegenstände von eigenständiger und eindrucksvoller Gestalt anzufertigen, eine Konkurrenz für die christlichen Silberschmiede. Er wird im Gefängnis gefoltert und kein noch so hohes Bestechungsgeld von Seiten seiner Frau oder seiner Familie scheint seine Freilassung bewirken oder ihm wenigstens den Tod ersparen zu können. Der Maharal geht zu Fuß ins Rathaus, zum Statthalter des Kaisers. Er sucht Pater Jiri auf, mit dem er vorsichtig verkehrt. Alle Fürbitten prallen gegen eine Wand aus Eisen.

Die Ergreifung des Silberschmieds aufgrund einer so herbeigesuchten Beschuldigung ist dem Maharal eine deutliche Warnung, dass er das Wetterleuchten richtig liest und sich ein Blutsturm zusammenbraut. Am Tage, an dem Büttel mit Pikenieren ins Ghetto kommen, um die Besitztümer des Silberschmieds zu beschlagnahmen und seine Familie auf die Straße zu setzen, bittet der Maharal Itzak und Jakov, zu ihm zu kommen, leise, unauffällig und ohne jemandem davon zu sagen. »Beginnt zu fasten. Geht heute Abend in die Bäder und reinigt euch. Dann kommt um Mitternacht zur Altneuschul. Ich werde dort sein.« Es ist Rosch Chodesch, Neumond.

Er hat beschlossen, nur Itzak und Jakov mitzunehmen. Er dachte daran, auch David aufzufordern, verwarf es aber rasch. David würde unablässig Fragen stellen und Notizen machen wollen. Ferner befürchtet der Maharal, dass David sich schwertun würde, das nächtliche Unterfangen nicht als Physikexperiment zu betrachten, und auch kaum davon abzuhalten wäre, eine ausführliche Niederschrift nebst dazugehörigen Erklärungen anzufertigen. Nein, nur Itzak und Jakov dürfen ihn begleiten.

Um Mitternacht steht er im Tor zur Altneuschul, wo ich selber gestanden habe, wenn auch nie um Mitternacht. Sie ist ein kleines, aber kraftvolles gotisches Bauwerk, dessen Stirnmauer wie eine ausgezackte Menora gestaltet ist. Europas älteste Synagoge, an Pomp und Prunk das Gegenteil einer Kathedrale, ist klein, schmächtig und doch von ergreifender, schlichter Erhabenheit. Willst du sie betreten, steigst du hinab, und dann erheben sich deine Augen zu den schmalen Fensterschlitzen in den hohen weißen Wänden. Aus der Altneuschul holt der Rabbi eine Tora, wickelt sie sorgfältig in einen Überwurf ein und dann in einen noch größeren darüber, gegen den feuchten Märzwind, der zwischen den Häusern hindurchglitscht, die krummen schmutzigen Gassen entlang, und sich dann auf dem Friedhof jenseits der Synagoge entfaltet. Der Maharal führt seine Helfer auf den Friedhof, er sieht sie beklommene Blicke tauschen. Was macht er mitten in der Nacht auf dem Friedhof? Hat ein Dybbuk einen der ihren besessen oder erhebt sich ein Gespenst wegen irgendeiner Ungehörigkeit bei der Grablegung?

»Jeder nehme eine Schaufel.« Er öffnet den kleinen Schuppen des Friedhofsdieners. Jede Nacht werden in Prag die Pforten des Ghettos verschlossen, die Juden sind für die Nacht eingesperrt, die Christen angeblich ausgesperrt: gerade so, wie wir uns hinter unseren elektronischen Mauern verbergen, unseren Überwachungsgeräten, unseren Amateuraufpassern, um zu überleben. Aber eine Mauer kann überklettert oder untertunnelt werden, oder ein paar strategische Steine können leise gelockert werden. Der Maharal kennt jeden Ziegelstein des Ghettos. Es ist ein enges Beieinanderleben, jeder riecht, was andere zu Abend essen, und hört, worüber andere streiten. Privatleben, Intimsphäre, soll das ein Witz sein? In Prag auf dem jüdischen Friedhof sind sogar die Toten zusammengepfercht, übereinander begraben, die Steine wild nebeneinandergezwängt wie schiefe Zähne. Die Toten können nicht umgebettet werden, das würde die nötige Ehrerbietung vermissen lassen, aber den Juden ist nicht erlaubt, ihre Toten außerhalb des Ghettos zu begraben. Deshalb wird regelmäßig eine frische Erdschicht über die Gräber geschüttet, die Grabsteine werden zur neuen Oberfläche hochgeholt, ein frisches Grab wird ausgehoben und ein weiterer Grabstein der Menge hinzugefügt, es geht zu wie in den U-Bahnen, wenn sie nach Arbeitsschluss die Konzern-Enklaven verlassen.

