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Begabten- und Talentförderung als bildungspolitische Aufgabe

Im Allgemeinen nimmt man viel zu wenig zur Kenntnis, wie heterogen die Berufsbildung heute geworden ist. Es gibt Berufsausbildungen mit hohen Anforderungen, solche mit hohem Sozialprestige und meist auch hohen qualifikatorischen Anforderungen, andererseits solche mit relativ geringem Qualifikationsprofil und nicht selten auch geringem Sozialprestige. Unser Berufsbildungssystem muss diese ganze Bandbreite abdecken und dabei einen bemerkenswerten Spagat bewältigen:

•Es muss auch für leistungsstarke, gut qualifizierte Jugendliche, die eine anspruchsvolle Berufsausbildung absolvieren wollen, attraktiv bleiben. Deshalb müssen solchen Jugendlichen früh schon Wege bis zur Hochschulreife aufgezeigt werden und auch vorgeebnet bekommen.

•Gleichzeitig muss es den Fachkräftenachwuchs auch aus der Population leistungsschwacher Jugendlicher erschliessen, denen bislang «fehlende Ausbildungsreife» attestiert worden ist und die aus verschiedensten Gründen im Übergangssystem gelandet sind. Bis 2020 sollen 95 Prozent aller 25-Jährigen über einen nachobligatorischen Abschluss verfügen.[3]

Die berufliche Grundbildung hat in den letzten Jahren mit grossem Aufwand viel unternommen, um leistungsschwächere Jugendliche auf dem Weg in die Sekundarstufe II zu unterstützen. Dies ist richtig und wichtig, sollten doch viele junge Menschen mit möglichst ausreichender Bildung in die Arbeitswelt und damit in die Gesellschaft integriert werden können. Integration ist deshalb das Herzstück vieler Bemühungen und Aktivitäten. Allerdings sollten Prioritäten und Perspektiven richtig gesetzt werden. Dies bedeutet erstens, dass sich der Blick nicht zu sehr auf die Integrationsförderung dieser leistungsschwächeren Gruppe beschränken darf, sondern verstärkt auch auf die Potenziale aller Auszubildenden gerichtet werden muss. Zweitens, dass Auszubildende mit Talent und Potenzial viel systematischer als bis anhin gesucht und gefördert werden sollten. Berufsbildung, Wirtschaft und Industrie, und damit unsere Volkswirtschaft, brauchen beides: ein breites, sorgfältiges Bildungsangebot für die sogenannt Leistungsschwachen, aber auch die systematische und selbstverständliche Förderung jener am «oberen Ende der Skala» – und zwar ohne, dass dabei von «elitärem Gehabe» gesprochen wird, wie dies so oft der Fall ist.

Natürlich kann man einwenden, dass in den letzten Jahren das Verständnis für dieses Segment deutlich gewachsen ist und auch hervorragende Projekte lanciert und etabliert worden sind (man denke an die «Talent- und Innovationsförderung in der Berufsbildung», das Label «Bildungspartner von SJf – for talents», das Projekt «Junior Car Crack» des Auto Gewerbe Verbands der Sektion beider Basel oder das Projekt Talentförderung in der Berufsbildung des Kantons Zürich (usw.). In der Tat sind dies gute Beispiele, doch finden sie viel zu wenig systematische Nachahmer. Deshalb bleiben sie selektiv, weil nicht alle Auszubildenden die gleichen Chancen zur Potenzialentfaltung erhalten. Der Kanton bzw. der Wohn- und Ausbildungsort haben darüber einen zu grossen Einfluss. Eine systematisierte Begabungs- und Talentförderung ist deshalb eine grosse Herausforderung.

Potenzialförderung ist eine gesetzlich verankerte Pflicht

Dass Stichworte wie Talente, Begabungen, Expertise, Leistungsexzellenz – oder wie immer man Potenziale nennen will – Eingang in den Berufsbildungsdiskurs gefunden haben, ist glücklicherweise auch eine Folge des innovativen Berufsbildungsgesetzes. Die in Art. 18 und Art. 21b festgehaltene Förderung von leistungsstarken Berufslernenden weist der Ausbildung des Nachwuchses eine grundlegende Bedeutung und den Berufsschulen und Ausbildungsbetrieben eine spezifische Verantwortung und damit einhergehend eine entsprechende Innovationsbereitschaft zu. Berufliche Begabten- und Talentförderung ist damit zu einer wichtigen, berufspädagogischen Aufgabe geworden. Auch der Bundesrat hat verschiedentlich von der Ausschöpfung der Begabtenreserve in der Schweizer Berufsbildung gesprochen.

