MIT DEN WELTMEEREN VERBUNDEN

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

TRAUER

„Meine Kondolenz dem Trauerhaus“, zittrig in modifizierter Sütterlinschrift, eine Postkarte mit gezacktem schwarzem Rand, von unserer Nachbarin, Jahrgang 1920, in den Briefkasten geschoben. Sie kannte uns als Paar seit vierzig Jahren. Damals territoriale Hausmeisterin, mit ihrem Mann im Vorderhaus einen Kohleladen betrieben. Er, rußverschmiertes Gesicht, uns stets grimmig hinterher gesehen, wir waren in keine seiner Kategorien von Frau einordbar. Bereits beim Einzug herrschte sie uns an. Wir, die junge politisierte Frauengang Ende der siebziger Jahre, schleppten ihr die Umzugskisten zu ausgelassen das Treppenhaus hoch. Später, als langjährige Mieterinnen akzeptierte sie uns schließlich, auch unser Verhältnis.

Eine echte „Berliner Pflanze“, der nichts fremd war. Erst zwei Monate davor eine andere Karte von ihr im Briefkasten: „Meinen Glückwunsch dem Hochzeitshaus…“

Inzwischen war mehr als ein Jahr vergangen, immer noch zögerte ich, trotz Plan und Überzeugung, das Hochzeits-/Trauerhaus für längere Zeit zu verlassen. Wer würde sich um ihr Grab kümmern? Berlin im April, kalt und stürmisch. Würden die Rosen den Frühlingsstürmen trotzen, die Rambler, Generous Gardener, von David Austen aus England.

„Fahr weg! Nimm Abstand! Du wirst sehen, nach einem Jahr wird alles besser!“ So beschworen mich die einen, die selbst den Verlust eines nahen Menschen erlebt hatten, andere gaben diese Prognose vom Hören-Sagen weiter.

Zunächst erreichte mich diese Form von Beschwörung nicht. Das änderte sich wenige Wochen nach ihrem ersten Todestag, als ich mich aus der Schockstarre löste, als sich diese berühmte Glasglocke, die mich hermetisch abschloss, ein wenig hob, ein Lüftchen Hoffnung einziehen ließ.

Woher kam diese „Quasi-Regel“, wer hatte sie definiert? Mir fielen spontan zwei Möglichkeiten ein. Eine pragmatische, biologisch begründete. Es könnte sein, dass sich die Hormone, Adrenalin und dessen Derivate, die durch den Schock der Todesnachricht in den Körper ausgeschüttet wurden, sich erst nach einem Jahr abgebaut hatten.

Zu prosaisch. Viel eingängiger wäre, dass nach dem ersten Jahr, jede Saison einmal, mit dem Verlustschmerz durchlebt war, dass die verlorenen gemeinsamen Rituale in jeder Jahreszeit nachempfunden waren.

Die Wege jetzt alleine zu gehen, an die langen Spaziergänge zu denken, durch den Tiergarten, fußläufig von unserer Wohnung. Einst der „Lustpark" für die Berliner Bevölkerung, Ende des 17. Jahrhunderts vom Kurfürst Friedrich III. angelegt, knapp ein halbes Jahrhundert vom Landschaftsplaner Peter Josef Lenné einem englischen Volkspark nachgestaltet.

Zahllose Spaziergänge in den vierzig Jahren. Zu jeder Jahreszeit, synchron mit den Schritten, unser nicht nachlassender Wortfluss, häufig um Ärger abzubauen. Mein Stress in der Wissenschaft, ihrer über die Politik. Immer erst den Ärger besprechen, dann geklärt, die freudigen Ereignisse, die meist widerstandslos mitliefen.

Gemeinsam auf Schrittlänge, im Januar, Februar, März über eine dünne Schneedecke, meist matschig hier oben im Nordosten. Selten durch hohen Schnee.

Im späten April durch die früh blühenden Rhododendronhaine, im südwestlichen Teil des Tiergartens. Durch ein Dickicht von Magenta über tiefrot bis weiß, das unter dichten Laubbäumen wuchert. Es hatte nichts Lichtes, empfand es seit je her bedrückend. Dann der Hochsommer, forschend durch den Rosengarten, uns laut Namen der Zuchten vorgelesen, die Farben verglichen, einander zärtlich die Düfte beschrieben.

Nun waren knapp anderthalb Jahre vergangen, erst, oder schon, und der erste Schock schien überwunden, nur der dumpfe Schmerz hielt an.