Der Maharal geht voran, mit der Tora und einer Blendlaterne. Dahinter trabt Itzak, klein und untersetzt, sein weißer Bart hebt sich leuchtend von seinem dunklen Überwurf ab, und zu seiner Linken Jakov, hochgewachsen wie der Maharal, hager, auf einen seiner leicht hinkenden Schritte kommen zwei von Itzak, beide mit Schaufeln über den Schultern wie Pikeniere, die in die Schlacht marschieren, und Jakov trägt dazu einen großen, aber leichten Holzrahmen, den ihm der Maharal gegeben hat.

Sie sind verängstigt, aber sie vertrauen ihm und sie gehorchen ihm. Am Ende der Weidenstraße, in der nicht ein Baum wächst, aber wo der Überlieferung nach einst ein Bach floss, der sich immer noch durch die Keller schlängelt, kennt Judah eine schwache Stelle in der Ghettomauer. Der gleiche Bach, der sich wie ein Gespenst durch die Erde des Ghettos stiehlt, fließt hier hinaus zur Moldau. Hier kann man im Schutze der Dunkelheit aus dem Ghetto kriechen. Schweigend huschen sie durch die verbotenen Christenstraßen, hin zu offenem Gelände.

In den Wäldern am Ufer des Flusses ist die Nacht kalt und klamm, ohne Licht außer dem der Blendlaterne mit ihrem schwachen Schein, und der Fluss dahinter murmelt über seine Steine wie schwarze changierende Seide. Das Laub hat noch nicht einmal begonnen, die Knospen zu sprengen. Die kahlen Winterzweige reiben aneinander im kühlen Wind. Von fern ruft eine Eule auf der Jagd.

Sie machen sich daran, Lehm aus dem Flussufer zu graben, während der Maharal einen leisen Singsang ertönen lässt, die ganze Zeit über betet, während er, der uralte Mann, sich verbissen ins Zeug legt, erst Itzak die Schaufel wegnimmt und dann Jakov, schneller gräbt als sie. Sie starren ihn an in großer Furcht, Furcht, er wird plötzlich sterben, denn wie kann ein einundachtzig Jahre alter Mann sich bücken und heben, sich bücken und heben und schleppen wie ein Achtzehnjähriger? Furcht, denn was tun sie da, welches gewaltige Grab heben sie aus?

Schließlich ist der Maharal zufrieden, sie haben genug Lehm ausgegraben und er legt den Holzrahmen hin. Sie sehen, dass er wie ein Mann geformt ist. Sie häufen den Lehm in die Form, kneten daraus einen Leib. Wieder, über den Kopf des murmelnden Rabbis hinweg, tauschen sie Blicke der Verwunderung und der Furcht. Ist der Maharal verrückt geworden? Ist er plötzlich altersschwachsinnig? Der Tod seines einzigen Sohnes hat ihn in tiefe Schwermut geworfen, aber dies ist Wahnsinn. Was tun sie hier, verbotenerweise außerhalb des Ghettos, tollen am Flussufer unter dem Neumond umher, backen einen riesigen Sandkuchen in Gestalt eines Mannes?

Die Form, die der Maharal auf die Erde gelegt hat, ist größer als ein normaler Mann, so hünenhaft wie der stärkste Soldat. Der Maharal bückt sich und arbeitet an der Gestalt der Lehmpuppe. Er formt die Haare, das Gesicht, die Organe. Dann beginnt der Maharal zu beten, die Arme hoch über den Kopf gereckt. Der Wind hat sich gelegt und Nebelschwaden steigen aus der silbrigen Schwärze des Flusses. Mit weit ausgestreckten Armen betet er lauter, er wiegt sich, er davenet, er singt. Itzak sträuben sich die Nackenhaare und er sucht Trost bei Jakov, doch Jakov steht der Mund offen, auch er betet seltsame Worte, die sich in der Luft zwischen den Männern zusammenzuballen scheinen wie eine Wolke aus öligem Rauch.

Das Gesicht des Maharal ist bleich vor Ekstase. Er fühlt, wie ihn die Kraft zu durchströmen beginnt. Das ist die Kraft der Schöpfung. Sie ist immer gefährlich. Sie ist der Blitz, der in den Turm einschlägt, und die Welt steht Kopf. Sie ist immer der Eingang des Wortes in die Materie, und alles wird neugeboren. Er fühlt die Energie von etwas Sonderbarem und Neuem und Schrecklichem, gebündelt zu einem Speer, der durch ihn hindurchfährt und in den Lehm vor ihm. Er sieht seine eigenen Hände mit einer bläulich-weißen Strahlkraft leuchten. Seine Hände knistern. Sein Haar steht zu Berge vor Elektrizität.

