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Hotel Amerika

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»Passen Sie auf, Sie können heute einen freien Abend haben und mich zur Aushilfe schicken, – und der Verdienst gehört doch Ihnen.«



»Dass ich nicht lach', mein Herr, meine Stellung soll ich aufs Spiel setzen und nicht mehr haben, als das, was Sie verdienen können? Glauben Sie denn, es ist so leicht, Kellner zu werden, dass es nicht auch eine Kunst ist, die gelernt werden muss.«



»Beruhigen Sie sich, ich werde schon meine Sache gut machen, ich war schon Kellner, ich war schon alles. Sie würden schwer einen Beruf ausfindig machen, den ich nicht schon ausgeübt hätte.«



»So, Sie waren früher Kellner? Vorhin erzählten Sie etwas von einer Perspektive, die Sie studieren möchten. Wenn Sie schon Kellner waren, warum wollen Sie jetzt wieder einer sein? Wenn man den Dreh kennt und nicht unbedingt Geld zum Leben braucht, hat man keine Sehnsucht, noch einmal anzufangen.«



»Ich habe Ihnen schon gesagt, ich will dieses bestimmte gesellschaftliche Ereignis von der Hintertreppe aus sehen.«



Alex überlegt schnell. Was will eigentlich der Bursche? Juwelen stehlen? Armer Mensch, der würde seine Enttäuschungen erleben. Auf jeden Gast kommt ein Detektiv und auf jeden Kellner kommen zwei. Da könnte er schon leichter Juwelen auf der Fifth Avenue klauen. Andererseits: Unannehmlichkeiten könnte ich ja doch nicht haben, wenn ich ihn auch wirklich einschmuggelte; ich wüsste schon, wie ich mich ausreden würde. Und es würde ihm schon Hören und Sehen vergehen, wenn ihn unsere »Kapitäne« hin und her kommandieren.



Er lässt seine Augen über Herrn Fish auf- und abwandern. »Mein Herr, Sie glauben, es ist so leicht, im Hotel Amerika als Kellner eingestellt zu werden. Ich bin nicht eingebildet, aber sehen Sie sich mal meine Figur an, sehen Sie sich mein Profil an. Wer Kellner im Hotel Amerika werden will, noch dazu Aushilfskellner bei einer erstklassigen Hochzeit, der muss über ein tadelloses Äußeres verfügen, mein Herr. Ein Tenor kann einen Bauch haben, ein Liebhaber auf der Bühne krumme Beine, aber ein Kellner im Hotel Amerika muss aussehen, dass die Leute Appetit bekommen, wenn sie ihn erblicken. Wenn Sie nur eine Pustel haben, schickt Sie der Ober nach Hause.«



Der Kerl ist unverschämt, denkt Herr Fish. Aber er lässt sich auf keine weitere Diskussion mehr ein. »Also hören Sie, Sie leihen mir heute abend Ihren Frack, Ihre Nummer und Ihre Arbeitskarte. Ich wette, keiner wird merken, dass ein anderer Kellner zur Arbeit angetreten ist, trotz Ihres vollkommenen Profils. Machen Sie sich also keine Sorgen.«



»Mein Herr, Sie denken, Sie können nur so ohne weiteres über mich verfügen, das Ganze muss noch genau überlegt werden. Wie soll es sich mit meinem entgangenen Verdienst verhalten?«



»Wie viel pflegen Sie an solchem Abend einzunehmen?«



»Na ja, 25 Dollar ist das wenigste«, – der ›schöne Alex‹ ist der Meinung, dass es nichts schaden kann, wenn er seine Verdienstmöglichkeiten vergrößert – »multiplizieren wir diesen Betrag mit sechs, und dann will ich noch über die Angelegenheit nachdenken.«



