Der Barbarossa-Effekt

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Cem betrachtete den kometenhaften Aufstieg seines Freundes mit einiger Sorge. Er fragte sich, ob jemand von Marcels Charakterstruktur mit so viel Geld, Einfluss und Aufmerksamkeit umgehen könnte, ohne dabei die Bodenhaftung zu verlieren. Er bezweifelte es.

»Du bist doch bloß neidisch«, lachte Luna, als er diese Bedenken ihr gegenüber äußerte.

Nein, neidisch war er nicht wirklich. Aber es wurde allmählich Zeit, dass auch er sich nach einer besser bezahlten Arbeit umsah. Für seinen Job als Elektrotechniker bei der Bahn fühlte er sich deutlich überqualifiziert. Er hatte diese unterbezahlte Stelle am Hauptbahnhof Köln nach dem Studium hauptsächlich angenommen, um sich erst einmal ein paar Mark zu verdienen und wieder in der Nähe seiner Familie wohnen zu können. Inspiriert durch Marcels beneidenswerte Erfolge, wollte er jene Entscheidung jetzt neu überdenken.

*

Herbst 1993, Köln-Mülheim

Mutlu Aytemiz stammte aus einem kleinen Dorf in Ostanatolien. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren hatte er seine Jugendliebe Gül geheiratet, ein stilles Mädchen aus dem Dorf. Knapp ein Jahr später war er stolzer Vater eines Sohnes namens Kemal geworden. Die kleine Familie hätte sehr glücklich sein können – wenn sie nicht bettelarm gewesen wäre.

Meist war Mutlu davon abhängig, dass ihn sein Onkel finanziell unterstützte, und bei dessen Großfamilie wohnten sie damals notgedrungen seit der Heirat. Er hatte sich für seine anhaltende Unfähigkeit, seine beiden Lieben aus eigener Kraft ernähren zu können, oft geschämt.

In dieser abgelegenen Bergregion gab es kaum Arbeitsplätze. Viele Dorfbewohner wanderten deshalb in die Städte ab. Dort lebten die einstigen Nachbarn, wie man in der Gemeinde hörte, jedoch auch eher schlecht als recht, fühlten sich zudem entwurzelt. Das alltägliche Leben verlief dort freizügiger, weniger gottesfürchtig, was viele empfindlich störte.

Mutlu verwarf daher den Gedanken, es ihnen gleich zu tun. In den Städten waren die Lebenshaltungskosten viel höher, sodass ein Arbeitseinkommen sowieso vollständig davon aufgefressen worden wäre. Zudem war seine Gül ein überaus heimatverbundener Mensch, ihre Familie lebte ebenfalls seit vielen Generationen hier in den Bergen. Es hätte ihm das Herz gebrochen, sie aus ihrem gewohnten Umfeld zu reißen.

Trotzdem, irgendetwas musste sich ändern. Der junge Mann mit dem lackschwarzen Lockenhaar konnte trotz aller Bemühungen meistens nur Gelegenheitsarbeiten als Erntehelfer oder Hirte ergattern. Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Als Gül ihm ein Jahr nach Kemals Geburt eröffnete, dass sie erneut schwanger geworden sei, fasste er sich spontan ein Herz.

So konnte, durfte es nicht weitergehen; ein weiteres Kind zu ernähren schien ihm unmöglich zu sein. Aber er hatte Glück im Unglück. Das ferne Deutschland hatte am 30. Oktober 1961 ein sogenanntes Anwerbeabkommen mit der Türkei unterzeichnet, das ausländische Arbeitskräfte für die expandierende deutsche Industrie ins Land locken sollte. War dies seine Chance auf ein besseres Leben, die er so dringend benötigte?

Er sah keine andere Möglichkeit mehr. Er wollte sein Glück im Ausland versuchen, um den demütigenden Zustand noch vor der Geburt des zweiten Kindes zu beenden.

Deutschland … er musste erst einmal auf der alten Landkarte der Dorfschule nachsehen, um herauszufinden, wo genau dieses nordeuropäische Land überhaupt lag.

Es war dem jungen Familienvater sehr schwer gefallen, Gül seine Entscheidung mitzuteilen, aber er wusste sie in der Familie gut aufgehoben. Dennoch war sie nach seinen Erläuterungen in Tränen ausgebrochen, hatte sich kaum beruhigen können.