Alle Verbindungen der Konsonanten und Vokale singt er, und die verborgenen Namen G-s spricht er, und die heiligen Zahlen, welche die Atome des Universums bildeten. Er ist durchscheinend geworden von der Kraft, die ihn durchströmt. Sein Fleisch ist geschwärzt wie Glas, das im Feuer gestanden hat. Seine Augen sind Silber wie der Mond, ohne Pupillen oder Iris. Er weiß in diesem Augenblick mehr, als er je in seinem Leben gewusst hat, und mehr, als er in fünf Minuten wissen wird.

Blaues Feuer knistert über die Lehmpuppe, als flössen Rinnsale von Quecksilber über die Oberfläche und sänken dann ins Innere. Der Lehm beginnt zu rauchen und sich zu dunklem Rot zu erhitzen und dann heller und heller. Er ist rot wie ein aufgerissenes Herz, wenn das arterielle Blut herausspritzt; jetzt ist er orange und jetzt brennend gelb und jetzt weiß, ein Weiß, das sie nicht anschauen können. Itzak und Jakov weichen zurück. Sie sind geblendet. Als der stechende Schmerz in ihren Augen nachlässt und sie sich die Lider reiben und hoffen, wieder sehen zu können, kühlt die Puppe von Orange zu Rot und dann matter bis nahe zur Farbe ihrer Haut. Was sie sehen, ist nicht mehr Lehm, sondern Fleisch.

Jetzt steigt aus den erhobenen Armen des Maharal ein frischer kalter Wind auf, der Regen bringt. Ein kleines Unwetter geht auf ihre Köpfe hernieder, der Wind reißt an ihren Kleidern und Haaren und Bärten, er rüttelt an den kahlen Zweigen der Bäume und bricht sie los. Für einen Augenblick ist der Regen alles, eine feste Wasserwand, ein Guss, in dem sie fast nicht atmen können. Dann lässt der Regen nach, der Wind legt sich und die Puppe liegt da, ein Mann aus Fleisch, dem jetzt Haare sprießen von matter rötlicher Farbe und rötliche Schamhaare um das schlaffe Organ zwischen den mächtigen Schenkeln, der neue Nägel hat und Wimpern und rote Lippen, der, wenngleich riesig, so wohlgeformt ist wie jeder von ihnen.

Itzak schaut Jakov und Jakov schaut Itzak an. Itzak flüstert lautlos: »Ein Golem?«, und Jakov nickt, der Mund steht ihm immer noch offen. Sie sind bis auf die Haut durchnässt und zittern vor Furcht. Sie umklammern sich bei den Händen und jeder weiß, auch der andere möchte am liebsten Reißaus nehmen.

Nun wendet sich der Maharal Jakov zu und flüstert ihm ins Ohr, was er singen soll, und schickt ihn sieben Mal von links nach rechts um den Körper. Er flüstert Itzak zu und zwingt auch ihn zu singen, zu kreisen, ein feierlicher Rundtanz. Dann beginnt er einen Sprechgesang, das Bart- und Haupthaar gesträubt, die Augen silbern, Runde um Runde, seine Stimme tönt so unheimlich wie das Heulen eines Wolfes. Während der Maharal kreist, beginnt die Brust des Golems sich langsam zu heben. Seine Lippen teilen sich. Ein Atemzug wie ein langes, tiefes Stöhnen, dann noch einer, und der Mann aus Lehm beginnt sich zu regen. Seine Augen klappen auf, doch sie sind glasig, blicklos. Der Maharal ergreift die mitgebrachte Torarolle und kreist sieben Mal und tanzt, als wäre Simchat Tora. Schnellere Atemzüge durchbeben den Leib des Golems. Er ächzt. Er blinzelt, und jetzt sehen seine grauen Augen, er schaut sie an und er sieht sie. Er blickt sich um, hebt den Kopf und schaut von Seite zu Seite wie eine große Schnappschildkröte, die den Kopf aus dem Wasser steckt. Er lebt, er ist ein lebendiger Mann, und doch ist etwas Massiges, Unbewegliches, Urgeschichtliches an ihm. Er ist ein Echsen-Mann, denkt Itzak, er ist ein Mann aus Schieferton.