Ich hatte mit ihrem Tod die Verortung verloren, mein Koordinatensystem, in dem ich ein Leben lang zu zweit fest verankert war, aus dem Raum gerissen, ich jetzt mit halbem Leben dastand…

Noch konnte ich mir nicht vorstellen, dass dieser Verlustschmerz nachlassen würde, vielleicht schwächer werden … aber nie vergehen … und ich wollte ihn auch halten, denn er verband mich noch direkt mit ihr.

Berlin, 9. September 2015. Sieben Uhr morgens. Das Telefon am Bett schrillt, die Stationsärztin am Apparat. Waren wir nicht bald in der Klinik verabredet? Wollten wir an diesem Morgen nicht die Ergebnisse der Biopsie besprechen? Sie: „Keine gute Nachricht…“ Gefolgt von: „Ihre Partnerin verstorben…“ Im Gehörgang angekommen, nicht verstanden … stumm die Worte einzeln buchstabiert … ihre Bedeutung gesucht … nicht gefunden … es dauerte.

Nur der Körper reagiert sofort … behindert das Denken. Das Herz presst sich zusammen, Windkesselfunktion, im Druckausgleich entspannt es sich mit einem dumpfen Schlag, als knallte es aus dem Brustkorb…

‚Broken heart syndrom’. Gebrochenes Herz. ‚Vernichtungsschmerz’ nach Traumatisierungen, gefolgt von Herzrhythmusstörungen. Kann bis zum Herzinfarkt führen … entgegen der Ansicht am gebrochenen Herzen sterbe man nicht…

CHANIA I

Flughafen Ioannis Daskalogiannis, Freitagnachmittag, 17 Uhr. Die Maschine war pünktlich gelandet. Vor dem Laufband der Gepäckausgabe drehe ich mich suchend zur Glaswand vor dem Foyer um, dahinter Helen, mein Schreibcoach in spe, winkt mir zu, ich zurück, fast wäre mein Koffer an mir vorbeizogen.

Ein kräftiger Händedruck, ein strahlender Blick, wasserblaue Augen. Ihre Biographie auf der Webseite: Mitte fünfzig. Meine Körpergröße, kinnlanges kastanienbraunes Haar, ein kurzer akkurat geschnittener Pony unterstreicht hohe Wangenknochen.

Bestimmt würden wir gut zurechtkommen, hatten es uns bereits im Café in Berlin bestätigt … ahnten nicht wie schief es gehen würde.

Einige Meter nach dem Ausgang ein überfüllter Parkplatz, sie steuert auf einen typischen Mietwagen der Region zu, metallic blauer Fiat Panda, funkt ihn an, es piept zurück.

Gemächlich die Fahrt, stimmte sie mich auf die Landschaft ein. Wollen wir uns duzen? Selbstverständlich. Durch die Frontscheibe deutet sie auf einen hohen nicht weit entfernt gelegenen Bergzug. Dahinter lägen Grabdenkmäler aus der Zeit der römischen Eroberung Kretas. Ihr Mann, Archäologe der klassischen Antike, forschte hier seit Jahren mit kretischen Wissenschaftlern.

Der eigentliche Grund, weshalb sie von Frühjahr bis in den Spätsommer hinein diese kleine zweistöckige Stadtvilla mieteten. Gäste immer willkommen. Separates Apartment, kleiner Balkon, komfortabel. Sonst ihr Bereich im ersten Stock, ihr Mann Parterre, dreißig Jahre verheiratet, getrennte Gewohnheiten.

Ostwärts der Bergzug, auf den sich soeben ein Schatten legt, den Sonnenuntergang im Westen ankündigt. Gleich verdeckt eine dicht bebaute Häuserzeile unsere Sicht. Kurz darauf wird sie von einem Felsmassiv durchbrochen, ein Teil der eben noch von Weitem gesehenen Bergkette, erläutert Helen. Hier biegen wir rechts ab.

Es wäre ein Privileg, meint sie, bereits vom Balkon ihres Häuschens aus auf diesen Teil der Lefka Ori zu sehen, die ‚Weißen Berge’, Kretas größtes und höchstes Gebirgsmassiv. Bis zu 2500 km hoch, zieht es sich von Chania hier im Norden, bis hinunter an die Südwestküste von Paleochora.

Kurz phantasiere ich mich in eine waghalsige einsame Wanderung, auf einen der obersten Pfade des Felsrückens, von Chania nach Paleochora, in der letzten Woche meiner Reise, als Belohnung für ein erfolgreiches Arbeiten am Manuskript. Nur kurz imaginiere ich diesen Weg, kaum zu realisieren, so kraftlos wie ich war.

