Der Barbarossa-Effekt

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»Ach, meinetwegen«, grummelte Marcel achselzuckend. Ihm tat sein ausländerfeindlicher Fauxpas offenbar in keiner Weise leid. Cem ließ sich seine Verärgerung wohlweislich nicht anmerken; trotzdem, eine Entschuldigung hätte er durchaus für angebracht gehalten. Aber wenigstens war das Eis gebrochen, man konnte wieder halbwegs normal miteinander umgehen.

Die feuchtfröhliche Kneipentour fand an diesem Abend doch noch statt und sogar Luna schien wieder ganz die alte zu sein.

*

26. Februar 2016

Der Saalbau am Schwarzen Ross war noch immer auf Fasching getrimmt. Nach Aschermittwoch hatte es anscheinend niemand geschafft, die lächerlichen Deko-Masken, Papierschlangen, Silbergirlanden und Konfettireste wegzuräumen. Marcel fand es wenig prickelnd, ausgerechnet diese immens wichtige Zusammenkunft in einem solch albernen Ambiente abhalten zu müssen. Daher entfernte er wenigstens das Wappenschild der ortsansässigen Karnevalsgesellschaft vom Rednerpult, bevor er seine mitgebrachten Notizen dort ausbreitete.

Auf Ludwig Ströhleins Schiefertafel waren für heute lediglich zwei Namen vermerkt. Seine Wenigkeit würde zuerst das Recht haben, vor der Versammlung zu sprechen, und danach war Jens Böhlers Beitrag vorgesehen. Der junge Mann tat ihm ein bisschen leid. Es schien mehr als fraglich zu sein, ob ihm nachher überhaupt noch irgendjemand zuhören würde, so brisant wie sein eigenes Thema war. Er wurde glatt ein wenig nervös, denn heute ging es, sozusagen, um die Wurst.

Immer mehr Menschen strömten auf das heruntergekommene Gebäude zu, darunter viele fremde Gesichter, die Marcel noch nie zuvor gesehen hatte. Am Ende fand gut ein Viertel der Hereindrängenden keinen Sitzplatz mehr und sie mussten zusätzliche Stühle aus dem Gastraum der Wirtschaft herübertragen, um alle Interessenten unterzubringen.

Der Saalbau platzte förmlich aus sämtlichen Nähten. Die Wirtin hastete wie ein aufgescheuchtes Huhn umher und klemmte sich schließlich ans Telefon, um in letzter Sekunde eine weitere Aushilfsbedienung zu organisieren.

Marcel ließ die Augen durch den Saal wandern.

So eine Masse an besorgten, achtsamen Bürgern … sein ambitionierter Plan schien aufzugehen. Anstatt allgemein Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, wie es die Parteien taten, setzten Marcel und seine Mitstreiter auf persönliche Mundpropaganda, und das ausschließlich bei einem handverlesenen Klientel, das zwei wichtige Voraussetzungen mitbrachte: Unzufriedenheit mit der derzeitigen Situation in Deutschland und eine gewisse Mindestintelligenz, die es mühelos zuließ, auch komplizierte Sachverhalte zu überreißen und zu analysieren.

Diese Menschen musste man nicht mühevoll von der Existenz nackter Tatsachen überzeugen. Sie kamen bereits aus Überzeugung hierher, misstrauten den einseitigen Darstellungen in den Medien, wollten endlich eine Veränderung bewirken. Und nahezu jeder von ihnen kannte wiederum weitere Leute, die für diesen illustren Kreis infrage kamen. Auf diese Weise entstand ein veritabler Schneeballeffekt, genau wie er es sich erhofft hatte.

Wenn hier in Zittau bereits so viele Menschen für die gemeinsame Sache zu mobilisieren gingen, wie mochten dann die Zahlen möglicher Mitstreiter in den Großstädten oder gar dem ganzen Land aussehen, wenn man es richtig anstellte … bei diesem kühnen Gedanken liefen wohlige Schauer über Lünitz‘ Rücken.