 

Itzak und Jakov weichen unwillkürlich vor ihm zurück, entsetzt. Der Maharal zuckt auch zurück, aber dann sammelt er sich, tritt vor und beugt sich über den Mann, der Lehm gewesen ist, den Mann, den er gemacht hat.

Ich liege in meinem hohen antiken Bett und höre die ungewohnten Geräusche von Shira in ihrem Zimmer, endlich, endlich wieder bei mir. Die Einbringung einer kostbaren Ernte. Sie leidet unter dem Verlust ihres Sohnes und vielleicht sogar unter dem Verlust ihres unnützen Ehemannes, aber sie ist mir wiedergegeben. An diesem Punkt der Geschichte pflegte sie immer einzuwenden: Wie kann ein Mann aus Lehm lebendig werden? Sie war in ihrem Denken immer auf der wörtlichen Seite. Wie du ja auch, mein lieber Yod. Ihr solltet euch auf dieser Ebene gut verständigen können. Sie wird rasch lernen, dich zu erreichen, du wirst sehen.

Ich erinnere mich, wie ich zu ihr von der Macht des Benennens sprach. Was wir nicht benennen können, sagte ich, darüber können wir nicht reden. Wenn wir etwas in unserem Leben einen Namen geben, dann können wir ihm damit Macht geben, so, wenn wir einen Lustreiz Liebe nennen, oder wenn wir unseren Neid Redlichkeit nennen; oder wir können uns selbst Macht geben, denn jetzt können wir über etwas denken und reden, was uns wehtut, wir können mit anderen zusammenkommen, die den gleichen Schmerz verspürt haben, und so können wir versuchen, etwas damit anzufangen.

Aber ich redete in der befangenen Art, in der man zu Kindern spricht. Die Bühne des Lebens ist voller kleiner Wahrheiten, die nicht ganz zusammenpassen. Ich weiß, was der Maharal empfand, denn in aller Schöpfung, in Wissenschaft wie Kunst und in Bereichen wie meinem, wo Wissenschaft und Kunst sich treffen und mischen, in der Erzeugung von Schimären aus Pseudodaten, Desinformation und inneren Phantasiewelten, ist ein wirkliches Neuerschaffen. Wir nehmen an der Schöpfung teil mit ha-schem, dem Namen, dem Wort, das uns spricht, dem Atem, der Leben durch uns singt. Wir sind Werkzeug und Gefäß und Wille. Wir stehen in Verbindung durch Kräfte, die unser eigenes, bruchstückhaftes Bewusstsein übersteigen, mit dem Rest des Lebewesens, das wir alle zusammen ausmachen. Die Kraft fließt durch uns hindurch ebenso wie durch den Tiger und durch die Eiche und durch den Fluss, der über seine Felsen bricht, und wir kennen in unserem Kern das Feuer, das die Sonne nährt.

Ich verstehe, was Avram, mein einstiger Geliebter, empfand, als er in seinem Labor eine Person erschuf, denn das Gleiche geschah, als er seinen Schwanz in Sara steckte und sie zusammen Gadi machten. Denn das Gleiche geschah, als ich Riva gebar und sie neben mir lag, real und rot und schreiend. Jedes Leben ist neu. Jedes Wort spricht sich ständig zum ersten Mal: Geburt, Liebe, Schmerz, Sehnsucht, Verlust. Jede Mutter formt Lehm zu Cäsar oder Madame Curie oder Jack the Ripper, unwissend, in blinder Hoffnung. Aber jede Künstlerin erschafft mit offenen Augen, was sie im Traum sieht.

Ich habe an Rosch Chodesch in der Finsternis des Waldes bei dem flüsternden Strom gestanden, und ich habe die Kräfte gerufen, dass sie durch mich etwas zu Leben befeuern, was noch nie gewesen ist. Das hätte ich ehrlicherweise Gadi und Shira erzählen müssen, als sie im Hof beim blühenden Pfirsichbaum mit seinen rosa Blüten mir zu Füßen saßen und ich ihnen diese Geschichte erzählte. Ich hätte sagen müssen, ich bin der Maharal und ich mache den Golem mit den besten und kraftvollsten Momenten meines ganzen Lebens, und das tut auch Avram, und das, meine Lieben, werdet einst vielleicht auch ihr tun. Schöpfung ist immer lebensgefährlich, denn sie gibt wahrhaft Leben dem, was noch nicht begonnen hatte, und Stimme dem, was stumm war. Sie bringt Kunde, die unbekannt war und ohne deren Wissen es vielleicht um unsere Seelenruhe besser bestellt war. Das Neue ist notwendigerweise gefährlich. Auch du wirst das an deiner Natur akzeptieren müssen, Yod, denn du bist wahrhaft neu unter der Sonne.