»Sie wollen mich ganz ausplündern?«



»Wir brauchen über die Sache ja nicht weiter zu reden.«



»Also mit vier.«



»Mit fünf, oder ich spreche kein Wort mehr.« Der ›schöne Alex‹ sieht Zahlen vor seinen Augen. Eintausenddreihundertfünfundsiebzig Dollar hat er auf der Sparkasse, kämen heute abend noch die hundertfünfundzwanzig Dollar dazu, so hätte er rund eintausendfünfhundert. Die Hälfte der Summe, die er unbedingt haben will. Mit dreitausend Dollar könnte er in der 81. Straße schon etwas anfangen, aber wann wird er so weit sein? Auf der Sparkasse hat er erst eintausenddreihundertfünfundsiebzig, das sind sechs Jahre Bücklinge, das sind Geschirrwaschen in einem schmutzigen Lokal in Cherry Street, Nachtarbeit in einer Matrosenkneipe in Hoboken, vierzehn Stunden Arbeit bei vierzig Grad Wärme in einem Seebad. Das ist Schöntun bei der Witwe Lohengreen, das sind Entsagungen an freien Tagen, das sind schmutzige kleine Dienste, die schlecht bezahlt werden. Ein Sparkassenbuch über eintausenddreihundertfünfundsiebzig Dollar, das sind sechs Jahre Robot, Qual und Dreck, und er braucht dreitausend. Zum Teufel auch, es wäre Zeit, dass auch er einmal Glück hätte! »Mit vier«, sagt Herr Fish, der schon viel auf eine Karte gesetzt hat. »Sie bekommen Ihr Geld, wenn Sie mir die Arbeitskarte und die Uniform übergeben. Was tragen Sie überhaupt für einen Frack?«



»Mit fünf, dabei bleibt es. Der Frack hat eine dünne Silberborte unter dem Aufschlag. Aber für ihn und die Arbeitskarte müssen Sie extra ein Pfand hinterlassen.«



»Man muss es Ihnen lassen, Sie verstehen sich auf Geschäfte.«



»Es bleibt also dabei, mein Herr, wenn Sie meine Hilfe unbedingt in Anspruch nehmen wollen – und vergessen Sie nicht das Pfand. Kommen Sie heute abend zu mir. Hier ist meine Adresse. Sie können sich bei mir ankleiden, und ich werde Sie ein wenig abrichten, denn ein perfekter Kellner sind Sie nicht, ich habe gute Augen für so was. Ja, und was ich fast vergessen hätte: können Sie auch etwas Französisch parlieren? Wir Kellner, versteht sich, dürfen bei einer so feinen Gesellschaft nur französisch sprechen.«



»Auch darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Ich war drüben mit der Armee, habe geholfen, Ordnung zu schaffen, hehe.«



»Na, dann ist ja alles in Ordnung.«



»Möglicherweise aber werde ich Ihre Dienste nicht einmal benötigen. Ich bereite mich nur auf alle Fälle vor, Sie werden natürlich auch dann entschädigt, beruhigen Sie sich. Nur müssten Sie in dem Fall allerdings doch heute abend arbeiten.«



Drittes Kapitel

Heinrich Klüter aus Hamburg und Fritz Globig aus Berlin sitzen im Vorzimmer des ›Timekeeper‹ (›Zeithalter‹), des Mächtigen, der darüber zu entscheiden hat, wer in das Hotel Amerika zur Arbeit aufgenommen werden kann. »Nur keine Bange«, sagt Heinrich Klüter zu seinem Freund. Aber die hat ja Fritz gar nicht, obgleich er auf Arbeit wartet wie ein Hund auf ein Stückchen Knochen. Er ist mager und schlecht in Schale, und er hat schon die Erfahrung gemacht, dass solche Arbeitskräfte nicht gerade begehrt sind. »Sie sind zu schwach«, diesen Satz bekam er immer wieder zu hören, als er nach seiner Krankheit, die ihn stark abgezehrt hatte, auf die Arbeitsuche ging. »Sie sind zu schwach.« Das bedeutet: Du kannst ruhig verhungern, mein Lieber, aus dir kann man doch nicht viel Arbeit herauspressen! Ja, er hat eine scheußliche Zeit hinter sich. Im Anfang wollte er nicht daran glauben, dass sich keine Arbeit für ihn finden würde.