Dies ist zweifellos der Moment, die Abgeschiedenheit einer geschlossenen Veranstaltung aufzugeben und von sich reden zu machen, um allmählich ein neu erwachendes Nationalbewusstsein in der Bevölkerung zu etablieren. Das wird wohl kaum von heute auf morgen funktionieren, aber jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Den will ich heute mit diesen Leuten gehen und wenn der Pfad noch so steinig ist.

Wir müssen als Vorbilder fungieren und der verunsicherten Bevölkerung zeigen, dass ein Mindestmaß an nationalem Denken völlig in Ordnung ist und per se nichts mit braunem Gedankengut oder gar Volksverhetzung zu tun hat. Wir haben zwar den Zweiten Weltkrieg verloren, doch das bedeutet nicht, dass Deutschland sich unter dem Regime einer unfähigen Bundeskanzlerin öffnen und dem inneren Verfall preisgeben muss, verdammt noch mal, brachte er sich gedanklich in Stimmung.

Mit glänzenden Augen begann Marcel Lünitz seinen Vortrag, eloquent wie immer. Es herrschte Totenstille, allein seine angenehme, tragende Stimme erfüllte den Raum. Zunächst lieferte er ein paar Fakten und Zahlen zur aktuellen Flüchtlingskrise, die manch einen erstaunt aufhorchen ließen, anschließend referierte er über das stark vernachlässigte Bildungssystem und die marode Infrastruktur, malte für die kommenden Jahrzehnte traurige, aber sehr wahrscheinliche Zukunftsszenarien.

»Schon sehr bald werden die dringlichen Reformen erst recht ein Ding der Unmöglichkeit sein. Die meisten Flüchtlinge stehen dem Arbeitsmarkt eben nicht zur Verfügung, sind entweder schlecht ausgebildet oder sogar Analphabeten. Diese Einwanderer, – ich bezeichne sie bewusst nicht als Flüchtlinge, weil viele gar keine sind –, werden uns deutschen Steuerzahlern dauerhaft auf der Tasche liegen und in Kürze auch ihre Familien nachholen. Dass die Geburtenrate bei diesen Völkern erheblich höher liegt als bei uns üblich, steht ebenfalls völlig außer Frage.

Wir reden innerhalb der nächsten Jahrzehnte von Millionen an Zuwanderern, diese Zahl dürfte sogar im achtstelligen Bereich liegen. Stellen Sie mithilfe der amtlichen Statistiken ruhig eigene Recherchen an, ich übertreibe nicht. Selbst wenn ab sofort jährlich ›nur noch‹ rund 200.000 Leute neu aufgenommen werden, ist die Katastrophe also vorprogrammiert. Schon jetzt hat jeder fünfte Einwohner einen Migrationshintergrund.

Und was wird passieren, wenn zu diesen eher niedrig angesetzten Prognosen für Migranten aus Nordafrika, Arabien und Syrien noch vermehrt Klimaflüchtlinge kommen, deren Anzahl wir heute kaum ermessen könnten?

Sehen Sie sich an, was in den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla passiert, dann bekommen Sie einen klitzekleinen Vorgeschmack darauf, was eine Tages geschehen wird, wenn größere Menschenmassen sich vom afrikanischen Kontinent aus auf den Weg nach Europa machen. Die überrennen uns einfach, werden auch garantiert nicht dauerhaft in Spanien hängen bleiben. Nein, bevorzugtes Ziel wird auch bei denen Deutschland sein, wegen seinem großzügigen Sozialsystem. Wie schlecht diese Menschen in unsere Kultur zu integrieren sind, hat man erst letztes Silvester in Köln eindrücklich gesehen.

Währenddessen wandern übrigens gut ausgebildete und begüterte Deutsche wegen den miesen Zukunftsaussichten ins Ausland ab und auch die Kurve dieser Statistik kennt nur eine Richtung: steil nach oben. Ich kann mir derzeit nicht vorstellen, wie dieser unheilvolle Trend zu stoppen wäre.