»Es ist ja nur für ein, zwei Jahre. Ich nehme mir dort ein kleines, bescheidenes Zimmer und schicke euch das ganze restliche Geld hierher. Die Deutschen bezahlen gut und sobald wir genügend gespart haben, können wir uns sogar unser eigenes Haus leisten. Ich werde so bald wie möglich zu dir und den Kindern zurückkehren«, tröstete er sie.

Mit einem der eigens eingesetzten Sonderzüge reiste Mutlu im Sommer 1962 von Istanbul nach Deutschland und setzte seinen Plan in die Tat um. In Windeseile fand er einen Job als ungelernter Arbeiter, bei einem Zulieferer von Autoteilen nahe Köln. Der Akkord am Fließband war zwar hart, aber er konnte jeden Monat mehr Geld in die Türkei schicken als er je für möglich gehalten hätte. Nach seinen sehr anstrengenden Zwölf-StundenSchichten fiel er meistens nur noch todmüde ins Bett. Heimweh und Sehnsucht nach seiner Familie verspürte er trotzdem.

Der junge Muslim merkte schnell, dass es mit der Akzeptanz von ausländischen Mitbürgern im reichen, gut durchorganisierten Deutschland nicht allzu weit her war. Man behandelte ihn und seine Landsleute überwiegend mit Skepsis, dazu kam noch die Sprachbarriere. Häufig fühlte er sich wie ein Mensch zweiter Klasse. So sehr er sich auch anstrengte, für die Deutschen würde er wohl immer ein obskurer Fremder bleiben.

So kam er auf den Einfall, einen türkischen Kulturverein zu gründen. Innerhalb kürzester Zeit fand diese Einrichtung regen Zulauf, allen anderen Gastarbeitern erging es schließlich ähnlich. Hier, in den Räumen einer pleite gegangenen Gaststätte, durften sie endlich wieder nach ihren althergebrachten Sitten und Gebräuchen leben, ohne scheele Blicke der Mitbürger auf sich zu ziehen. Konnten gemeinsam zu Allah beten, Wasserpfeife rauchen, über die Heimat sprechen und Tee aus Gläsern trinken.

Mutlu hatte nun wieder ein Sozialleben, fand Freunde … aber seine kleine Familie vermisste er natürlich noch immer. Gül war inzwischen wieder Mutter geworden, doch er hatte die winzige Ayse bislang nicht einmal mit eigenen Augen gesehen, trug nur voller Stolz eine zerknautschte Fotografie in seiner Brieftasche herum. Die hatte sie ihm per Brief geschickt.

Nein, auf Dauer konnte das nicht so weitergehen, es musste sich erneut etwas ändern. Er wurde zunehmend unglücklich im Arbeitsexil. Mutlu träumte davon, seine Familie nachzuholen, so wie es einige seiner Bekannten bereits getan hatten.

Seit er mitbekommen hatte, dass seine Landsleute eigentlich bloß für jene Arbeiten gebraucht wurden, welche die Deutschen selbst nicht verrichten wollten, gedachte er auch seinen Arbeitsplatz an den Nagel zu hängen und ein kleines Lebensmittelgeschäft zu gründen. Mit frischem Obst und Gemüse wollte er handeln und mit allerlei Waren aus der Türkei, die sie hier bis dato so schmerzlich vermissten. Inzwischen sprach er leidliches Deutsch, sodass er es wagen konnte, die erforderlichen Schritte in die Wege zu leiten und selbständig zu werden.

Aber es musste schnell gehen. Mutlu hatte in letzter Zeit Gerüchte gehört, dass die deutsche Bevölkerung den vielen eingewanderten Türken zunehmend kritisch gegenüberstehe. Es war in den Zeitungen die Rede von einer Kosten-Nutzen-Abwägung in Bezug auf Gastarbeiter, man schien Angst vor sozialen Konflikten zwischen der deutschen Bevölkerung und den Einwanderern zu bekommen.

Auch wenn er und seine Freunde vom Kulturverein nicht alles verstanden, was darüber in der Tagesschau gebracht wurde – anscheinend wanderten jetzt derartige Massen seiner Landsleute nach Deutschland ein, dass die Politik den ungehemmten Zuzug bestimmt bald begrenzen würde. Man diskutierte bereits über einen Anwerbestopp und darüber, künftig höchstens noch Einwanderung in Zusammenhang mit Familienzusammenführung und Eheschließung zuzulassen. Aber wie lange würde dann das noch erwünscht sein? Könnten die deutschen Grenzen womöglich eines Tages für alle Türken geschlossen werden?

