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Die Stimme des Direktors, die vor lauter Freundlichkeit etwas zittert, bahnt sich nur schwer Weg.

Er muss einige Male den gleichen Satz wiederholen, bis er sich der Hoffnung hingeben kann, gehört zu werden. »Nun, ihr Leute, was ist eure Beschwerde?« Die Antworten aus allen Ecken des Saales tauchen im großen Lärm unverständlich unter.

Man hört nur wie einen Refrain die sich immer wiederholenden Sätze: »Die Kartoffeln stinken!«

»Die Kartoffeln sind faul!«

Der Direktor sieht die Neger im Saal, er sieht die Männer im Saal, und er beginnt mit angenehmer Stimme, die aber weit trägt, sich an diese zu wenden.

»Unsere farbigen Freunde und Freundinnen werden die Freundlichkeit haben, in ihre Speiseräume zu gehen. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, ist dieser Raum auch nur für das weibliche Personal bestimmt, und ich möchte deshalb die Männer bitten, in ihren Speisesaal zu gehen.« Aber nur sehr wenige folgen dieser Aufforderung. Die Zurufe werden lauter.

»Nee, mein Lieber, wir bleiben hier, man setzt uns den gleichen Fraß vor wie den Frauen, wir können ebenso gut zusammenbleiben.«

»Ich spreche in eurem eigenen Interesse, wir kommen besser vorwärts, wenn wir die Ordnung aufrechterhalten.«

»Ordnung! – als ob das in Ordnung wäre, uns verdorbene Lebensmittel vorzusetzen.«

Der Direktor sieht die Stimmung und besteht vorläufig nicht weiter auf seinem Wunsch.

»Nun, wem haben die Kartoffeln nicht geschmeckt?« Der ganze Saal braust auf, alles schreit und ruft durcheinander.

»Geschmeckt, das hat er gut gesagt! Keinem einzigen schmeckt es hier.«

»Man könnte es ganz gut bis zu den Direktionszimmern riechen, dass die Kartoffeln faul sind.«

»Du hast wohl Schnupfen, Oller, dass deine Nase nichts vom Gestank merkt.«

Der Direktor lässt sich nicht aus seiner Ruhe bringen. Väterlich spricht er weiter.

»Liebe Kinder, wenn ihr alle gleichzeitig auf mich einschreit, wie soll ich euch verstehen? Jeder einzelne kann mir seine Beschwerden sagen, und ich werde ihn anhören und für Abhilfe sorgen. Aber wenn ihr alle gleichzeitig schreit, verstehe ich nichts, ihr macht mich taub. Also bitte, es komme jeder einzeln zu mir.«

Einzeln, jeder einzeln! Die Masse ist plötzlich wie gelähmt. Man weiß, was es bedeutet, einzeln vorzutreten. Der Direktor weiß, was er will. Er kann auf diese Weise leicht die Unzufriedenen feststellen. Die Unzufriedenen, die es auch wagen, offen ihre Unzufriedenheit zu bekennen. Unter den ›goldenen Regeln‹ des Hotels, deren Kenntnis jedem Angestellten ans Herz gelegt wird, befindet sich auch folgende: »Das Hotel duldet unter dem Personal keine Unzufriedenen.« Von verschiedenen Seiten ertönt der Ruf:

»Einer kann für alle reden, wir haben alle die gleichen Beschwerden.«

Nein. Der Direktor geht darauf nicht ein, jeder kann nur für sich reden. Allgemeine Klagen anzuhören sei er nicht in der Lage, – er wiederholt es noch einmal. »Wem haben die Kartoffeln nicht geschmeckt? Der soll doch herkommen und sie mir zeigen.« Es wird immer stiller im Raum.