Nun bekommt unsere Merkel, was sie offenbar immer wollte. Sie gleicht den deutschen Bevölkerungsrückgang mit Migranten aus, damit die Wirtschaft möglichst eine gleichbleibende Anzahl von willigen Konsumenten behalten kann. Sie verrät jenes Volk, das sie gewählt hat und zum Dank dafür künstlich dumm gehalten wurde, siehe PISA-Studie. Wird einer von den Zuwanderern kriminell oder stellt sich als Terrorist heraus, na dann hat halt die Polizei geschlafen oder das überlastete Bundesamt für Migration den Typen nicht genügend durchleuchtet. Dann ist von Einzelfällen die Rede, obwohl tausende Migranten mit gefälschten Pässen einreisen oder ihre mitgebrachten Dokumente gleich in der Erstaufnahmeeinrichtung die Toilette hinunterjagen, damit ihre wahre Identität und Herkunft nicht ohne weiteres festgestellt werden kann. Die Hausmeister dieser Asyllager können Ihnen ein Lied über verstopfte Klos singen.

Für mich ist das, was vor unseren Augen passiert, ein schleichender Austausch der Bevölkerung, nicht nur eine vorübergehende Überfremdung. Dieser Satz mag zwar populistisch klingen, doch entspricht er bedauerlicherweise den Tatsachen. Wer meint es zu können, der beweise mir bitte das Gegenteil!«

Applaus brandete auf, laute Bravo-Rufe schallten durch den Saal, doch Lünitz war noch längst nicht fertig. Er sprach einfach weiter und schnell kehrte wieder Ruhe ein.

»Nun könnte ich mich hinstellen und weiter über dunkle Zukunftsszenarien reden, aber das brächte uns keinen Schritt weiter. Sie sind schließlich hier, weil Sie vieles davon bereits wissen und unerträglich finden, nicht wahr?«

Zustimmendes Murmeln, gespannte Gesichter.

»Gut! Dann lassen Sie uns also gemeinsam darüber nachdenken, wie man gegensteuern und unser Heimatland retten könnte. Es wäre nur zu schön, wenn man dies bei der nächsten Bundestagswahl im September 2017 erreichen würde. Aber machen wir uns doch nichts vor, man wird Angela sowieso als Kanzlerin wiederwählen. Die Gründe hierfür sind vielfältig und haarsträubend, damit brauchen wir uns jedoch nicht aufzuhalten. Finden wir uns lieber gleich damit ab, dass das Grundproblem Merkel, und, damit einhergehend, die fatale Einwanderungspolitik allein mit Wahlen nicht aus der Welt zu schaffen sind.

Sollen wir eine neue Partei gründen? Nein, das wäre ein völlig falscher Ansatz. Man sieht am Beispiel der AfD, wie man durch Rufmord an den braunen Pranger gestellt wird, kaum dass einer den Mund aufmacht und die Dinge ehrlich beim Namen nennt. So lange, bis sich der brave deutsche Durchschnittsbürger nicht mehr Blau zu wählen getraut.

Was aber kann jeder Einzelne ansonsten dazu beitragen, dass es in der Stammbevölkerung rechtzeitig ein Umdenken gibt, die deutsche Leitkultur überlebt und unsere Bürger und Bürgerinnen wieder in relativer Sicherheit existieren können?

Wir dürfen nicht untätig abwarten, bis die Stimmung in der Bevölkerung irgendwann von selber kippt und die gefühlsduselige, mildtätige Blauäugigkeit in ein böses Erwachen und kurz danach in blanke Anarchie umschlägt. Denn zu diesem Zeitpunkt wäre unser ursprüngliches Deutschland, so wie wir es noch kennenlernen durften, bereits endgültig den Bach hinunter gegangen. Ein zerstörtes Erbe dürfen wir unseren Kindern und Enkeln unter keinen Umständen zumuten.

 

Wir müssen nicht zuletzt unserer großen Verantwortung für die kommende Generation gerecht werden, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind diejenigen, welchen die Weichenstellung obliegt.«

Ein paar Zuhörer klatschten, viele andere fielen ein. Diesmal wartete Lünitz selbstzufrieden, bis sich die stehenden Ovationen nach einigen Minuten von selbst legten.