Durch die schmale Gasse talwärts, verlangsamt Helen das Tempo, hält direkt vor der Eingangstür eines einstöckigen, kalkweiß gestrichenen Hauses.

Vor der Tür, drei Stufen hoch, steht ihr Mann. Ein hochgewachsener magerer Endfünfziger, haarlose Schädeldecke, umrundet von einem rötlichgrauen Haarkranz, rötliche Haut der Rothaarigen, randlose Brille auf der langen schmalen Nase, die Arme verschränkt vor die Brust gehoben.

„Friedrich!“, eine laxe Handbewegung in seine Richtung. Er nickt mir reserviert zu: „Willkommen. Darf ich Ihr Gepäck nehmen?“ Auffällig, wie frostig er an Helen vorbeisieht.

Sie gleich wieder mir zugewandt, „…vielleicht möchtest du spazieren gehen, Beine vertreten nach der langen Reise?“ „Ja, sehr gerne … sofort das Meer sehen und riechen.“ Ihr Mann trägt derweil Rucksack und Koffer ins Haus.

Während wir Gehen, entschuldigt sie das Wetter. Ungewöhnlich kalt für diese Jahreszeit. Zieht ihren Schal enger um den Hals, ich schließe die oberen Knöpfe meiner Jacke.

Es mache mir nichts aus … fände es sogar schön… hätte mich schon lange nach Meeresluft gesehnt. Sie lächelt zufrieden. „Nun, die bekommst du hier reichlich, auch Kultur, denn nicht weit entfernt liegt der ‚Alte Hafen’, noch aus der venezianischen Ära Kretas, wunderschön!“

Entlang der Standpromenade, der Sonnenstand tief, verdeckt von bleigrauen Wolkenschwaden, spontane Regenschauer, Windböen kommen auf. Mit gekrümmten Rücken ducken wir uns weg von der Gischt, die uns vom Meer entgegen peitscht, springen weg von den schaumigen Wellen die über die nur hüfthohe Sandsteinmauer schwappen.


Strandpromenade in der Dämmerung

Gleich war es wieder windstill und milde und zwischen den aufgerissenen Wolkenschwaden entstanden kleine azurblaue Inseln, durchzogen von den letzten rötlich-violetten Lasern der untergehenden Sonne.

Die dicht gereihten Restaurants an der Strandmauer scheinen endlos, schmal der Durchgang, nur schlängelnd vorbei an Tischen und Stühlen, die bis knapp vor die Sandsteinmauer gestellt waren.

 

Unvermittelt bleibt Helen stehen, deutet in eine Seitengasse: „Schau, dort liegt das Vergnügungsviertel von Chania … dort wohnen nur Prostituierte.“

Unter den Straßenleuchten huschen ein paar Gestalten in das eine oder das andere Haus. Ein Rotlichtviertel also, eine eigene Erlebniswelt. Zwei Tage später, würde ich genau an dieser Stelle eine sinnliche Illusion zerstören, kurz davor aufgebaut, ein schwacher Versuch, meiner Verlustwelt zu entfliehen.

An der Hafenwerft

Wir gehen weiter, biegen am Ende der Strandpromenade nach einer kurzen Häuserzeile links ab. Danach eröffnet sich die Bucht von Souda, mit dem ‚Alten Hafen’ von Chania.

Rechtsseitig, am Ende eines weitläufig gepflasterten Platzes mächtig, eine Werft aus der venezianischen Epoche Kretas, davor eine Café-Lounge. Um 180 Grad nach links gedreht, säumen zahlreiche Restaurants und Hotels die hufeisenförmigen Hafenbucht.

In einem Café vor der Werft, ein paar verlorene Gestalten, tief in Korbstühle versunken, eng in Wolldecken gehüllt. Etwas entfernter laute Unterhaltung, tosendes Gelächter in Intervallen, ein Pulk von Leuten vor dem Eingangstor der Werft. Während wir uns nähern öffnet sich das Tor, der Pulk löst sich, strömt in die Halle.

Wir nicken uns einvernehmlich zu, folgen dem Strom, vorbei an einem Plakat an der Wand: Vernissage! Gleich nach dem Eingang zur Seite getreten, blicken wir in eine ungefähr zehn Meter lange, sechs Meter breite Halle mit himmelhoher kuppelförmiger Decke.

Sämtliche Wände sind mit großformatigen farbintensiven Gemälden behangen. Menschen in Liebesakten umschlungen, mal zu zweit, mal zu dritt, kopfüber, kopfunter.