Er beschloss vorsorglich, gleich Nägel mit Köpfen zu machen. Es war höchste Zeit, dass seine geliebte Familie nachkam.

Im Frühling des Jahres 1964 war es so weit. Mutlu konnte Frau und Kinder am Hauptbahnhof Köln überglücklich in die Arme schließen. Und nicht nur sie, die gesamte Familie seines Onkels siedelte ebenfalls nach Deutschland über. Zwei seiner Verwandten stellte er in seinem kleinen Geschäft ein und nur neun Monate später durfte er sich über die Geburt seines dritten Kindes, des kleinen Cem, freuen.

Alle fühlten sich pudelwohl. Die misstrauischen Deutschen brauchten sie nicht mehr zu kümmern; es hatte sich in Nordrhein-Westfalen längst eine türkische Subkultur gebildet, in der sie weitgehend unter ihresgleichen bleiben konnten. Kopftücher gehörten mittlerweile bereits zum gewöhnlichen Straßenbild des Viertels, in dem sie wohnten. Es galt schnell als Ehrensache, bei ihm, dem türkischen Landsmann, einkaufen zu gehen. Deutsche Kunden verirrten sich eher selten in seinen Laden.

Er hatte es dank seines festen Willens geschafft. Er, der Hirtensohn Mutlu Aytemiz aus den anatolischen Bergen, hatte sich in einem fremden Kulturkreis etwas Einträgliches aufgebaut und innerhalb kurzer Zeit eine große Mietwohnung für seine Familie gefunden. Mittlerweile hielt er sogar neben dem türkischen einen deutschen Pass in Händen. Den hatte er sich verdient.

Nesthäkchen Cem war in Deutschland geboren worden. Als erster Nachkomme der Familie Aytemiz hatte der quirlige Junge die schwierige Sprache von Geburt an erlernen können, sprach daher völlig akzentfrei. Er hatte, im Gegensatz zu Kemal und Ayse, bislang noch keine eigene Familie gegründet, obwohl er jetzt schon siebenundzwanzig Jahre zählte. Cem hatte stattdessen einen Studienabschluss in Elektrotechnik in der Tasche, eine glänzende Zukunft vor sich. Die passende Frau würde sich bestimmt noch finden lassen.

Wie doch die Zeit verging … Mutlu konnte kaum fassen, wie lange er jetzt schon hier lebte. So war das damals alles gekommen, er hatte nichts zu bereuen gehabt. Bis … ja, bis …

Die Geschichte seiner Auswanderung zog sich wie eine sentimentale Spielfilmsequenz durchs Gehirn, während er die einstigen Räume von Aytemiz – Obst, Gemüse, Delikatessen mit großen Schritten durchmaß. Er hatte trotz vieler Widrigkeiten eine Erfolgsstory durchlebt, auf die er durchaus stolz sein konnte. Geschenkt worden war ihm in all den Jahren niemals etwas, jeden Pfennig hatte er redlich verdient. Wie gerne hätte er den Laden an einen seiner Söhne übergeben …

 

Doch jetzt, hier und heute zerbrach sein hart erarbeiteter Lebenstraum in unzählige Scherben, von denen ihn jede einzelne tief ins Herz schnitt. Er konnte nichts dafür, dass es so gekommen war, doch das spielte höchstens eine untergeordnete Rolle. Deutschland zeigte ihm sein hässliches, unbarmherziges Gesicht und es gab nichts, was er dagegen unternehmen hätte können. Bleierne Schwermut ließ sein großes Herz, wenn auch nur gefühlt, zu einem schwarzen Eisblock gefrieren.

Seufzend sperrte Mutlu zum allerletzten Mal die Ladentür der leeren Geschäftsräume ab. Den exorbitant hohen Schuldenberg, welchen er in seinem erbitterten Existenzkampf der vergangenen Jahre angehäuft hatte, würde er lebenslang nicht mehr abtragen können. Was für eine Schande.

Nach der Schlüsselübergabe beim Vermieter wollte er in den Kulturverein gehen. Wenigstens existierte der noch unverändert, sogar am selben Ort. Heute, und das war gewiss, würde er nicht nüchtern nach Hause kommen.