Den ganzen Tag lief er die 6. Avenue auf und ab. Man hätte meinen können, dass hier die Arbeit einfach auf Stellungsuchende warte. Eine Agentur neben der anderen. Ganze Häuser vollgeklebt mit Zetteln, kleinen weißen Zetteln: Koch gesucht, Geschirrwäscher gesucht, Portier gesucht, Hausdiener gesucht. Am ersten Tag war Fritz mächtig begeistert von diesen vielen Zetteln, die alle Arbeit anboten. Aber oben in den Agenturen verlangten sie überall erst Geld. Leicht gesagt, – von wo hätte er Geld hernehmen sollen. Er versuchte, das Herz der Vermittler zu erweichen, versprach, später das Doppelte zu zahlen. Aber die hatten wohltrainierte Ohren.



»Nicht zu machen, mein Junge.« Andere, erfahrenere Arbeitsuchende beruhigten ihn. »Glaub nur ja nicht, dass du schon Arbeit hast, wenn die dir dein Geld abknöpfen. Wir haben gezahlt; aber glaubst du, deshalb hätten wir Arbeit? Jetzt können wir unserem Geld nachlaufen. Die vielen weißen Zettel sind nur Lockspeise.«



»Ja, besonders dann, wenn sie merken, du bist ein Grünhorn, kannst du allerlei erleben.«



Fritz ist schon ungeduldig, er möchte endlich wissen, ob er heute Glück haben wird. Glück! Wenn man durch schwere, harte Arbeit gerade so viel verdient, dass man nicht verhungert, so hat man schon ›Glück‹. Eine verrückte Welt das!



Es dauert aber lange, bis man zu dem ›Zeithalter‹ vorgelassen wird.



Eine komische Bezeichnung: ›Zeithalter‹. Da sitzt einer und hält die Zeit fest, gebietet über die Zeit, über unsere Zeit. Wir müssen dankbar sein, wenn er uns ein Stück Zeit hinwirft, in der wir arbeiten dürfen. »Ich bring' dich schon herein«, lässt sich wieder Heinrich vernehmen, »ich arbeite hier lange genug, die werden schon auf mich hören.«



»Man muss es erst am eigenen Leibe erfahren, dann begreift man, wie irrsinnig unsere Welt eingerichtet ist.« Darin gibt Heinrich seinem Kameraden recht. Heinrich Klüter ist seit drei Jahren Nachtwächter im Hotel Amerika. Er hat eben seine Nachtarbeit beendet. Sein Gesicht ist grünfahl, und unter seinen geröteten Augen lagern schwere Tränensäcke. Heinrich hat seit drei Jahren keine Nacht geschlafen. Sein verantwortungsvoller Posten verleiht ihm eine gewisse Würde. Mit einer Laterne, einem Revolver und einer Alarmglocke am Gürtel durchwandelt er Nacht für Nacht die Korridore des Wolkenkratzers. Jedes Stockwerk des Hotels wird lautlos von den Nachtwächtern umkreist, nichts darf unbemerkt geschehen. In den ersten Nächten empfand Heinrich Klüter vor allem in den frühen Morgenstunden ohnmächtigen Neid, wenn er das gleichmäßige Atmen, das Schnarchen der Gäste hinter den geschlossenen Türen hörte.



Langsam aber gewöhnte er sich an die Nacht. Sobald es still und ruhig um ihn wurde, schärfte sich sein Ohr. Der Tag konnte alles verbergen und war übertäubt von Lärm und Geschrei, zuviel Geräusche machten ihn stumm. Die Nacht aber machte alles wieder klar. Die Menschen, die tagsüber taten, als wären sie Maschinen, hörten auf, sinnlos zu rattern und verrieten ihr wirkliches Sein. Der Nachtwächter Heinrich Klüter, dessen Amt und Aufgabe es war, nachts vor geschlossenen Türen zu horchen, wurde ein Weiser. Er kannte die Auflösung, die Fäulnis unter der glänzenden Oberfläche des Tages. Er hätte vieles erzählen können, von Leid und Jammer, von geheimen Tragödien, aber er schwieg. Nur – er konnte nachts nicht mehr schlafen. Auch dann nicht, wenn es ihm erlaubt war; er musste, er wollte wachen. Heinrich Klüter hatte auch während einer freiwilligen Nachtwache Fritz, der jetzt neben ihm saß, kennen gelernt. Es war in einer seiner freien Nächte, auf die er zweimal im Monat Anspruch hatte.