Der Direktor hat durch Ziffern die genauen Verluste des Hotels durch Personalwechsel festgestellt. Das Personal braucht keine genauen Ziffern. Jeder weiß, was er verliert, wenn er Arbeit suchen muss. Die Verluste des Hotels werden mit Abertausenden multipliziert, und sie ergeben sicher eine recht stattliche Summe. Die Verluste des Personals, der Einzelwesen, sind im Grunde lächerlich gering; sie verlieren nur einige Dollars. Aber diese wenigen Dollars bedeuten für sie das Leben, die nackte Existenz. Alle denken jetzt schaudernd an die Tage der Arbeitsuche, an die Stellenvermittlungsbüros. Und dann: das Anstehen frühmorgens vor den Fabrikkontoren, das Studium der ›Kleinen Anzeigen‹ in der ›World‹, die Hetze, die Angst vor dem Zuspätkommen, das Grauen vor dem Satz, der ihnen überall entgegengeschleudert wird: »Keine Arbeit mehr.«

»Alle Stellungen schon besetzt« … !

Besonders die Älteren, die am schwersten neue Arbeit finden können, überlegen sich, wie alles werden könnte, wenn sie wieder auf der Straße säßen.

»Meine Liebe, dieses grüne Gemüse macht hier einen Radau«, sagt eine alte Scheuerfrau zu der anderen, »das überlegt sich nicht, wie es noch weiter kommen könnte. Geht da meine Schwester vorige Woche auf eine Anzeige hin in das neue ›Luxusturm-Appartementhaus‹. Es wurden Scheuerfrauen gesucht. Der Portier fragte, wie sie heiße. Nun, Smith, und nicht anders. Warum er das wissen will? Nun, weil heute nur Frauen hereingelassen werden, deren Name mit ›F‹ anfängt, sonst wäre die Auswahl und das Gedränge zu groß.«

»Ja, man muss es sich zweimal überlegen, bevor man sich feuern lässt.« Zwei Jüngere sprechen.

»Es ist wahrhaftig noch besser, als Dienstmädchen zu gehen, dann hat man wenigstens sein anständiges Essen und Zimmer und besseren Lohn.«

»Und du hast den ganzen Tag und den ganzen Abend keinen Augenblick deine Ruhe! Ich kann dir nur sagen, ich habe meinen eigenen Namen gehasst. Immer das Rufen, das Herumkommandieren. Jetzt habe ich wenigstens meine Ruhe. Und wenn die Uhr vier schlägt, dann hat mir keiner mehr was zu sagen.«

»Nun, wem haben die Kartoffeln nicht geschmeckt?« Der Direktor scheint winzig inmitten der hin und her wogenden Menge, aber er repräsentiert die Macht, und jeder kennt die Bedeutung seiner Worte.

»Wir wählen einen Vertrauensmann, der für uns alle spricht.«

Das ist Fritzens Stimme, die unbeachtet untergeht. »Jeder komme einzeln, ich werde die Beschwerden prüfen.«

Der Direktor ändert nicht seine Taktik. Es wirkt überraschend und befreiend, als endlich die alte Nanny hervortritt und sich zu dem Direktor Weg bahnt. In ihrer Hand mit den fast fingerdicken Adern, dieser Hand, die aussieht, als wäre sie aus hartem, braunem Holz geschnitzt, hält sie eine glitschige, bläulich-schwarze Kartoffel, die Spuren ihrer Nägel aufweist. Diese Kartoffel streckt sie dem Direktor zu.

»Die Kartoffel ist faul, Herr, alle sind wie diese.« Der Direktor nimmt die Kartoffel zwischen zwei Finger, – zwei Finger, die weiß und glatt sind, gekrönt von glänzenden, rosigen Nägeln, die heute früh eine halbe Stunde lang von noch weißeren Mädchenfingern behandelt wurden. Mit diesen Fingern also nimmt er die Kartoffel und entkleidet sie völlig ihrer Schale.

Und beginnt zu essen! Aller Augen sind auf ihn gerichtet. Er isst, als befände er sich auf einer Bühne, als führe er ein Schauspiel vor.