*

Spätsommer 1994, Bayreuth

Die einstigen Kommilitonen waren im frisch eröffneten TreffHotel Rheingold abgestiegen. Es lag schön zentral, am Rande des Bayreuther Stadtkerns, und ließ sich nach einer Kneipentour bestens per pedes erreichen. Außerdem punktete das moderne Viersternehaus mit einem eigenen Hallenbad im Kellergeschoss, wo man zwischen künstlichen Palmen seinen Kater vom Vorabend auskurieren konnte. Auch deswegen war die Wahl der gemeinsamen Unterkunft dieses Mal nicht auf die angestammte Billigpension im Stadtteil Sankt Georgen gefallen. Inzwischen konnten es sich alle drei finanziell leisten, ein bisschen tiefer in die Tasche zu greifen.

Luna, Marcel und Cem schwelgten schon beim Frühstück in ihren gemeinsamen Erinnerungen, fuhren anschließend mit dem Stadtbus zum Campus der Universität. Beim Rundgang über das Gelände kursierten die üblichen Studentenanekdoten. Aus zeitlichem Abstand betrachtet, wirkten jetzt selbst die einstigen kleinen und größeren Widrigkeiten witzig, die sie hier gemeinsam durchgemacht hatten.

Wisst ihr es noch … derbe Streiche, gemeinsame Lernexzesse, weltfremde Professoren, Drogenexperimente – alles wurde genüsslich wieder aufgewärmt. Die Sentimentalität erreichte ihren Höhepunkt naturgemäß beim Anblick der Fakultät für Ingenieurwissenschaften, an der sie einst eingeschrieben gewesen waren.

Nach ungefähr zwei Stunden Fußmarsch und einem Besuch auf dem kreisrunden, noch immer leeren Platz in der Mitte des grünen Campusgeländes endete die Nostalgie-Tour in der Cafeteria der Mensa.

»Mensch, lauter fremde Gesichter. Es lässt sich kaum verleugnen, wir gehören einfach nicht mehr dazu. Fünf Jahre sind eben doch eine verhältnismäßig lange Zeit«, murmelte Luna gefühlsduselig und fischte sich ein Tablett vom Stapel.

»Das ist durchaus zutreffend. Uns hat der Alltag bereits eingeholt und unsanft aus dem Elfenbeinturm mitten ins Erwerbsleben katapultiert, was diesen beneidenswert entspannten Jungs und Mädels hier noch bevorstehen wird«, grinste Marcel achselzuckend. An der Theke entschied er sich für ein Stück Obstkuchen und schwarzen Kaffee mit viel Zucker. Wie früher, als ihm Koffein und Glukose ein waches Gehirn bescheren sollten.

Luna widersprach ihm mit hochgezogenen Augenbrauen. Man müsse einfach nur neugierig und spontan bleiben, ständig jede Kleinigkeit kritisch hinterfragen, dann stelle sich auch keine öde Routine im ›Abenteuer Leben‹ ein, merkte sie besserwisserisch an. Sie packte einen Teller mit Karottenkuchen auf ihr Tablett, dazu wählte sie grünen Tee. Den süßte sie sparsam mit braunem Zucker, weil der angeblich besser verdaulich war.

Cem und Marcel sparten es sich wohlweislich, die Behauptung zu kommentieren. Sie wussten um Lunas Sturheit, sobald es um ihre ehernen Grundsätze ging. Es hatte ich in der Zwischenzeit wohl doch nicht alles verändert.

Den Nachmittag verbrachten die Drei in der Fußgängerzone und dem markgräflichen Hofgarten. Auf 20 Uhr war, in Anlehnung an alte Zeiten, der Ecktisch in der Traditionsgaststätte Zur Eule reserviert. Ein frischer Wind wehte durch die Kirchgasse in der Bayreuther Innenstadt. Luna zog ihre blaue Strickjacke enger um den Oberkörper. Sie fröstelte schnell.

»Ein Glück, dass du drinnen einen Tisch vorbestellt hast. Dieser August fühlt sich eher wie ein Oktober an. Hier draußen im Biergarten wäre es mir heute bestimmt zu kühl gewesen«, lobte Luna und zwinkerte Marcel zu. Der hatte wie immer alles organisiert, von Unterkunft bis Abendessen.

»Tja, Bayreuth ist eben nicht die Riviera«, grinste der und hielt seinen Begleitern zuvorkommend die wuchtige Eingangstür auf. Die Wirtschaft war gut besucht, obwohl die Festspielzeit bereits vorüber war und sich die Wagnerianer in alle Himmelsrichtungen zerstreut hatten. Angeblich war einst auch Richard Wagner 1871 in diesem Haus zu Gast gewesen. An den Wänden erinnerten zahllose gerahmte Bilder an den weltberühmten Komponisten, der dieser oberfränkischen Universitätsstadt bis heute einen Hauch von Glamour verlieh.