Gleich sind wir uns einig, die Ausstellung erst in den nächsten Tagen anzusehen, drängen dem nachfolgenden Strom entgegen wieder nach draußen.

"Können wir nicht gleich hier bleiben", frag ich. Die Anstrengung der Reise, müde Glieder, von früh morgens an auf den Beinen. Helen: „Allerdings bekommst du heute Abend hier kein Essen, ... die Vernissage…“

Ist für mich okay, bin nicht besonders hungrig, andererseits … denke laut nach … trage seit Berlin Geschmackserinnerungen an ein klassisches mediterranes Menü mit mir herum: Gegrillte Sardinen, beträufelt mit Zitrone, Backkartoffeln und Blattsalat in süßsaurer Vinaigrette.

Sie deutet auf die Restaurantzeile, „dort drüben … wann immer du willst … zahlreiche exzellente Fischrestaurants.“


Der Leuchtturm, zur Mittagszeit

Wir lassen uns in der vorderen Stuhlreihe nieder, schlagen die Wolldecken, die bereit liegen, über den Schoß. Dämmerung tritt ein. An der Mauer der Werft glimmen historische Lampen auf. Ein Kellner tritt an unseren Tisch. Kretikos, weißer griechischer Wein. Bald reflektiert sich das Licht der Lampen goldgelb in die Weingläser, daneben ein Schälchen mit gesalzenen Erdnüssen, gerösteten Kichererbsen.

Das Tor der Werft war nun geschlossen. Verspätete Besucher mühen sich noch am schweren Tor, ziehen es einen Spalt auf und zwängen sich im Lichtkegel, der von Innen herausfällt, in die Galerie. Möglich, dass die Kuratoren soeben ihre Ansprache halten.

Stille in der Hafenbucht, es sind nur wenige Leute unterwegs. Zu kalt, zu feucht zum Flanieren, bemerkt Helen. „Schau…“, sie deutet unvermittelt auf die Gegenseite der Hafenbucht, die von einer hohen Sandsteinmauer begrenzt ist: „Der berühmte Leuchtturm in Form eines Minaretts, der letzte irdene Fixpunkt in der Hafenbucht, dahinter eröffnet sich das Ägäische Meer.“

Der Himmel inzwischen vollends zugezogen, kurz lenken Windböen wieder Schnürregen auf uns. „Heut Abend hast du mit diesem Wetter richtig Pech“, bedauert Helen, „bei klarem Himmel, ein phänomenaler Sonnenuntergang … die Touristenattraktion überhaupt.“

Wir ziehen die Jacken enger, sinken tiefer in die Stühle, plaudern über das Wetter, über die geringe Anzahl der Touristen in dieser frühen Saison, sonst menschenüberflutet, und über die schwierige wirtschaftliche Lage Griechenlands.

„Hier auf Kreta geht es den Bewohnern weitaus besser als beispielsweise in Athen…“, resümiert Helen, „…wenn auch sehr viele Immobilien besitzen, meist jedoch nur kleine Häuser, von den Eltern, den Großeltern geerbt, dann aber kein Geld um sie Instand zu halten. Junge Leute, ohne Aussicht auf Jobs, vor allem die nicht, die schlecht ausgebildet sind … und andernorts in Griechenland noch viel schlimmer…“

Helen sieht Richtung Leuchtturm, spricht mehr vor sich hin als zu mir: „In dieser kleinen Stadt lebt es sich dennoch sehr angenehm. Nach all den Jahren sind wir heimisch geworden… Mein Mann noch mehr als ich … ist integriert … bedingt durch sein Forschungsprojekt … für mich übrigens auch sehr spannend, dadurch zudem Freunde aus seinen Wissenschaftskreisen gefunden…“

„Allerdings…“, sie spricht nun leiser, flüstert fast, „…meist Krisensitzungen, ständig fehlen Forschungsmittel.“ Dann, unerwartet nüchtern: „Genau genommen bin ich sein Anhängsel.“ „Aber…“, den Oberkörper nun aufgerichtet, „…so oder so, habe genug eigene Interessen, schon durch mein Schreibcoaching, weswegen du ja auch hier bist… muss aber als freelancer zusehen, dass ich zurechtkomme … er verdient ja auch nicht die Welt, schwächelt schon ewig als Wissenschaftlicher Mitarbeiter vor sich hin…“

So monologisiert sie weiter, schildert die Sorgen ihres Mannes, seine Ängste um das Forschungsprojekt, um seine Karriere, „genau genommen…“ fährt sie fort … und ich verziehe mich unter meine Glasglocke, versinke in meine konservierte Verlustwelt … habe noch keine Leerstellen frei, um sie mit den Sorgen anderer zu belegen.