Beobachtete man nur sein Mienenspiel, so müsste man annehmen, er verzehre eine besondere Delikatesse. Seine Zunge prüft feinschmeckerisch jeden Bissen. Er begnügt sich keineswegs mit halber Arbeit. Die ganze Kartoffel verschwindet zwischen dem Zahngehege.

Die Leute beobachten ihn, als wäre er ein Zauberkünstler, der ihnen ein besonders schwieriges Kunststück vorführe. Sie machen allerlei Zwischenbemerkungen, feuern ihn an und erleichtern ihre Wut durch boshafte Zurufe.

»Alterchen, du hast einen prima Magen, das kommt von der guten Pflege, die du dir angedeihen lässt.«

»Gib acht, dass dir die Stinkkartoffel nicht hochkommt, wenn du deine Bücklinge machst.«

Die jüngeren Männer, die einen Kartoffelvorrat mitgebracht haben, beginnen ihn sogar zu bombardieren. Eine Kartoffel, die innen ganz schwarz ist und weich, fliegt dem Direktor zu, streift seine Schulter und klatscht dann zu Boden. »Friss die!«

Am lautesten sind die ganz Jungen.

Salvatore zielt mit Schwung, unter Ingrids bewundernden Blicken, eine ausgewachsene Kartoffel, die nur einige Millimeter weit die Nase des Direktors verfehlt. Sie haben keine Angst mehr, sie sind wieder eine große Masse, in der man keinen einzelnen erkennen kann. Der Direktor findet, dass es notwendig sei, entgegenkommendere Töne anzuschlagen.

Er trocknet mit einem Taschentuch seine Finger und ruft dann mit gleichmäßig freundlicher Stimme, als habe er nichts von dem unbotmäßigen Betragen bemerkt, der Menge zu:

»Nun, Leute, ihr lasst mich kaum zu Worte kommen, ich will ja nicht behaupten, die Kartoffel sei gut. Es wäre aber auch unwahr, zu sagen, die Kartoffel sei ungenießbar. Nun, sie ist etwas angefroren, Viele würden das wahrscheinlich gar nicht merken, zum Beispiel ich, wenn ihr mich nicht vorher aufmerksam gemacht hättet.«

»Ja, man muss so verwöhnte Gaumen haben wie wir, man verwöhnt uns zu sehr, Chef.«

»Wollt ihr mich vielleicht ausreden lassen? Ich werde natürlich sofort Abhilfe schaffen. Unsere Einkaufzentrale erhält genügend Mittel, um euch tadellose Nahrungsmittel vorsetzen zu können. Ich verspreche euch die genaueste Untersuchung; wenn ich Missstände entdecken sollte, werde ich unnachgiebig vorgehen. Jetzt aber erwarte ich, dass jeder unverzüglich an seine Arbeit zurückgeht.«

»Und die Suppen, die wir bekommen, koste die mal, Chef.« Der Direktor bleibt auf seinem Stuhl stehen und verlangt einen Teller Suppe.

»Gib ihm nicht zu knapp, Joe«, rufen mehrere dem Suppenverteiler zu.

»Er soll nicht Hunger bei uns leiden.« Der Direktor beginnt, die Suppe zu löffeln; er isst, ohne eine Miene zu verziehen. Er löffelt und löffelt. Seine Lage ist nicht angenehm. Die vielen Augenpaare, die sich alle auf seinen Mund richten, sind nicht bequem. Aber er isst und isst, bis kein Tropfen übrig bleibt. Dann zeigt er den leeren Teller der Menge. Der Direktor lacht.

»Kinder, ich komme mir vor wie ein Baby, das Angst hat, es bekommt Haue, wenn es nicht alles aufisst. Aber Spaß beiseite, ich finde die Suppe nicht schlecht.«

»Aha, man will uns nichts Besseres geben.«

»Man glaubt, man kann uns mit einem Komödienspiel sattmachen.«

»Wir wollen richtige Abhilfe.«

»Bei der Untersuchung über die Einkäufe der Zentrale für die Personalküche soll auch von uns jemand zugegen sein.«

»Es gibt hier noch genügend andere Missstände, alle sollen untersucht werden.«

Der Direktor überhört alle Zwischenrufe; seine Rede geht glatt und liebenswürdig weiter.