Somit hat die Berufsbildung eine gesetzlich verankerte Pflicht, Potenziale zu fördern. Diese Pflicht wird vor allem deshalb eine Herausforderung, weil Begabungen und Talente nicht per se an guten Schulnoten und hohen Schulabschlüssen erkennbar sind, sondern spezifisch gesucht, erkannt, anerkannt und gefördert werden müssen. Dies ist insofern bedeutsam, als es viele an sich begabte Jugendliche gibt, die aufgrund ihrer Schulmüdigkeit nicht automatisch den gymnasialen Weg wählen. Solche «Aussteiger» sind in den letzten Jahren eher zahlreicher geworden. Sie gehören häufig nicht zu den sehr guten, sondern erstaunlich oft zu den mittelmässigen oder schlechten Schülerinnen und Schülern, zu den «Minderleistern», die signifikant schlechtere Schulleistungen erbringen, als man dies von ihnen aufgrund ihres intellektuellen Potenzials eigentlich erwarten würde.[4]

An der achten nationalen Lehrstellenkonferenz am 23. November 2012 in Martigny wurden bildungspolitische Massnahmen beschlossen, welche für die Ausschöpfung von Begabungsreserven bedeutsam sind: die Entdeckung des Potenzials von jungen Migrantinnen und Migranten, die Motivierung junger Frauen für technische Berufe sowie die Nachholbildung für Menschen mit praktischer Erfahrung aber ohne Berufsabschluss. Solche Massnahmen lassen sich auch mit unseren Forschungsstudien legitimieren.

Die Defizitorientierung dominiert

In der Praxis sieht es allerdings etwas anders aus. Folgt man unseren empirischen Daten, so setzen heute noch relativ wenige Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe die Idee systematischer Talentförderung, in die Praxis um. Eine grosse Mehrheit orientiert sich nach wie vor am Ungenügen der Jugendlichen respektive an deren Leistungsschwächen. Ein Umdenken in den Köpfen ist deshalb für die Berufsbildung die grösste zukünftige Herausforderung. Dabei versteht sich von selbst, dass man nicht von der Qualität der beruflichen Ausbildung sprechen, gleichzeitig jedoch vor allem nur das Negative im Blick haben und die fehlenden leistungsstarken Jugendlichen beklagen kann.

Die Sicherung von Könnerschaft im Berufshandwerk ist heute wichtiger denn je. Deshalb darf der Königsweg der Begabten- und Talentförderung nicht weiterhin in erster Linie Akademia heissen. Die letzten Jahre haben nämlich mehr als deutlich gezeigt, dass die Berufsbildung immer stärker in Gefahr gerät, zum Durchgangsstadium von Akademikerkarrieren zu werden und schulisch qualifizierte Jugendliche nach der Berufsausbildung in ein Fachhochschulstudium abwandern. Die Höhere Berufsbildung ist dabei eindeutig ins Hintertreffen gelangt. Zukünftig wird es infolgedessen eine zentrale Herausforderung sein, die Berufsausbildung nicht nur als Zubringerin für die Fachhochschulen, sondern ebenso als Garantin der Entdeckung beruflich-praktischer Reserven und der Förderung der beruflichen Qualität in der Höheren Berufsbildung zu verstehen.

Deshalb sind gerade den Schulabgängern aus Real- und Sekundarschulen spezifische berufliche Qualifikationschancen zu ermöglichen. Obwohl sie aufgrund ihrer fachorientierten Begabungsprofile nicht in den akademischen Weg der Berufsmatura einmünden können, verfügen viele von ihnen über beträchtliche berufspraktische Talente. Gleiches gilt oft auch für benachteiligte Migrantinnen und Migranten. Mit Blick auf beide Gruppen dominieren allerdings Klagen über ihre mangelnde Ausbildungsreife sowie ihre Tendenz zu Lehrabbrüchen und damit zu fehlenden Berufsabschlüssen. Eine Folge dieser Defizitperspektive ist die Tatsache, dass Potenziale bei solchen Jugendlichen gar nicht vermutet, deshalb nicht erwartet und auch nicht gesucht werden.