Die flinke Bedienung nahte, verteilte Speisekarten und fragte nach den Getränkewünschen. Marcel orderte einen fränkischen Sauerbraten mit Kartoffelkloß, während sich Luna für hausgemachte Schweinsrouladen mit Apfelblaukraut und Klößen entschied. Cem konnte mit dem typischen ›Frankenfraß‹, wie er es scherzhaft nannte, partout nichts anfangen und bestellte sich ein Zanderfilet mit Speck und Zwiebeln.

Wenig später standen zwei dunkle Bier und ein Glas Rotwein auf dem Tisch. Luna hatte zuvor eine Weile mit der Bedienung diskutiert, weil es unbedingt ein Roter aus Bio-Anbau hatte sein müssen. Sie folgte auch da unbeirrbar ihren Prinzipien.

Marcel erhob sein Glas.

»Auf die alten Zeiten, auf Bayreuth!«

Die anderen wiederholten den Trinkspruch, prosteten ihm zu. Gemütlichkeit machte sich breit, die drei einstigen Kommilitonen entspannten sich. Ein jeder von ihnen hing für eine Weile verträumt seinen persönlichen Erinnerungen nach.

»Wie geht es eigentlich deinem Vater? Verkauft er noch seine krummen Karotten?«, wandte sich Marcel an Cem.

»Das war Bio-Gemüse, du Knalltüte. Und nein, leider verkauft er keine mehr. Er hat seinen Laden im vergangenen Jahr schließen müssen. Frage bloß nicht, was für ein Drama das gegeben hatte. Erst nach und nach hat sich hinterher herausgestellt, dass sein Geschäft schon lange nicht mehr gut gelaufen war. Aber er hing halt so eisern an dieser Klitsche, dass er ohne Wissen der Familie Schulden aufgenommen und diese immer weiter aufgestockt hatte, bis eben das Ende der Fahnenstange erreicht war und die Bank ihm endgültig den Hahn zudrehte. Aktuell lebt er mit Mama von Sozialhilfe und ich hege den Verdacht, dass er zu viel Alkohol trinkt. Aber auch das würde er natürlich niemals im Leben zugeben. Ein großherziger und fleißiger, aber sehr stolzer Mann, mein alter Herr.«

»Hat ihm denn niemand aus deiner Familie mit Geld aushelfen können?«, fragte Luna mitleidig.

»Ah, natürlich wäre das gegangen, in Notzeiten muss man doch zusammenhalten! Schließlich hat mein Vater auch der Familie meines Onkels damals mit Ratschlägen und finanzieller Unterstützung geholfen, als sie aus der Türkei übergesiedelt war. Eine Hand wäscht die andere. Aber er wiederum hat für sich selbst leider niemanden um Hilfe gebeten. Wie gesagt, sein Stolz und die ewige Rücksichtnahme auf andere Menschen sind Papa zum Verhängnis geworden.«

»Traurige Geschichte«, meinte Luna betroffen. Marcel zuckte emotionslos mit den Schultern.

»So läuft die freie Marktwirtschaft, vor sowas ist keiner gefeit. Angebot und Nachfrage, nur darum dreht sich alles. Aber der Laden lief doch früher noch so gut. Haben die anderen Türken nicht mehr bei ihm einkaufen wollen, oder was ist passiert?«

»Da kann ich selber nur mutmaßen, Papa spricht nicht gerne darüber. Ich denke, es lag hauptsächlich an den Discountern, die an allen Ecken und Enden aufgemacht haben. Die Arbeitslosigkeit ist extrem hoch in Mülheim, da muss jeder Haushalt aufs Geld schauen. So sind die Türken aus Solidarität zwar weiterhin auf einen netten Plausch in Vaters Geschäft gekommen, aber sie haben dort nur ein paar krumme Karotten mitgenommen, um an deinen Anti-Witz von vorhin anzuknüpfen. Den restlichen Großeinkauf erledigten sie wahrscheinlich im billigeren Supermarkt um die Ecke. Papa hat das bis zuletzt nicht wahrhaben wollen, den Kopf in den Sand gesteckt und blauäugig auf bessere Zeiten gebaut. Nur sind die nie angebrochen.«

Luna seufzte tief. Man hätte meinen können, es gehe um ihren eigenen Vater, so sehr steigerte sie sich in das Gehörte hinein.