 

Er weiß wohl, worauf es jetzt ankommt: sich vor bindenden Zusagen und Verpflichtungenhüten! Mit vielen Wortenmacht er vage Versprechungen und lässt versteckte Drohungen durchklingen.

Inzwischen ist das gesamte Aufsichtspersonal des Hotels einschließlich der »Offiziere‹ und Detektive in dem Saal erschienen. Die Unzufriedenen werden stiller, man möchte nicht erkannt werden. Denn vor den höheren Angestellten mit dem gut trainierten Personengedächtnis löst sich die gesichtslose Masse in bestimmte Einzelwesen auf. Andere, wie Fritz oder der Gemüseträger, die die Lage klar erkennen, sagen sich, dass die vollkommen unorganisierte, uneinheitliche Masse mit solchem spontanen Vorgehen keinen Erfolg davontragen kann.

Die Masse löst sich langsam auf, die Gruppen zerbröckeln, viele treten den Rückzug an und gehen zur Arbeit zurück, als wäre nichts geschehen.

Jetzt, in der faulsten Stimmung erhebt sich ganz unerwartet die heisere, junge Stimme Shirleys.

»Sag, Papachen, wenn es dir hier so schmeckt, warum isst du nicht immer mit uns?«

Sie ist selbst erstaunt, als sie sich reden hört. Sie findet die anderen feige, sie kuschen sich gleich, wenn man ihnen mit einer Drohung kommt, aber sie, sie will nicht schweigen. Und dann: sie kann es sich ja erlauben zu reden, morgen wird sie als reicher Gast wiederkommen. Dann wird der Direktor noch Bücklinge vor ihr machen. Heute ist ohnehin der letzte Tag, er soll wenigstens ihre Meinung hören über diese Lausebude, in der sie ihre Jugend verbracht hat. Viele, die sich schon der Tür genähert haben, bleiben stehen. Man will noch hören, was dieses freche Gör weiter sagen wird.

Shirley spricht nicht verhüllt von der Masse; sie hat sich herausgezwängt, herausgeschält, sie steht in unmittelbarer Nähe vor dem erstaunten Direktor.

Er dachte schon, den ganzen Krawall abgewehrt zu haben, und nun gibt dieses kleine Wäschermädel keine Ruhe. »Du meinst, ich würde mit euch nicht speisen, weil ihr zu schlechtes Essen bekommt?«

»Freilich meine ich das. Man setzt uns einen Fraß vor und tut noch, als ob wir es weiß Gott wie gut hätten. Schon der Gestank in unserem Speiseraum ist zum Kotzen.«

»Wie heißt du, Mädchen?«

»Ich heiße Shirley.«

»Nun, Shirley, sieh dich mal um.«

Der Direktor macht eine breite, ausladende Armbewegung und zeigt auf den Saal, der sich langsam zu lichten beginnt.

Shirleys Augen folgen den Bewegungen des Armes.

Es sieht wild aus im Saal. Die Tische sind noch nicht gereinigt, sie ertrinken fast in den Überresten des Mittagessens. Auch der Boden hat reichlich vom Abfall abbekommen. Neben den zerquetschten, verfaulten Kartoffeln liegen Brotkrusten, Schalen, schwimmt verschüttete Suppe. »Nun, Shirley, meinst du, die Verwaltung ist schuld an dem Zustand des Saales? Wenn euch übel wird von der Luft hier, solltet ihr für Ordnung sorgen.«