 



Die Wache hielt er in dem Hotel, in dem er selbst wohnte. ›Onkel Sams Hütte‹ hat allerdings nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Hotel Amerika. Die Bezeichnung ist keineswegs zu bescheiden, obgleich die meisten Gasthäuser ähnlichen Ranges bedeutend hochtrabendere Namen führen und sich ›Palace‹ und ›Grand‹ nennen, als dienten sie Luxusbedürfnissen.



›Onkel Sams Hütte‹ ist eines von hunderten, von tausenden ›Hotels‹, die über ganz New York verstreut sind, natürlich in angemessener Entfernung von den besseren Gegenden. In diesen Häusern wohnen die männlichen Angestellten der Luxushotels und Appartementhäuser, hier wohnen Fabrikarbeiter, Geschirrwäscher aus feinen Restaurants, mit einem Wort, hier wohnen Leute, die nur über geringe Mittel verfügen.



Diese Hotels nehmen sogar Rücksicht auf eine eventuelle Verschlechterung der Finanzlage ihrer Gäste. Man kann, wenn man ständige Arbeit und damit auch ein ständiges Einkommen hat, ein eigenes Zimmer besitzen. Für einen Dollar pro Nacht. Man kann mit einigen anderen zusammenwohnen und fünfzig Cents zahlen. Der billigste Platz aber kostet fünfundzwanzig Cents; man schläft dann zusammengepfercht mit seinen Leidensgenossen im großen Schlafsaal. Es gibt in diesen Hotels auch »Gesellschaftsräume«, die sich gleichen, wie ein Ei dem anderen, wie sich das Schicksal all ihrer Insassen gleicht.



In der Mitte des ›Gesellschaftsraumes‹ steht der große Ofen; im Winter sind die Plätze um ihn herum heftig umstritten. Die Stühle stehen rings der Wand entlang. Man spielt Karten oder liest Zeitungen. Es wird nur wenig gesprochen. Auch Fritz wohnt in ›Onkel Sams Hütte‹. Anfangs fand Fritz lohnende Arbeit in seinem Beruf als Dreher, Qualitätsarbeiter. In der Fabrik gab es bald Kämpfe. Die Arbeiter versuchten, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Fritz war ganz dabei. Die Arbeiter merkten, dass er etwas vom Organisieren verstand, – aber auch der Unternehmer! Er war der erste, der gefeuert wurde. Was aber Fritz am meisten wurmte, war, dass seine Arbeitskollegen nicht viel Aufhebens aus der Sache machten. Man wagte noch nichts Rechtes, jeder hatte zu große Angst um sein Stückchen Brot. Und Fritz machte die Erfahrung, dass diese Angst nicht ganz unberechtigt war, obgleich er bereit war, auch ungelernte Arbeit anzunehmen.



Bevor er krank wurde und noch von etwas Erspartem leben konnte, lastete die Erwerbslosigkeit nicht so schwer auf ihm. Er saß den ganzen Tag in der Bibliothek, wartete gespannt, dass auf der schwarzen Tafel seine Nummer rot aufleuchtete und ihm anzeigte, dass das Buch, das er verlangt hatte, ihm zur Verfügung stände.



Die Bücher, die sich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung befassten, zeigten ihm klar, dass das, was ihm geschah, nicht blinder Zufall war, dass er kein Einzelschicksal haben konnte. Sie wiesen aber auch einen Ausweg, gaben die Gewissheit, dass nach heftigen Kämpfen eine völlig andere, eine neue, vernünftigere Zeit kommen wird. Ohne diesen Ausblick musste das Leben, das er zu führen gezwungen war, unerträglich erscheinen.



Er versuchte über diese Frage mit seinen Kameraden in ›Onkel Sams Hütte‹ zu sprechen. Es war nicht leicht. Jeder hatte eine andere Sprache, und man musste jedes Wort lange hin und her wenden, bis es von allen verstanden wurde. Aber dann kamen doch Diskussionen in Gang. Bei einer solchen Gelegenheit machte Fritz die Bekanntschaft Heinrich Klüters.