Angesichts der aktuellen Entwicklung ist anzunehmen, dass Wirtschaft und Industrie zukünftig mehr denn je auf die Möglichkeit angewiesen sein werden, fachlich begabte Mitarbeitende rekrutieren zu können, die das handwerkliche Metier beherrschen und die berufliche Ausbildung nicht lediglich als Durchgangsstadium zur Fachhochschule nutzen, um dann einen anderen Beruf zu ergreifen. Ob sie Abgänger von Real- oder Sekundarschulen sind, dürfte deshalb eine unbedeutende Rolle spielen. Wesentlich ist ihr Können, das sie in der beruflichen Ausbildung haben entwickeln und unter Beweis stellen können.

Neue Strategien für die Rekrutierung und Betreuung des Nachwuchses

Unglaublich, aber wahr: In der beruflichen Grundbildung dominierten bis vor ein paar Jahren noch die Jugendarbeitslosigkeit und die daraus resultierenden fehlenden Zukunftsperspektiven unserer Jugendlichen. Heute hat sich die Situation diametral verändert. Der Mangel an Ausbildungsplätzen ist einem Mangel an qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern gewichen: Aus dem Lehrstellenmangel ist ein Lehrlingsmangel geworden. Angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels dürfte sich die Situation weiter verschärfen. Denn unbesetzte respektive schwierig zu besetzende Ausbildungsplätze stellen sowohl für das unternehmerische Wachstum der Betriebe als auch für die Nachwuchssicherung eine ernstzunehmende Problematik dar. Um neue Strategien für die Rekrutierung und Betreuung des Nachwuchses zu entwickeln, bedarf es zunächst eines differenzierteren Blicks auf die Hintergründe.

Die Berufsbildung als System zweiter Klasse?

Die aktuelle Situation ist eine sehr spezielle: Neben dem sich immer deutlicher abzeichnenden Fachkräftemangel machen der Berufsbildung vor allem die demographischen Veränderungen zu schaffen. Stimmen die Daten des Bundesamtes für Statistik, dann wird die Anzahl Jugendlicher in diesem Altersspektrum bis zum Jahr 2020 weiter sinken. Dazu kommt die Tatsache, dass die gymnasiale Ausbildung attraktiver denn je ist, obwohl längst nicht alle, welche eine Aufnahmeprüfung absolvieren müssen, diese auch bestehen. Anzunehmen ist jedoch, dass das Interesse an der akademischen Ausbildung auch in Zukunft ungebrochen sein und die Berufsbildung für viele lediglich die zweite Wahl bleiben wird. Deshalb ist ebenso davon auszugehen, dass ohne wirksame Massnahmen die absoluten Zahlen der leistungsstarken Auszubildenden, welche in die Berufsbildung eintreten, weiter sinken dürften.

 

Einer der Gründe liegt darin, dass Eltern heute einen enormen Drang nach hoher Bildung haben. Wer selbst ein Gymnasium absolviert hat, setzt alles daran, dass die Kinder mindestens den gleichen Status erreichen oder, besser noch, ihn übertreffen. Und wer zu den Bildungsaufsteigern gehört, die in bessere Positionen gerutscht sind als die eigenen Eltern, will seine Kinder so unterstützen, dass sie von Anfang an die besseren Chancen als die anderen haben. Dieser Tunnelblick hat dazu geführt, dass bei vielen Familien die Berufsbildung als System zweiter Klasse gilt.