»Ach, Chef, tun Sie doch nicht so, als ob wir schuld hätten. Ich weiß, Sie werfen die Kartoffelschalen nicht auf die Erde. Ich weiß sogar, dass Sie Ihre Kartoffeln nicht einmal zu schälen brauchen. Ich weiß ganz gut, wie die reichen Leute essen, das sehen wir ja, wir haben auch Augen. Ich habe schon genau so fein gegessen wie Sie, Chef, mit Fingerschalen und Spitzentüchern vor dem Dessert. Aber wenn man mir schweinisch zu essen gibt, esse ich auch schweinisch. Und wohin sollen wir mit den Kartoffelschalen? Wir haben ja keinen Platz, wir sitzen zusammengepfercht wie Heringe in unseren wunderbaren Fauteuils.«

Shirley macht die weit ausladende Handbewegung des Direktors nach und zeigt auf die schmalen, lehnenlosen Bänke.

Im Saal lacht man.

Die Hiergebliebenen wollen jetzt noch nicht wieder an die Arbeit zurück.

»Ein verteufeltes Mädchen das.«

»Sie ist nicht auf den Mund gefallen, das ist einmal sicher.« Der Direktor möchte dem Gespräch ein Ende machen, aber Shirley ist nicht so leicht einzuschüchtern. Wenn sie schon angefangen hat zu reden, will sie auch alles sagen, was seit Jahren sich bitter in ihr aufgestapelt hat. »Warum sehen Sie sich, Chef, nicht unsere Zimmer an? Ein Stall ist ein Salon dagegen. Es ist fast so eng wie an unseren Tischen. Wenn ich aus dem Bett steigen will, stoße ich meine Nachbarin, und Dreck könnten Sie auch genug sehen. Auf unserem Korridor reinigt ein Stubenmädchen an einem Vormittag hundert Zimmer. Gut genug für uns. Faustdick liegen die Staubflocken unter unseren Betten.« Der Direktor zeigt bewunderungswürdige Geduld. »Hör mal, Shirley, du scheinst doch ein kluges Mädchen zu sein. Wenn es dir zu schmutzig scheint in deinem Zimmer, warum nimmst du nicht einen Besen und fegst mal ordentlich?«

»Erstens müsste ich eine halbe Stunde nach einem Besen laufen, wenn ich überhaupt einen bekomme, und dann sehe ich nicht ein, warum ich meine freie Zeit damit verbringen soll. Unsere Zimmer sind doch angeblich gereinigt. Und sehen Sie sich, Chef, mal unsere Wasche an. Alle Fetzen, die man nicht mehr ausbessern kann, die auseinander fallen, wenn man sie nur anrührt, gibt man uns. Oder sollten wir unsere freie Zeit damit verbringen, sie versuchen zusammenzunähen? So dumm, wie Sie meinen, sind wir noch lange nicht.« Der Direktor versucht, die Ausbrüche Shirleys ins Humoristische zu biegen.

»Nun, Mädchen, es wundert mich nicht, dass du keine Muße hast, dein Zimmer in Ordnung zu bringen; ich glaube eher, du verbringst deine freie Zeit als Volksrednerin und stehst nachts am Columbus Circle auf einer Seifenkiste.«

Aber Shirley ist auch jetzt nicht um Antwort verlegen. »Ja, das wäre schlauer, als versuchen zu ruhen. Man muss schon todmüde sein, um in den überfüllten Räumen schlafen zu können. Wenn das Schnarchen und Beten der Kolleginnen nicht stört, dann hat man die Wanzen. Jawohl, es wimmelt bei uns von Ungeziefer. Die Schaben spazieren am hellichten Tag im Trakt des Personals umher. Sie können selbst sehen, ob ich genug zerstochen bin.« Das Lächeln des Direktors bringt Shirley in Wut. Sie öffnet den weißen Kragen ihrer Uniform und zeigt auf ihre halbentblößte Brust, auf der einige Insektenstiche zu sehen sind. »Komm, Puppe, die Wanzen haben dich sicher auch sonst nicht geschont, zeig uns nur, wo sie dich überall gestochen haben.«

Aber solche Zurufe aus der Menge ärgern Shirley weniger als die spöttische Miene des Direktors. Er sagt nichts, lässt sie ausreden, obgleich er ihr das weitere Sprechen verbieten könnte. Aber wahrscheinlich hat er doch Angst, ein Verbot könnte noch schlechter und aufreizender wirken als ihre Worte.