Aber der Geschäftsführer von ›Onkel Sams Hütte‹ machte solchen Gesprächen ein baldiges Ende. Hier werden keine aufrührerischen Reden gehalten. Im ›Gesellschaftsraum‹ wird eine große Tafel angebracht mit der Aufschrift: »In diesem Raum ist das Reden verboten.« Fritz war empört.



»Wie, sogar dann, wenn wir zahlen, wenn wir nicht arbeiten, bindet man uns den Maulkorb um?« Heinrich Klüter nahm die Sache gelassener auf. »Solche Aufschriften findest du in allen diesen Hotels. In den ›Gesellschaftsräumen‹ soll man Karten spielen, alte Zeitungen lesen und das Maul halten.



Heinrich Klüter wohnt schon drei Jahre in ›Onkel Sams Hütte‹, seitdem er seinen Dienst im Hotel Amerika verrichtet. Die Hochbahn fährt an seinem Fenster vorbei. Anfangs hatte er immer das Gefühl, als sause sie jedes Mal über seinen Körper. Doch dann gehörte auch sie zu seinem Schlaf, genau wie das Halbdunkel des Zimmers und aller Lärm des Tages.



Die enge Freundschaft zwischen Heinrich und Fritz nahm ihren Anfang in einer der freien Nächte, als Heinrich wieder seiner Gewohnheit gemäß ›Onkel Sams Hütte‹ durchwanderte. Er konnte nicht anders, er musste Nachtwache halten, aber sie war anders, als die im Hotel Amerika. In ›Onkel Sams Hütte‹ gibt es wenige Geheimnisse, vor allem ist jede ›Unsittlichkeit‹ ausgeschlossen. Vor den Eingängen dieser ›Onkel Sams Hütten‹ stehen Tafeln: »Hier ist der Eintritt für Frauen streng verboten.« Trotzdem konnte der Nachtwächter Klüter auch hier viel Merkwürdiges bei seinen Nachtwanderungen entdecken. Er hörte die Schreie und Seufzer der Schlafenden, sah, wie gerade die Armseligsten ihr wertloses Hab und Gut sogar im Schlaf krampfhaft umklammerten. Am misstrauischsten sind die sehr Armen und sehr Reichen, dachte der Nachtwächter Klüter.



Viele schrieen im Traum nach den Ihren, die in der alten Heimat lebten; er hörte aber auch wilde Wutschreie und Verwünschungen, die tagsüber unterdrückt werden mussten.



In jener Nacht fand der Nachtwächter Klüter Fritz unter der Treppe schlafend. Er konnte die Schlafstelle nicht bezahlen; schon seit Tagen blieb er die fünfundzwanzig Cents für ein Bett schuldig. Der Geschäftsführer machte nicht viel Federlesens mit ihm; er behielt Fritz' Mantel und wies ihm die Tür.



»Mach, dass du hinauskommst«, schrie er ihn an. »Aber wohin soll ich denn gehen, was soll ich machen?« Fritz war richtig verzweifelt, so dass er schon den Geschäftsführer um Rat bat. Der war kurz angebunden.



»Geh auf die Bowery, da gehört ihr Strolche alle hin.« Diesen Rat aber wollte Fritz nicht befolgen; er wartete ab, bis der Geschäftsführer sich verzog, dann machte er es sich unter dem Treppenabsatz unbequem. Er ist sonst nicht ängstlich, aber vor der Bowery hat er doch Angst. Sicherlich ist sie die fantastischste Straße der ganzen Welt, denkt Fritz, man soll lieber nichts mit ihr zu tun bekommen.



An die Bowery denkt er auch jetzt, im Vorzimmer des ›Zeithalters‹. Sie flößt ihm wahres Entsetzen ein. Er ist noch von Berlin allerlei Elend gewöhnt, aber das hier ist doch etwas anderes, diese wildwuchernde Unordnung. Fritz kennt eine behördlich registrierte, gestempelte, statistisch und amtlich festgestellte Armut, mit Anstellen und Aufschreiben, mit Zetteln und Ämtern, mit eingezogenen Erkundigungen und alphabetischem Verzeichnis.