Verborgenes Potenzial finden

Gerade, wenn es um leistungsstarke Auszubildende geht, hat sich die Berufsbildung bisher vor allem auf Jugendliche mit guten Schulnoten aus anforderungshohen Schulniveaus konzentriert. Das ist allerdings eine einseitige Strategie, weil sie verhindert, Potenziale jenseits guter Schulleistungen und Schulabschlüsse zu entdecken. Solche Potenziale sind jedoch sowohl aus einer individuellen Perspektive (die optimale Leistungsförderung jeder einzelnen Person, ungeachtet ihres Geschlechts und ihrer sozialen Herkunft) als auch einer gesellschaftlichen Perspektive (Minimierung des Nachwuchs- und Fachkräftemangels) von zentraler Bedeutung für die Qualität und Leistungsfähigkeit des Berufsbildungssystems. Es ist deshalb einseitig, wenn nicht gar falsch, den Mangel an Auszubildenden in den verschiedenen Sparten lediglich mit mehr und immer ausgefalleneren PR-Massnahmen bekämpfen zu wollen. Es braucht andere und neue Rekrutierungs- und Selektionsstrategien, welche verborgenes Potenzial sichtbar machen.

Betriebe werden sich darauf einstellen müssen, ihren Fachkräftenachwuchs auch aus den leistungsmässig schwächeren Segmenten und ebenfalls aus Jugendlichen des Übergangssystems zu rekrutieren. Gerade für KMUs erwächst daraus eine grosse Herausforderung. Sie müssen ihre Ausbildung variabler und flexibler gestalten und sich viel mehr auf Unterschiede in der Vorbildung einstellen. Allenfalls brauchen sie dafür Unterstützung.

Das Übergangssystem als neue Bildungskategorie

Der Begriff «Übergangslösung» ist wenig schmeichelhaft und meint eigentlich die Warteschlange, die sich beim Eintritt in die berufliche Ausbildung gebildet hat. Damit werden alle Angebote bezeichnet, die eine Brücke bauen zwischen obligatorischer Schulzeit und einer Berufslehre bzw. einer weiterführenden Schule. Dazu gehören beispielsweise ein Motivationssemester, ein 10. Schuljahr, eine Au-pair-Stelle oder ein Praktikum. Jugendliche, welche sich in diesem Übergangssystem befinden, teilen eine gemeinsame Erfahrung: dass der Übergang Schule – Beruf für sie nicht erwartungsgemäss funktionierte. Heute absolvieren mehr als ein Viertel der Jugendlichen ein oder mehrere Brückenangebote. Sie werden also häufig von einer Massnahme zur nächsten geschickt. Und dies in einer Zeit, in der mehr als 8 000 Lehrstellen nicht besetzt werden können. Offenbar gibt es Fehlanreize im System, sodass die Warteschlange zu einer veritablen Bildungskategorie und zu einem Massenphänomen geworden ist, das für viele mit wenig beruflichen Perspektiven, hoher Arbeitsmarktunsicherheit und erschwerter beruflicher Identitätsbildung verbunden ist. Denn Jugendliche nehmen im Durchschnitt zwei Jahre – im Kanton Genf sogar drei Jahre – Brückenangebote in Anspruch. Wenn sie somit erst mit 18 Jahren eine Berufslehre beginnen und der Berufsfindungsprozess immer länger dauert, dann ist nach den damit verbundenen Folgen und Auswirkungen auf Arbeitsmarkt und Sozialstruktur zu fragen.

Lehrvertragsauflösungen und Fachkräftemangel

Eng damit verbunden ist das Phänomen der Lehrvertragsauflösungen, oft fälschlicherweise generalisierend als «Lehrabbrüche» bezeichnet. Dieses Phänomen hat es zwar immer schon gegeben, doch gerät es aufgrund seines Zusammenhangs mit dem drohenden Fachkräftemangel aktuell weit stärker in den Fokus als bisher. Da gerade Berufe, die allgemein ein Image-Problem haben – wie etwa bestimmte Bauberufe oder Bäcker/Konditoren – besonders stark von Lehrvertragsauflösungen betroffen sind, gilt das Wissen um die Ursachen solcher Entscheidungen als wichtige Herausforderung für die Berufsbildung. Gerade die Sorge um den Fachkräftemangel hat in den letzten Jahren zunehmend den Blick auf das Phänomen der Lehrvertrags­auflösungen gelenkt, und es sind verschiedene Bestandsaufnahmen hierzu durchgeführt worden. Trotzdem werden Lehrvertragsauflösungen immer noch vorwiegend als alleiniges Problem der Auszubildenden selbst, ihrer Leistungsfähigkeit, ihres Berufswahlverhaltens und ihrer Persönlichkeitsmerkmale verstanden.