»Ja zu uns schickt man die Kammerjäger alle Jahre einmal, obgleich man ganz genau wissen könnte, wie es da aussieht. Aber in die Gästezimmer gehen sie alle Tage.« Der Direktor beginnt jetzt die Geduld zu verlieren. »Genug, Mädchen, du gehst jetzt zurück an die Arbeit. Ich habe eure Beschwerden angehört. Ich werde mich dafür einsetzen, dass Untersuchungen vorgenommen und wirkliche Missstände abgeschafft werden.«

»Das sind doch alles nur leere Versprechungen.«

»So leicht lassen wir uns nicht beschwichtigen.« Aber diese Zwischenrufe gehen unter in dem mechanisch sich wiederholenden Satz, der von dem Aufsichtspersonal ohne Pause in den Saal gerufen wird: »Zurück zur Arbeit, zurück zur Arbeit.« Aber Shirley ist noch nicht fertig. Ihre Stimme ist schon ganz heiser, sie muss sich anstrengen, um dieses ›zurück zur Arbeit‹ zu überschreien.

Der Direktor ist von dem Stuhl gestiegen. Jetzt, wo er dem Ausgang zustrebt, von den ›Offizieren‹ des Hotels umringt, sieht man, dass er während der ganzen Zeit von einer Leibgarde umgeben war. Shirley aber verfolgt ihn.

»Und unsere Aufzüge funktionieren auch nicht! Man kümmert sich nicht darum, wenn da etwas nicht in Ordnung ist. Keine Klingel geht, wir müssen uns heiser schreien, wenn die Aufzugführer uns hören sollen.«

»Muss an zuständiger Stelle gemeldet werden.«

»Heute ist fast ein Unglücksfall geschehen, ein Aufzug ist von selbst losgefahren. Der Führer rannte zwanzig Stockwerke dem Aufzug nach, er ist ganz krank geworden.«

»Hat er dich aufgefordert zu reden, Mädchen?«

»Niemand hat mich aufgefordert, ich wollte einmal sagen, was ich denke.«

»Wie heißt du eigentlich, Mädchen?«

»Ich habe es schon einmal gesagt, ich heiße Shirley.«

»Und dein Familienname?«

»Ich heiße Shirley O'Brien. Es ist schön, dass ich auch einmal meinen ganzen Namen sagen darf. Ich arbeite hier schon seit sechs Jahren, aber man hat mich selten nach ihm gefragt. Genügt es nicht, wenn man meine Arbeitsnummer weiß? Ich bin Nummer 2122.«

»Shirley O'Brien, du hast anfangs von Fingerschalen und Spitzendecken, die du in feinen Restaurants gesehen hast, erzählt. Konntest du von deinem Lohn dahin gehen?« Shirley lacht mit Augen, die voll Hass den Direktor anfunkeln, aber sie lacht.

»Nein, nicht von meinem Lohn, Papachen, das hast du richtig erraten, aber bezahlt habe ich trotzdem, jawohl, Chef. Sie wissen das ganz gut, wie es hier zugeht. Die Mädchen, die hier für einen Dollar den Tag arbeiten, möchten außer den faulen Kartoffeln auch noch was anderes vom Leben haben.«

»Shirley O'Brien, wenn es so zugeht, wie du es sagst, soll es geändert werden. Wir geben unserem Personal, jedem Mädchen, das bei uns arbeitet, genügend Schutz. Wir verzichten auf die Mitarbeit solcher, die moralisch haltlos sind.«

»Ja, Schutz gebt ihr, nur kein Geld und kein anständiges Essen.«

Shirley wird still. Sie fühlt sich plötzlich müde. Der Direktor ist verschwunden, und sie steht da, verloren in der Menge.