Gleich verliere ich mich in Erinnerungen, selektiere nur Sätze ihrer Rede, um sie mit „Oje“, oder „Schlimm“ zu kommentieren.

Hier war ich also. Griechenland, der Wiege Europas… jetzt, das Schuldenkrisenland…

„Aus der europäischen Gemeinschaft wird es nicht entlassen!“, postulierte die leidenschaftliche Europäerin, die Frau, deren Verlust ich immer noch nicht begriff, sie, die politische Statements nur zu oft mit heiligem Zorn traf.

Das Meer in der Bucht inzwischen tiefschwarz, der Leuchtturm wirft durch den Nebel einen milchigen gelb-orangenen Lichtkegel auf das offene Meer. Eine starke Brise befeuchtet mein Gesicht, fahre mit der Zunge die Lippenränder entlang, schmecke Salz, atme tief durch, entspanne.

Gleich holt mich mein Schreibcoach in spe aus diesen Gedanken in ein Gespräch zurück: „Ein wenig über unsere Zusammenarbeit sprechen…?“

„Ja, richtig!“ Angestrengt präsent, kämpfe ich inzwischen gegen die Reisemüdigkeit an, entlasse eine Wortkaskade, in gewisser Weise um mich selbst zu stimulieren: „Buchprojekt voranbringen … Schreibstil ändern … neu strukturieren, das Mischmasch aus Wissenschaft und persönlicher Erfahrung klären…“

In etwa so, wie ich es ihr bereits in Berlin geschildert habe, jetzt nur persönlicher… „Aus der Bahn geworfen durch die Trauer … kann nicht mehr schreiben…“

Mit wachem Blick war sie meinen Schilderungen gefolgt, versicherte mir mit, nach meinem Klischee, schwäbischer Aufrichtigkeit, sich genau dieser Aufgabe zu stellen. „Ohne fertige Struktur für ein lesbares Buch, lass‘ ich dich nicht wieder abreisen.“

Beruhigend, diese Zuversicht … wenn sie mir auch etwas angestrengt erschien. So oder so, ich hatte mich auf dieses Experiment eingelassen, musste es also gelingen…

Später, nachdem alles schief gegangen war, realisiere ich, dass wir beide überfordert waren: Sie durch mein umfangreiches Manuskript, ich vielleicht durch den Wunsch, mich am Erfolg ihres Coachings seelisch aufzurichten ... von vorneherein jedoch nicht arbeitsfähig…

Inzwischen zunehmend kühler, hier in der Bucht am Alten Hafen von Paleochora. Fröstelnd kriechen wir tiefer in die Korbstühle, brechen wenig später auf. Zügig unter den grellen Neoleuchten entlang der Strandpromenade zurück ins Haus. Sehne mich nach Schlaf.

Die Stadtvilla

Bleiern die Holztreppen hoch in den ersten Stock, Helen hingegen mir munter nach, wollte mir noch die Räume zeigen. Ich sollte aber keine zu großen Erwartungen haben, möbliert gemietet, nicht unbedingt nobler Stil, sie grient.

Die erste Tür weit geöffnet. Blick in das Arbeitszimmer, mein Gepäck auf dem Boden. Frontal stand die Balkontür auf, ein Windstoß blies den Schal der weißen Gardine bauchig in den Raum hinein. Rechts an der Wand ein kleines Sofa, Zweisitzer, schlichter hellgrauer Baumwollbezug, flacher Glastisch, davor ein Sessel im gleichen Stil. Blasse Illustrationen von der Insel an der Wand.

Zügig den Balkon angepeilt, ruft sie mir nach hinten zu: „Schau nur, dieses Panorama.“ Ich trete hinzu, beuge mich über die schmale Brüstung, folge ihrer Handbewegung. „Im Norden das Meer … im Süden die „Weißen Berge.“

An der Strandpromenade grelles Neonlicht, das Meer dahinter tiefschwarz. Unter uns markieren Laternen die Häuserzeilen Richtung Süden, die Gasse entlang gesehen, bis hoch zu der Straße, die wir erst heute am späten Nachmittag heruntergefahren waren. Auf dem Bergmassiv weit oben eine helle Spitze, offensichtlich schneebedeckt.

Wir schreiten in den Flur, über braun gebrannte Terrakotta. Eine Tür führt in die Schlafkammer, darin kein Fenster. Bäuerliches Mobiliar, grob gezimmertes Bettgestell, die Kommode in rotbraunem Teak.