Die neueste Forschung zeigt jedoch anderes: Betriebe und Berufsfachschulen sind ebenso ursächlich an Lehrvertragsauflösungen beteiligt wie die Jugendlichen selbst. Massnahmen, die im Hinblick auf den Fachkräftemangel Erfolg versprechend sein wollen, müssen deshalb bei allen Partnern ansetzen, nicht nur bei den Jugendlichen selbst.

Die Berufsbildung sollte über die Bücher gehen

Was bedeutet diese Situation für den «Kampf um die Talente»? Erstens, dass die Berufsbildung gut daran tut, über die Bücher zu gehen: Betriebe sollten ihre Selektionsmassnahmen überdenken und dabei viel stärker zwischen Leistung (Schulnoten) und Potenzial unterscheiden und Fähigkeiten jenseits des schulischen Wissens in ihren Rekrutierungsstrategien berücksichtigen. Die einseitigen Klagen über die fehlende Ausbildungsreife sind wenig innovativ und bilden nur die eine Seite der Medaille ab. Denn wer zu sehr auf schulische Kompetenzmerkmale setzt, schränkt den Kreis potenziell guter Bewerberinnen und Bewerber stark ein und nutzt das Potenzial in keiner Art und Weise. Zudem ist das Übergangssystem zu überdenken. Obwohl für die einen Jugendlichen als willkommene Möglichkeit zur Überwindung von Handicaps, die sie bearbeiten, ausmerzen oder optimieren können (schlechte Schulnoten, psychische Probleme, Verhaltensschwierigkeiten, Suchterkrankungen usw.) landen zu viele von ihnen dort, die eigentlich eine Ausbildungsstelle antreten könnten. Schliesslich müsste sie gerade im Hinblick auf den Fachkräftemangel die Problematik der zunehmenden Anzahl der Lehrvertragsauflösungen branchenspezifisch und im Hinblick auf die Rolle der Ausbildungsbetriebe an die Hand nehmen.

Frühe Elternarbeit: Werbung für die Berufsbildung

Es ist eigenartig: Obwohl die Schweizer Berufsbildung einen ausgesprochen guten Ruf geniesst, gehen ihr langsam die leistungsstarken Auszubildenden aus. Bereits aufgezeigt worden ist, dass die Wertschätzung der Berufslehre im Gegensatz zu individuellen Vorlieben steht, die sich in Richtung schulisch-akademischer Laufbahnen verschieben. Die Forderung des Gewerbes nach einem Umdenken in der Bildungspolitik ist deshalb gerechtfertigt. Allerdings darf dies nicht damit einhergehen, dass das Gymnasium als Prügelknabe dienen soll und es gegen die Berufsbildung ausgespielt wird. Die guten Auszubildenden fehlen nicht, weil sie sich fürs Gymnasium entscheiden. Die Hauptursache liegt in den sinkenden Schülerzahlen, welche die Berufsbildung besonders spürt. Weil nach wie vor gleich oder gar mehr Jugendliche den gymnasialen Weg oder andere Vollzeitschulen wählen, stehen ihr deutlich weniger an sich leistungsstarke Jugendliche zur Verfügung. Dazu kommt, dass der kontinuierliche Anstieg der Mädchen-Quote in den Gymnasien dazu geführt hat, dass das weibliche Geschlecht in den technischen Berufen verstärkt fehlt. Der Trend zum Gymnasium muss deshalb differenziert betrachtet werden. Obwohl es auch in Zukunft eine sehr hohe Anziehungskraft behalten dürfte, bedeutet dies nicht automatisch, dass die Berufsbildung die Verliererin sein muss. Dies wird zwar allgemein so formuliert, denn sie hat sich in den letzten Jahren stark auf ihre Binnenentwicklung konzentriert und zu wenig um ihr Renommee mit Taten gekümmert. Erst seit wenigen Jahren hat sie begonnen, ihre Attraktivität besser aufzuzeigen und zu verkaufen. Aber gerade gegenüber bildungsambitionierten Elternhäusern steht dies aus.