Die Rufe ›zurück zur Arbeit‹ werden immer dringender. Ja, das Aufsichtspersonal beginnt Notizen zu machen. Gut, man weiß, heute würde man den Kürzeren ziehen, aber alle wissen, das letzte Wort wurde noch nicht gesprochen. Der Saal beginnt sich langsam zu leeren, nur Shirley wird umringt, trotz des Aufsichtspersonals, und trotz der dringenden Rufe.

Ingrid findet, man hätte ihr das nie zugetraut. Woher nahm sie nur soviel Mut?

»Du wirst gefeuert werden«, versichert Salvatore Shirley. »Ich bin ›moralisch haltlos‹, das hat er ganz schlau eingefädelt, der Direktor, nur deswegen wird man mich wegschicken; aber ich will ja gefeuert werden, mir liegt ja längst nichts mehr an dieser Lausebude.«

Celestina hält Shirleys Hand, sie blickt zu ihr auf, als sehe sie die Tochter zum ersten Mal. Sie hatte also auch anderes im Kopf, als ihre Vergnügungen. Sie dachte nicht nur an sich selbst, sie hatte sich Gedanken gemacht über das Leben, das sie hier alle führten. Nun braucht Celestina keine Angst mehr um sie zu haben, nicht mehr ihr nachzuspionieren. Sie würde schon selbst wissen, was sie zu tun hätte, wie sie den richtigen Weg finden müsse. Zum ersten Mal merkt die Mutter, dass Shirley kein Kind mehr ist, sondern ein Wesen, das selbständig handeln kann. Es gibt aber auch Missvergnügte, die sich nicht genug über Shirleys Auftreten empören können. Sie schimpfen besonders laut und vernehmlich über die Verderbtheit der heutigen Jugend, wenn eine der Haushälterinnen vorbeigeht. Patrizia ist es vor allem, die einiges über Shirley zu erzählen weiß.

»Sie klagt, dass sie nicht schlafen kann und kommt dabei gegen Morgen nach Hause. Wenn man tanzt, kann man auch nicht schlafen.«

»Ich hätte all die Frechheiten nicht angehört, wenn ich der Direktor wäre.«

»Mit diesem Großmaul wohne ich nun in einem Zimmer!« Shirley will hingehen und ihnen die richtige Antwort geben, aber Fritz kommt jetzt auf sie zu.

»Ich hätte dich kaum wieder erkannt, so anders hast du gesprochen als am Vormittag in der Küche. Wenn du lernen wolltest, könntest du viel für die Arbeitenden tun. Du könntest mithelfen, die Welt umzuwandeln. Es genügt noch nicht, zu wissen, dass es uns dreckig geht, wir müssen auch den Weg finden, es zu ändern. Ich möchte mit dir noch vieles reden, – wollen wir uns nach der Arbeit treffen?« Die Rufe ›zur Arbeit, zur Arbeit‹ werden jetzt so dringlich, dass alle, sogar Shirley dem Ausgang zustreben. Jetzt hat sie wieder ihre hochmütige Miene aufgesetzt. »Wenn du es unbedingt wissen willst, kann ich es dir ja sagen: ich habe nur gesprochen, weil ich weiß, dass ich Geld haben und reich sein werde, dass ich nicht mehr wie ein Tier werde leben müssen und die ewig gleiche Arbeit verrichten, dass ich ohnehin heute allem den Rücken drehen werde, dass ich keine Angst mehr zu haben brauche, vor keinem Direktor!«

»Wir können trotzdem noch einmal miteinander sprechen. Pass auf, wir werden uns noch treffen, du hast ja auch nicht geglaubt, dass wir uns heute mittag sehen würden.«