Wieder zurück in den Flur, führt die nächste kleine Holztür in die Toilette, daneben Dusche, kleinflächig gräulich gefliest. Ein paar Schritte weiter, ein flüchtiger Blick in die Küche. „Noch einen Schlaftrunk?“ Ich bedauere … „zu bettschwer, gute Nacht, bis morgen.“

Bevor sie die Treppe hinabsteigt, dreht sie sich mir noch einmal zu, ruft: „Morgen Proviant einkaufen? Ein Markt ganz in der Nähe. Gegen neun Uhr, noch vor dem Arbeitstreffen unten vor der Haustür?“ „Ja“, sag ich, „gerne.“

Höre sie noch im Parterre die Tür zu ihren Räumen öffnen, etwas zu laut zuschlagen. Es folgt ein Gemurmel, das gleich etwas lauter wird, offensichtlich begrüßen sich die Eheleute, nicht besonders freundlich. Hellhöriges Haus.

Ziehe meinen Rollkoffer ins Schlafzimmer, wühle ungeduldig in der Wäsche, ziehe den Schlafanzug heraus, Zahnbürste, Zahncreme. Mit einem Schlag drängender Hunger, durchwühle die Seitentasche nach dem Sesamkringel, an Board der Aegean Airline in die Serviette gehüllt.

Auf dem Flug kein Mittagessen … es war ungenießbar. Die Flugbegleiterin neigte sich über meine Sitznachbarin hinweg mir zu, fragte was ich wünsche.

Sie, wie alle ihre Kolleginnen, uniform. Das Haar im gleichen Stil: Ein Dutt, in einem mit Perlen besticktem Haarnetz. Vielleicht griechisch antik beabsichtigt, wieder modern. Der knallrote Lippenstift, alle exakt im gleichen Farbton, wirkten dadurch geklont…

Die strenge Serviermimik nicht anders, kompatibel zum Dutt, vielleicht ebenso klassisch griechisch beabsichtigt, kam extrem unfreundlich herüber. Nicht ungerecht werden, ermahnte ich mich, erst vor kurzem las ich: „Flugpersonal überlastet, unterbezahlt…“ Vielleicht planten sie soeben den Streik.

Sie beugt sich über den Servierwagen, kramt unwillig nach einem vegetarischen Menü, wühlt in der untersten Schicht kreuz und quer gehäufter Schachteln aus Alufolie. Fischt eine heraus, schiebt sie mir wortlos auf den Klapptisch. Strenger Blick, ich hatte vergessen es beim Einchecken extra zu ordern.

Hermetisch geschlossen der Aludeckel , schwer abziehbar, darunter eine fade Masse zu weich gekochter Nudeln, on top ein Klacks Tomatensauce, that’s it… Mein Sitznachbar schaufelt sich Nudeln mit Geschnetzeltem in Tomatensauce in den Mund, on top reichlich Parmesan, dekoriert mit frischem Basilikum… Bekanntermaßen werden Vegetarier bestraft, wegen ihrer abseitigen Moral, die den Fleischessern den Genuss vermiest…

Vor dem Einschlafen also wälze ich mich mit knurrendem Magen hin und her. Gleich brauen sich Hörerlebnisse im Gehirn zusammen. Versuche sie zu sortieren. Betawellen des erinnerten Fluglärms, der Brandung und der Gischt vom Abendspaziergang, zudem Bässe einer Musikanlage, hier im Haus, noch überlagert, von einem undefinierbaren Stimmengewirr. Sie waren nicht mehr auseinanderzuhalten, schließlich zog mich der Schlaf hinweg.

Nach dem stürmischen Abend meiner Ankunft, brach am nächsten Morgen in Chania auf Kreta der Frühling an. Der Himmel war fortan strahlend blau.

Wie verabredet, stehe ich gegen neun Uhr vor dem Haus. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, das Gesicht gen Osten gerichtet, sonnensüchtig nach den nicht enden wollenden nasskalten Wintertagen in Berlin. Bereit mich auf eine Ablenkung einzulassen, alleine durch diesen Marktgang.

 

Mercato Agora di Chania

Bald tritt Helen vor die Tür. Müdes Lächeln, schwere Lider, ein knapper Gruß. Höre tief im Haus eine Espressomaschine brodeln, Geschirr zu laut scheppern. Keine gute Stimmung zwischen den Eheleuten.

Die schmale Gasse hoch, nehmen wir den Anstieg vorbei an eng aneinandergebauten, ein- bis zweistöckigen Häusern. Ehemals weißgekalkt, jetzt schmutzig grau, der Verputz abgeblättert, vielleicht durch den Winter verwittert, vielleicht wegen Geldnot vernachlässigt. Reine Wohngegend, keine Geschäfte, nur ein Sportcafé an der Strandpromenade.