Jugendliche aus Akademikerfamilien fehlen in der beruflichen Grundbildung

Jenseits der leidigen Pro-und-kontra-Debatte «Berufsbildung-Gymnasium» gilt es somit, bei objektiven Daten und der Suche nach Ursachen anzusetzen. So ist die empirische Tatsache, dass die Berufsbildung vor allem von Jugendlichen aus nicht-akademischen Elternhäusern in Anspruch genommen wird, kein zukunftsträchtiger Zustand. Umgekehrt gilt Gleiches für die Gymnasien, die durchschnittlich zu mehr als 80 Prozent von Jugendlichen aus bildungsnahen Familien besucht werden. Eigentlich sollten Neigungen und Fähigkeiten den Ausschlag zur Bildungs- und Berufswahl geben. Wenn dem so wäre, dann wären in der Berufsbildung mehr leistungsstarke Jugendliche aus gut situierten Familien vertreten, in den Gymnasien jedoch mehr intellektuell begabte Kinder aus Arbeiter- und benachteiligten Migrantenfamilien.

Um die Attraktivität der Berufsbildung zu steigern, tun Bund und Kantone mit gezielten Kampagnen ausgesprochen viel. Auch Betriebe haben langsam entdeckt, dass sie sich stärker um potenzielle Auszubildende bemühen müssen. Der Erfolg ist trotzdem relativ bescheiden geblieben. Einer der Hauptgründe liegt darin, dass man sich stark auf die Öffentlichkeit, die Betriebe und Berufsfachschulen sowie die OdAs konzentriert hat. Die Familie als wichtigste Meinungsmacherin und Orientierungsinstanz ist bei der Berufswahl des Nachwuchses ausgeblendet worden.

Eltern sind die heimlichen Meinungsmacher

Eltern ins Boot zu holen, ist deshalb eine wichtige und herausfordernde Aufgabe. Väter, vor allem aber Mütter, haben nicht nur einen grossen emotionalen Einfluss, sondern sind auch die wichtigsten Bezugspersonen ihrer Söhne und Töchter. Die Gleichaltrigen sind in diesem Prozess zwar auch bedeutsam, aber deutlich weniger wichtig als die Eltern.

Wo liegt das Problem? Wie bereits erwähnt, gilt die Berufslehre bei vielen Eltern als zweite Wahl, vor allem jedoch als Sackgassenausbildung. Dies dürfte in erster Linie deshalb sein, weil sie nicht genug informiert sind oder weil Informationen zu kompliziert daher kommen. Deshalb kennen viele Eltern (und oft auch Lehrkräfte!) die im internationalen Vergleich einmalige Durchlässigkeit unseres Bildungssystems nicht oder nur sehr rudimentär. Diese Unkenntnis ist in allen Sozialschichten festzustellen, insbesondere auch in ausländischen Familien. Dass Berufslehre und Berufsmaturität den Zugang zu einer Fachhochschule erlauben und mittels einer Passerelle sogar ein Universitätsstudium möglich wird, ist vielfach relativ unbekannt. Es braucht somit umfassende Aufklärungsarbeit. Zwar fehlt es nicht an Information und Ratgebern zur Berufswahl, wohl jedoch an solchen relevanter Art. Sie thematisieren zu wenig die Vor- und auch Nachteile der verschiedenen Bildungswege sowie die Fähigkeiten und Talente, über welche der Nachwuchs im Hinblick auf Gymnasium und Berufslehre verfügen müsste.

Gesamthaft besehen hat sich die Diskussion um die schwindende Attraktivität der Berufsbildung bisher zu einseitig auf Schulen, Betriebe und Verbände konzentriert. Die Familie ist vergessen gegangen. Wenn die Berufsbildung als gleichwertige Alternative zum akademischen Bildungsweg wahrgenommen und von den Eltern und ihrem Nachwuchs tatsächlich auch gewählt werden soll, dann müssen sie zum zentralen Element in der aktuellen Diskussion um den Lehrlingsmangel werden.