»Schuldig daran sind hauptsächlich wir Deutschen. Haben die Türken mit falschen Versprechungen in unser Land gelockt, nur damit wir sie ausbeuten konnten, um unsere Industrie mit billigen Arbeitskräften zu versorgen. Als die Zugereisten dann eines Tages nicht mehr im selben Maße gebraucht wurden, haben wir sie und ihre Familien einfach sich selbst überlassen.«

Cem wirkte nachdenklich, nickte bedächtig.

»Genauso drückt das auch mein Vater aus, nur etwas hitziger.«

Marcel stöhnte, schüttelte missbilligend den Kopf. Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn.

»Ach Quatsch! Die Türken haben erwartet, dass hier das Geld auf der Straße liegt. Sie sind nicht hergekommen, weil sie den Deutschen beim Aufbau der Wirtschaft helfen wollten oder weil ihnen unser Land, unsere Kultur so gut gefallen hätte. Es ging um harte Münze, sonst nichts. Das ist auch der tiefere Grund, wieso die meisten deiner Landsleute sich nie richtig in die Bevölkerung integriert haben, das nach zwanzig Jahren noch nicht für nötig halten. Manche dieser Migranten der ersten Generation sprechen nicht einmal fehlerfreies Deutsch. Sie wollen zwar die Vorteile des Staates nutzen, aber ihre Identität behalten. Uns Ureinwohner verachten sie teilweise sogar als Ungläubige. Geht nicht gegen dich, Cem, aber ist doch wahr, oder?

Und was heißt hier, man hätte diese Leute sich selbst überlassen? Sie sind nicht nur in unser Land, sondern auch ins Sozialsystem eingewandert! Verhungern muss hier kein Mensch, auch dein Vater nicht. In seiner Heimat sähe das sicher anders aus.

Natürlich hat die Regierung damals Fehler gemacht, sie hätte lieber befristete Aufenthaltserlaubnisse und Arbeitsvisa verteilen sollen, anstatt die Türken dauerhaft bei uns aufzunehmen, Familiennachzug zu gestatten und die Leute großzügig mit deutschen Pässen zu versorgen. Dann wäre heute auch die Arbeitslosigkeit in Deutschland kaum existent«, echauffierte er sich.

Luna standen Tränen in den großen braunen Augen. Sie wirkte irritiert, geradezu entsetzt. Schließlich fing sie sich, fand ihre Sprache wieder.

»So abfällig denkst du also über unsere ausländischen Mitbürger? Das hätte ich echt nicht von dir gedacht! Du musst dich in der Zwischenzeit ziemlich zu deinem Nachteil verändert haben, Marcel Lünitz. Wenn ich daran denke, dass wir beide sogar für einige Zeit ein Paar gewesen sind … «

»Ach, findest du? Seit dem Studium hast du wohl deine sozialromantischen Ansichten noch weiter ausgebaut, bist endgültig zur weltverbessernden Wollsocke mutiert, oder?

Und im Übrigen, wir zwei führten damals doch gar keine richtige Beziehung, haben lediglich zwei, drei Mal miteinander gepoppt, weil wir beim gemeinsamen Lernen zufällig in Stimmung geraten waren – und das jeweils nach reichlich Marihuana. Ich muss anscheinend dein Gedächtnis ein wenig auffrischen«, giftete der rothaarige Würzburger in süffisantem Tonfall zurück.

Luna stand so abrupt auf, dass ihr Stuhl nach hinten umkippte und zu Boden krachte. Gewitterstimmung lag in der Luft. Mehrere Gäste vom Nebentisch drehten neugierig die Köpfe in ihre Richtung, Gespräche verstummten.

Cem hob abwehrend beide Hände.

»Leute … bitte hört sofort damit auf, stopp! Ich kann, respektive will über dieses leidige Thema nichts mehr hören. Es genügt vollauf, dass mein Vater tagtäglich angetrunken in seinem Kulturverein hockt, über die deutsche Politik wettert und mit den Gegebenheiten sowie seinem eigenen Schicksal hadert. Es ist so wie es ist und daher auch scheißegal, wer die Hauptschuld für die aktuelle ausländerfeindliche Stimmung im Lande trägt. Man muss einfach das Beste daraus machen, das gilt für Deutsche und Türken. Jammern und Schimpfen hilft niemandem weiter.