Hier und da kleine Freiflächen, auf denen wild ausgesät trockene Kräuter vegetierten. Vereinzelt Carports aus Aluminium, verwahrlost das Ambiente.

Die Gasse oben, liegt vor uns das Felsmassiv der Lefka Ori, welches die Häuserzeilen unterbricht. Davor also die breite Straße, die wir bei unserer Anfahrt vom Flughafen gestern Abend nahmen, nun links abbiegen.

Einige Seitenstraßen weiter, landen wir in einem Getümmel auf dem Wochenmarkt. Helen deutet nach frontal: „Schau, die berühmte Markthalle, Mercato Agora di Chania“, vom Marktplatz übergangslos einzutreten.

Noch über den Marktplatz hinweggesehen, eine verkehrsreiche Straße, an deren Rand zwei Romni auf dem nackten Boden sitzen. Sie schaukeln mit einer Hand rhythmisch die Kinderwägen in denen Kleinkinder mit noch schwachem Rücken versuchen sich aufrecht zu halten, unruhig mit den Ärmchen wedeln, vor sich hinplappern. Die Mütter halten die andere Hand bettelnd auf, begleitet von ritualisierten Gebärden.

Sehe aus der Ferne nur die Münder bewegen. Kenne aber diese Litanei von Bittsprüchen, diese Gesten der Roma die aus Osteuropa, meist aus Rumänien, immer wieder kurzzeitig in unserem Stadtbezirk auftauchten. Erst den Handteller aufhalten, dann die flache Hand auf die Brust schlagen, anschließend die Hand auf den Mund gelegt und abschließend gen Himmel gedreht um das Ganze zu wiederholen.

Wir betreten die Markthalle. Einzelne Läden waren in kleinen Nischen voneinander getrennt. Jener vor uns war auf alles spezialisiert, was aus Oliven hergestellt werden konnte: Öle, Pasten, Seifen.

Der Verkäufer nimmt sich Zeit, wir sind noch die einzigen Kunden. Er preist sein Olivenöl an, kalt gepresst auf der Steinmühle. Die Flasche schräg geneigt mir entgegengehalten, weist auf das Etikett hin, handgezeichnet. Ich verliere mich in seinen Beschreibungen…

Helen unterdessen nahe dem Eingang, trommelt ungeduldig mit den Fingern auf den Tresen, ich bezahle eilig, wir treten zurück in die Halle.

Kräftiger Kaffeegeruch zieht mich zum nächsten Laden, ignoriere Helens Ungeduld. Griechischer und marokkanischer Mokka, hundert Prozent Arabica. Tafeln handgeschöpfter schwarzer Schokolade, 99% Kakaogehalt. Würde die Verkäuferin gerne nach dem Ursprung der Bohnen fragen, lass es. Bezahle eilig den Mokka, denn Helen, draußen vor der Tür, schaut ungeduldig nach mir.

Noch durch das Labyrinth enger Gänge, dann hinaus auf den freien Platz, an Marktständen vorbei, lass mich unbeirrt vom Strom vorwiegend Einheimischer mitziehen, mal hier mal da ein kleiner Rempler.

Von einem Stand steigt Aroma auf, etwas erdig, metallic, Flaschentomaten terrassenförmig in Holzkisten geschichtet, nach Farben geordnet, knallrot, gelb, moosgrün. Auf einem Schild steht für die Touristen in englischer Sprache: „From the mountains“.

So früh in der Saison vermutlich aber aus Gewächshäusern oder aus Holland importiert, sogar aus Deutschland könnten sie sein, billiger als die heimische Produktion… Routinemäßig reißt der Händler eine Plastiktüte aus einem Stapel tausender hauchdünner Schichten. „No plastics…“, erzieherisch gemeint, deute ich auf meinen Rucksack.

„Hier ist sowieso alles ganz frisch…“, murmelt Helen mürrisch vor sich hin, „…von kleinen Kooperativen aus den Bergen.“

Eindeutig, an Lebensmitteln war sie nicht übermäßig interessiert, nicht der ‚Ökotyp‘. Später, nur durch einen Nebensatz erklärbar. In Ablehnung ihrer Eltern, fanatische Anhänger diätetischer Ernährung, der Freikörperkultur.