Auf der Bowery kann man sich höchstens um eine verdächtig aussehende Suppe anstellen, die in einem Blechtopf zusammen mit Gebeten und Predigten serviert wird. Es gibt Nachtasyle in Kirchen, in denen man auf Zeitungspapier schläft und wo man von Neugierigen, die in Touristenautos angefahren kommen, gegen Eintrittsgeld, das aber nicht ihnen, sondern der Kirche zugute kommt, bestaunt wird. Heilsarmeesänger vermischen sich mit Betrunkenen und schweren Jungens; Stellenvermittelungsbüros, die Sklavenmärkte genannt werden, sind Gebethäusern und Juwelengeschäften, in denen beste ›Sore‹ feilgeboten wird, benachbart. Fritz hat vor allem vor den Stellenvermittelungsbüros Angst. Sie vermitteln nur Stellen nach auswärts. Transporte gehen von dort ab in menschenleere Gegenden, um Wege zu bauen, oder nach einem primitiven Bergwerk, in dem alle Sicherungen fehlen, die das Leben der Arbeiter schützen. Noch schlimmer. Hier werden Streikbrecherkolonnen organisiert, ohne dass die Beteiligten etwas davon ahnen. Erst wenn sie die Reise hinter sich haben und keinen Cent mehr besitzen, um zurückfahren zu können, erfahren sie den Zweck ihrer Fahrt.



Sagt einer ›ja‹ in diesen Agenturen, so ist er schon Sklave. »Na, Junge, bleib man da, deine Kolonne geht bald ab.« Und schon sitzt er in der Falle.



Nein, das ist nichts für Fritz, da will er lieber die Hände von der Bowery lassen.



Fritz hatte Glück, dass ihn Heinrich fand und, als er das Schicksal Fritz' erfuhr, mit dem Geschäftsführer eine Abmachung traf, wonach Fritz nachts, wenn Heinrich auf Arbeit ging, in dessen Bett schlafen durfte.



Jetzt werden beide hineingerufen zu dem Mächtigen. Der Nachtwächter Klüter dreht seinen Hut in der Hand und entwirft ein schmeichelhaftes Bild Fritzens. Der ›Zeithalter‹ beugt sich über eine riesige Tabelle mit vielen Zahlen, die das Personal bedeuten. Er macht grafische Zeichnungen wie ein Feldherr. Nein, Nachtwächter kann Fritz nicht werden. Er wird bleich. Sollte auch heute alles vergeblich sein? Aber der Mächtige will doch mal sehen; er setzt eine wichtige Miene auf. Dann stößt er mit dem Bleistift, sagt kurz: ›Küche‹ – und somit kommt Fritz in die größte Kochanstalt der Welt.



Viertes Kapitel

Shirley ist unten in der Wäscherei angekommen. Alles hier ist ihr vertraut und alles verhasst.



Die Luft, diese neblige, weiße, schwere Luft, der Geruch der Lauge, der nassen Linnen, der gebrauchten Wäsche, der frischgewaschenen Wäsche.



Sie kennt alle Geräusche, das Knarren der elektrischen Rollen, das schnelle, taktmäßige Rattern der Waschmaschinen, ihre gellenden Pfiffe, – die Zeichen, dass sie die ihnen vorgeschriebene Arbeit verrichtet haben, – das Summen der Gasflammen in der endlosen Reihe der Gehäuse, die die Gestelle zum Trocknen bergen.



Diese Geräusche vermengen sich mit dem gutturalen Lachen, mit dem Gesang und Geschrei der Negerinnen. Sie stehen stark und breit in dem riesigen Raum, dort, wo die Arbeit am schwersten ist, und lachen. Elfenbeinfarbene, kaffeebraune, erdschwarze Negerinnen, eine Farbenskala von gelb, braun und schwarz in allen Tönungen. Aber wenn sie lachen, scheinen sie sich alle mit ihren lebensvollen Lippen, mit ihrem schneeweißen, blendenden Gebiss zu gleichen. Die schwarzen Finger glätten die Laken auf den elektrischen Rollen; die vielen dunklen Hände, die die Bügeleisen führen, bewegen sich gleichzeitig, als hingen sie an ein und demselben Draht. Heute aber ist noch etwas im Raum, eine geheime Erregung, ein Flüstern, das verstummt, wenn die Aufseher vorbeigehen.