 

Allerdings, Marcel, hatte ich bis zum heutigen Tage nicht bemerkt, dass es für dich einen Unterschied zu machen scheint, ob jemand einen Migrationshintergrund hat. Ich bin Deutschtürke mit zwei Pässen, werde meine Wurzeln niemals verleugnen. Es würde mich sonst meiner Identität berauben. Wie kannst du also unter diesen Umständen überhaupt mit mir befreundet sein?«

Lünitz straffte seinen Rücken, nahm einen tiefen Schluck von seinem süffigen Dunklen. Ein kühles Bayreuther Landbier, seine Lieblingsmarke. Er fixierte sein Gegenüber, setzte ein verbindliches Lächeln auf.

»Du bist anders als die meisten deiner Landsleute und kannst nichts dafür, dass dein Vater vor Jahrzehnten hier eingewandert ist. Hast dank deines Stipendiums eine profunde Bildung genossen und gluckst nicht ständig mit anderen Türken zusammen. Soviel ich weiß, siehst du Moscheen selten von innen, bist kein religiöser Eiferer. Das schätze ich an dir – unter anderem.«

»Deshalb bin ich in deinen Augen wenigstens kein schmutziger, dummer Kümmeltürke, der mit einem fetten Kopftuchmonster und einer Ansammlung von sozialhilfegesponserten Bälgern das Straßenbild verschandelt und mehrmals am Tag seinen Gebetsteppich ausrollt, willst du mir das durch die Blume sagen?«, fragte Cem provokativ. Noch fühlte er sich nicht ernsthaft in seinem Ehrgefühl beleidigt, er stand jedoch kurz davor.

Luna hingegen hatte die Nase an diesem Punkt der Debatte gestrichen voll. Sie marschierte im militärischen Stechschritt zur Toilette, bezahlte nach ihrer Rückkehr hastig am Tresen – und wandte sich anschließend grußlos zum Gehen.

Kontroversen Diskussionen war sie, als betont harmoniesüchtiger, mitfühlender Mensch, stets am liebsten aus dem Weg gegangen. Auch während des Studiums hatte ihre Wesensart gelegentlich zu überstürzten Abgängen geführt. Einmal war sie sogar empört aus dem Hörsaal gerannt, nur weil der Dozent einen Standpunkt vertreten hatte, der konträr zu ihrer Sichtweise gewesen war. Luna Sandner konnte als praktizierender Gutmensch mit ausgeprägtem Helfersyndrom gelten. Sie schlug sich grundsätzlich auf die Seite der Schwachen, Verfolgten und Benachteiligten – oder vielmehr derer, die sie subjektiv dafür hielt. Das ging notfalls bis hin zur Selbstaufgabe.

Cem bemerkte aus dem Augenwinkel, dass sie offenbar sangund klanglos verschwinden wollte. Er eilte zu ihr hin, hielt sie behutsam an den schmalen Schultern fest.

»Bleib bitte da, wenigstens mir zuliebe. Wir sehen uns doch so selten und das Essen kommt gleich. Lass dir von Marcel ›dem Roten‹ nicht die Laune verderben, der ist heute vielleicht bloß mit dem falschen Fuß aufgestanden. Schau, im Streit auseinander zu gehen, würde unsere Freundschaft auf eine harte Probe stellen. Wir wechseln jetzt einfach das Thema, genießen unser Essen und trinken anschließend noch eins in Ruhe und Frieden, okay?«, bettelte er einfühlsam. Seine Kohlenaugen flehten mit dem Mund um die Wette.

Sie ließ sich nach kurzem Zögern auf den Vorschlag ein, blieb für den Rest des Beisammenseins jedoch wortkarg und würdigte Marcel keines Blickes mehr. Die drei Freunde aßen schweigend. Luna stocherte lustlos im Salat. Es schien Cem mehr als fraglich, ob sie im nächsten Jahr wieder mit von der Partie sein würde.

Eine kühle Stimmung war entstanden, aus der es keinen Ausweg mehr zu geben schien. Bereits ausgesprochene Worte konnte man beim besten Willen nicht mehr zurücknehmen; allerdings wirkte Marcel völlig abgeklärt, schien keines davon zu bereuen.

Cem wusste, wie heiß verliebt Luna zu Studienzeiten in Marcel gewesen war und dass sie sich am liebsten als Luna Lünitz gesehen hätte. Zu seinem Leidwesen, denn Cem hätte die hübsche, natürliche Brünette damals am liebsten für sich erobert. Inzwischen war sie mit einem hageren, mehr als fünfzehn Jahre älteren Wissenschaftler verheiratet und somit erst recht unerreichbar für ihn geworden. Schade. Er hätte sie noch immer gewollt.