An einem anderen Stand Feta in milchiger Flüssigkeit, daneben aufgetürmt frisch gebackene Fladen Pita Brot. Bestreut mit Sesam die einen, andere mit Schwarzkümmel, ein Stapel ohne Gewürze. Gleich wieder desillusioniert. Industriemehl, selbst hier im Ruralen, mussten Lebensmittel extra als „organic“ deklariert werden.

Helen zunehmend ungeduldig, ich gehe stur weiter. Auf einem Tisch flache Holzkisten, fleischige Datteln, braungelackt, einzeln in Strohballen gebettet, sorgfältig dekoriert wie Pralinen: „Imported from Libya“. Libyen im Krieg.

Sinniere über Helens Missstimmung. Vielleicht familiärer Stress, vielleicht aber auch überforderte sie das Coaching… Ich hingegen trödelte, wollte durch den Marktgang vielleicht das Coaching verzögern… Vielleicht auch ... konnte sie diese bleierne Trauer, die mich umgab schlecht ertragen…

Zurück im Haus, das Eingekaufte in die Küche, ein schneller Kaffee, getrennt eingenommen. Dann die erste Sitzung. Helen klopft: „Tritt ein…“ rufe ich. Sie schiebt sich mit einem Stapel Papierbögen in das Arbeitszimmer. Gleich ein erstaunlich kurzes Intermezzo. Sie: „Fasse dein Thema zusammen, deine Ideen." Erhebt sich, ergreift die Türklinke, zieht die Tür auf und: "Nächstes Treffen 15 Uhr!“, schon war sie wieder draußen.

Schreibblockade

Thema zusammenfassen, Ideen sammeln? Mein Inhaltsverzeichnis per Email an sie geschickt, bereits vor einigen Wochen, angehängt das Exposé. Welche Methode mag sie verfolgen? Für mich geeignet?

Seit mehr als zwanzig Jahren schrieb und lehrte ich … zugegeben vorwiegend wissenschaftlich und in englischer Sprache, gelegentlich auch deutschsprachige Features … damals … damals, als ich nicht durch Trauer blockiert war…

Mein einziges Buch im Reisegepäck, ein Beispiel für gutes Gelingen. Hugh Aldersey-Williams, Humanbiologe wie ich. Zerlegt darin den menschlichen Körper, kapitelweise in Organe. Portraitiert sie, sowohl medizinisch als auch kulturhistorisch. Reich an illustren Beispielen, vorwiegend eloquent.

Die Funktion der Haut, das Fettgewebe, des Herz, die Augen und das Gehirn. Er nimmt alle Organe mit auf kulturgeschichtliche Exkursionen, schildert eine Allegorie ihrer materiellen Werte am Beispiel Shakespeares ‚Kaufmann von Venedig’. Könnte mein Buch stilistisch doch ähnlich aufbauen…

Wäre ich nur nicht so blockiert, so ganz ohne Aussicht auf eine Lösung von der bleiernen Trauer… Gestern früh noch war ich mit großer Hoffnung von Berlin abgeflogen. Jetzt in diesem Haus auf Kreta, vor einem Stapel leeren Papiers…

Ziehe einen Bogen aus dem Stapel, setze den Stift an, lege ihn wieder ab. Stehe auf, trete von einem Fuß auf den anderen. Die paar Schritte auf den Balkon, sehe himmelwärts.

Der Himmel wolkenlos und stahlblau, darunter das Meer, spiegelglatt. Noch gestern Abend in der Dämmerung, duckten wir uns unter dunklem Gewölk die Strandpromenade entlang, gebeugt gegen den Nieselregen, gegen die stürmischen Böen…

Zwinge mich zurück an den Arbeitstisch, sehe auf das leere Blatt, stehe wieder auf…

Mittagspause. Die kleine Küche ist gut ausgestattet. Gasherd mit zwei Flammen, daneben die Spüle. Pfannen und Töpfe im Regal, gegenüber der Tisch, daran zwei Stühle. Eine Glastür mit weißem Kunststoffrahmen führt auf eine winzige Terrasse. Leerer Wäscheständer, Keramiktöpfe aus ungebranntem Ton, wahllos herumgestanden, daraus Geranien mattrot, halb vertrocknet.

Im Haus gegenüber, eine Frau mittleren Alters. Den Oberkörper über die Brüstung eines französischen Fensters gelegt, blickt argwöhnisch zu mir herüber.

Zurück in der Küche, setze ich Wasser auf, lass den griechischen Mokka aufkochen, rühre bis sich das Pulver auf dem Grund absetzt. Pita Brot mit Olivenöl beträufelt, zu Tomaten und Datteln auf den Teller gelegt. Esse mit müder Gleichgültigkeit.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?