Der Führer eines der Wascheaufzüge, ein schmächtiger, älterer Mann, liegt auf dem Boden, in der Nähe eines Wascheschluckers, durch den die Linnen der täglich frisch bezogenen viertausend Betten in die Wäscherei befördert werden. Wie ein Wasserfall strömt die Wäsche auf ihn herab, sie verbirgt ihn fast ganz, aber es ist ihm recht so. Er will nicht von unberufenen Augen entdeckt werden, und die unberufenen Augen gehören den Vorgesetzten, die nicht sehen dürfen, dass er außer Atem, keuchend auf dem Boden liegt. Ein Neger, der auch sonst öfter die Aufzüge der Wäscherei bedient, fährt jetzt für ihn; vorläufig hat die Aufsicht noch nichts bemerkt.



Er versucht, den Atem zurückzuhalten, das Keuchen, das immer wieder aus ihm hervorbricht, zu bewältigen, aber es gelingt ihm nicht; im Gegenteil, ein Hustenreiz überfällt ihn, er spürt blutigen Schaum auf den Lippen. »Komm, wir führen dich zum Arzt«, sagen die Wäscherinnen, die mitleidig immer wieder nach ihm sehen, aber nicht weiter helfen können.



Die Worte kommen nur mühselig aus seinem Mund. »Nein, nein, niemand darf wissen, was geschehen ist, sie würden mich fortschicken.«



»Aber du bist doch nicht schuld, im Gegenteil, wir werden Lärm schlagen! Man sorgt nicht dafür, dass unsere Aufzüge in Ordnung sind, wir werden unser Leben nicht gefährden lassen.«



Folgendes war geschehen: Der Aufzugführer fuhr einige Wäschereiwagen in höhere Stockwerke. In seinem Aufzug nahm er auch Personal mit. Bis zum 10. Stockwerk ging alles in Ordnung. Hier stiegen verschiedene Hausmänner mit den Wäschereiwagen aus. Um ihnen Platz zu machen und sie hinaus zu lassen, verließ auch der Führer den Lift und hielt die Tür offen. Es waren nur noch Frauen in dem Aufzug. In diesem Augenblick stieg der Lift, ohne den Führer, ohne sichtlichen Grund plötzlich in die Höhe. Die Frauen kreischten; keine wusste, wie der Aufzug zum Stillstehen gebracht werden konnte. In tödlichem Schreck rennt der Führer die Treppen hinauf, dem Aufzug nach; er kann ihn nicht erreichen, der Aufzug ist schneller als er. Bis der Führer im nächsten Stock ankam, stieg der Aufzug schon weiter. Die Frauen schrieen in Panik und winkten ihm zu. Je höher er steigt, um so schwerer fällt ihm das Rennen, um so größer wird seine Angst. Später kann er überhaupt nicht mehr denken; er weiß nur, er muss den Aufzug erreichen, sonst geschieht ein schreckliches Unglück.

 



Die Treppen schienen zu wachsen; der Aufzug hatte schon einen Vorsprung von zwei Stockwerken, es war keine Hoffnung vorhanden, ihn zu erreichen, und doch kroch er ihm nach, auf Händen und Füßen!



Endlich, es erschien ihm eine Ewigkeit, eine Ewigkeit voll Grauen und Schrecken, erreichte der Aufzug das höchste Stockwerk, das dreißigste, und hielt an, ganz ruhig, so als ob nichts geschehen wäre. Der Führer kam herangekrochen, kalkweiß, als hätte jeder Blutstropfen sein Gesicht verlassen, mit schäumendem Mund, an allen Gliedern zitternd, öffnete den Aufzug, ließ die Frauen hinaus und fiel dann hin, halb bewusstlos.



Die Frauen schrieen nach dem ausgestandenen Schreck durcheinander.



»Mensch, wir dachten schon, das ist unsere letzte Fahrt.«



»Nicht für eine Million Dollar möchte ich das noch mal mitmachen.«



»Mach dir nur keine überflüssigen Sorgen, keiner wird dir eine Million Dollar geben, aber wenn die Herren denken, die Aufzüge für das Personal brauchten nicht extra gut zu funktionieren, kannst du den Spaß ganz umsonst noch mal erleben.«



»Wir beschweren uns, zum Teufel auch.«



Der Führer lag am Boden und konnte noch immer nicht sprechen.