Seine Gefühle konnte er vor allen anderen, jedoch nicht vor sich selbst verbergen. Alte Liebe rostet nicht, behauptete ein deutsches Sprichwort. So hoffte er gegen Ende dieses verdorbenen Abends inständig, dass er Luna heute nicht zum letzten Mal in persona sah. Sie lebte mit ihrem Mann im fernen Stuttgart und er in Köln, da liefe man sich wohl kaum zufällig über den Weg.

In diesem Jahr jedenfalls verspürte nach dem Abendessen in der Eule erwartungsgemäß keiner mehr Lust, fröhlich um die Häuser zu ziehen und die guten alten Studentenkneipen bis in die frühen Morgenstunden unsicher zu machen. Luna verschwand nach der Ankunft im Hotel schnurstracks auf ihr Zimmer, während Marcel sich an der Hotelbar bis weit nach Mitternacht die Kante gab.

Cem wiederum war derart frustriert, dass er heute niemanden mehr sehen wollte. Er plünderte entgegen sonstiger Gewohnheiten die Minibar im Zimmer und grübelte angestrengt, wie er morgen mit der veränderten Situation umgehen, das Gespenst des gegenseitigen Misstrauens in Schach halten sollte.

Luna Sandner war von jeher eine Mimose mit spitzen Dornen gewesen, was Marcel allerdings sehr genau wusste. Hatte er sie etwa absichtlich provoziert? Aber falls dem so war, wieso?

Egal … das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Es muss zur Schadensbegrenzung doch irgendwie möglich sein, einen weiteren Tag in Harmonie zu verbringen, verdammt noch mal. Die Abreise aus der Wagnerstadt ist schließlich erst für übermorgen geplant, grübelte der Kölner enttäuscht. Er nahm sich zum Trost vor, seinen Schwarm während des kommenden Jahres um jeden Preis durch Anrufe und Briefe bei

Laune zu halten. Man konnte nie wissen.

Vielleicht hat sie eines Tages von ihrem körnerfressenden GreenpeaceAktivisten die Nase voll und ich käme doch noch zum Zuge. Dieser verkopfte Hippietyp hat es schließlich nicht einmal geschafft, sie davon zu überzeugen, bei der Eheschließung seinen Familiennamen anzunehmen. Wie viel Mann kann in solch einem Kerl überhaupt drinstecken? Keine Ahnung, was sie an dem findet.

Am Frühstücksbuffet kam ihm der erlösende Einfall. Er würde die beiden Streithähne nachher auf den Zimmern anrufen und sich mit ihnen für den Nachmittag im Wellness-Hallenbad verabreden, um die Kuh in entspannender Atmosphäre hoffentlich vom Eis zu kriegen.

Gedacht – getan. Es gelang ihm relativ leicht, seine Freunde in den Keller zu locken.

Er dümpelte schon eine halbe Stunde im warmen Wasser, als endlich Luna eintraf, gleich darauf gefolgt von Marcel, den man dank seiner leuchtend alabasterweißen Haut schon von weitem identifizieren konnte. Neben der dezent gebräunten Luna wirkte der Rothaarige fast schon bläulich.

Kaum waren seine Freunde ins Wasser gestiegen, rückte der Deutschtürke mit seinem Vorschlag heraus.

»Na kommt, vertragen wir uns wieder, der alten Freundschaft zuliebe! Es tut mir leid, dass die Geschichte über meine Familie gestern der Anlass gewesen ist, uns selber den Abend zu versauen. Wir werden Politik künftig während unserer jährlichen Treffen zum Tabu-Thema erklären, dann kann Ähnliches nie wieder vorkommen. Notfalls philosophieren wir angeregt über Fußpilz oder popeln synchron in der Nase … Hauptsache, wir genießen das gemütliche Beisammensein stressfrei«, witzelte Cem.

Seine Begleiter schienen noch zu zögern.

»Was haltet ihr davon?«, legte er nach.

»Ausgezeichnete Idee«, nickte Luna versöhnlich, die in ihrem schwarzen Bikini zum Anbeißen aussah. Womöglich bedauerte sie ihren gestrigen Ausbruch inzwischen. Aber sowas hätte dieser sozialromantische Sturkopf selbstverständlich niemals offen zugegeben.