»Eine Maschine kann schon mehr als so ein armes Menschlein.«



»Ja, für den Lift sind dreißig Stockwerke nichts, und der Mensch ist gleich hin, wenn er nur sechzehn Stockwerke schnell hinauflaufen will.«



Man schaffte den Führer hinunter in die Wäscherei. Nur langsam kam er zur Besinnung. Das erste, was ihm einfiel, war, dass seine Vorgesetzten nichts erfahren durften, man würde ihn entlassen. Man würde nie zugeben, dass der Mechanismus versagt hatte, sondern erklären, er sei der Schuldige, Er hatte Angst um sein Brot, nicht um sein Leben; er wollte keinen Arzt, er wollte weiterarbeiten. »Warte doch, bis du dich beruhigt hast, du stirbst ja.« Eine Negerin mit safrangelber Haut und mächtiger schwarzer Haartolle brachte ihm Wasser und einen Stuhl. »Komm, ruh dich aus, sei nicht so wild auf Arbeit, die läuft dir schon nicht weg. Auf Jonny kannst du dich ruhig verlassen, der vertritt dich schon richtig, und keiner wird was merken. Komm hinter den Wäscheberg, niemand wird dich sehen. Soll ich dir was vortanzen, damit du auf andere Gedanken kommst?«



Sie schnalzt mit der Zunge, bewegt rhythmisch ihre schmalen Hüften. Auf dem verzerrten Gesicht des Aufzugführers erscheint ein leichtes Lächeln.



»Siehst du, du kannst schon lachen, nun wird noch alles gut mit dir. Verlass dich darauf, wir werden schon das Maul öffnen und unsere Meinung sagen, ohne dir zu schaden.« Mit wiegenden Schritten verlässt sie ihn. Diese Neger, die in dunklen, schmutzigen Straßen zusammengepfercht in einem Stadtteil leben, den kein Weißer bewohnen möchte, sind die einzigen, die den amerikanischen Befehl ›Du sollst lächeln‹ auch wirklich befolgen. Sie, die die schwierigsten, die schmutzigsten Arbeiten verrichten, die durch Verbotstafeln immer wieder auf ihr Sklavendasein aufmerksam gemacht werden, diese Parias bestimmen einen großen Teil des Rhythmus dieser Stadt. Der Aufzugführer sieht mit leeren Augen der Tanzenden nach; er versucht vergeblich, seinem Atmen den ruhigen Rhythmus wiederzugeben; auf seinen Lippen erscheint immer wieder blutiger Schaum.



Die Belegschaft der Wäscherei pilgert hinter den Wascheberg, alle wollen ihn sehen. Alle schreien, dass sie ihre Meinung über die schlecht funktionierenden Aufzüge den zuständigen Stellen nicht verhehlen werden, – aber sobald Aufsichtspersonal in Sicht kommt, schweigen sie. Shirley legt zierliche, in Seidenpapier gewickelte Wasche in ihr Körbchen. Sie trägt Wasche aus, keine besonders schwere Arbeit. Shirley kommt überall hin, hört allerlei, aber sie ist heute froh bei dem Gedanken, dass es zum letzten Mal sein wird, dass es aufhören wird, dieses Hin- und Herrennen durch das ganze Haus, das Klopfen an den Türen, die Höflichkeitsbezeugungen. Sie wird dann auch nichts Schlechteres sein als die Gäste, die Damen mit der feinen seidenen Wäsche, sie wird genau so schöne tragen wie sie, wenn nicht noch schönere …



Alles, was um sie herum jetzt geschieht, hört sie nur mit halbem Ohr. Ja, die Aufzüge für das Personal, da kann man sich manchmal ärgern. Überhaupt, es gibt so vieles, worüber man sich ärgern kann, wenn man arm ist und kein Geld hat. So eine arme Kreatur rennt dem Aufzug nach, macht sich Sorgen und hat Gewissensbisse; und wenn sie draufgeht, kümmert sich kein Teufel um sie. N