»Ich kann und will Ihnen nichts vorgeben, liebe Mitstreiter. Jeder muss für sich selbst entscheiden, was er beitragen möchte, damit wir unser Ziel erreichen. Wir sind eine Interessengemeinschaft besorgter Bürger, ohne Führung, ohne feste Regeln. Der einzige gemeinsame Nenner sollten Vernunft und Anstand sein.

Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich bis nächsten Freitag Gedanken machen könnten, was Sie persönlich tun könnten, anstatt wegzuschauen und alles über sich ergehen zu lassen. Es versteht sich von selbst, dass ausschließlich friedliche Aktionen infrage kommen und alles im Rahmen geltenden Rechts ablaufen muss. Am wirkungsvollsten sind, meines Erachtens, öffentlichkeitswirksame Projekte, die problemlos zu kopieren sind und sich somit viral über das Bundesgebiet verbreiten können. Nur einige Beispiele dazu:

Sie haben ein schulpflichtiges Kind, das sein Dasein in einem renovierungsbedürftigen Schulgebäude fristet und mit fünfzehn Ausländerkindern in der Klasse hockt? Prima!

Tun Sie sich mit dem Elternbeirat zusammen, suchen Sie ein paar helfende Hände und renovieren Sie die Räume in Eigenleistung – und wenn Sie diese nur neu überstreichen. Sorgen Sie dafür, dass die Presse davon erfährt und erwähnen Sie bei dieser Gelegenheit auch das Nationalitätenproblem. Bemängeln Sie, dass zum Beispiel kein christliches Kreuz im Klassenraum hängen darf, weil sich die Muslime daran stören würden. Was auch immer Sie sauer aufstößt, erwähnen Sie es in sachlicher Form, ohne dabei ausländerfeindlich zu wirken.

Oder bieten Sie über Annoncen an, ehrenamtlich Kinder auf dem Schulweg sicher in die Schule und nach Hause zu begleiten. Vielleicht lassen sich sogar Grüppchen organisieren. Wenn das geschafft ist, geben Sie zusammen mit den zufriedenen Eltern ein Interview im örtlichen Radio. Ich weiß, dass viele Polizeibeamte unter uns sind. Sie wären geradezu prädestiniert für sowas.

Sie gehen nach Feierabend gerne spazieren? Super!

Machen Sie den kleinen Waffenschein, stecken sich zur eigenen Sicherheit ein Pfefferspray in die Hosentasche und patrouillieren Sie abends grüppchenweise im Park, damit keine Joggerin vergewaltigt wird und kein offener Drogenhandel abläuft. Falls Sie dabei etwas potentiell Kriminelles beobachten, insbesondere wenn – wie so häufig – Ausländer involviert sind, rufen Sie als besorgte Bürger sofort die Polizei und gesellen sich medienwirksam an die Seite des potentiellen Opfers. Stellen Sie Ihre Story anschließend auf You Tube online, twittern Sie was das Zeug hält und bemühen Sie auch die anderen sozialen Netzwerke.

Gründen Sie in Ihrem Viertel eine Bürgerwehr um Einbrecher abzuschrecken, oder rufen Sie einen Einkaufsdienst für hilfsbedürftige Rentner ins Leben, punkten Sie mit umweltschonenden Carsharing-Projekten … die Möglichkeiten publikumswirksamer Taten sind schier unerschöpflich.

Dies waren sowieso nur ein paar der Einfälle, die mir auf der Herfahrt gekommen sind. Ich bin sicher, Sie hätten jede Menge ähnlicher Ideen. Was immer Sie jedoch Gutes tun, vergessen Sie nicht zu erwähnen, dass Sie dieser Interessengemeinschaft angehören. So platzieren wir subtil die Botschaft, dass die Regierung unfähig ist und die Bürger zur Selbsthilfe greifen müssen, damit sich endlich etwas verändert. Gehen Sie als leuchtendes Beispiel voran, decken Sie dabei Missstände auf und kommunizieren Sie diese, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen.«

»Was denn für eine Interessengemeinschaft, wie sollte man die einheitlich bezeichnen? Bräuchten wir hierfür nicht ein Symbol oder einen Namen, wegen dem Wiedererkennungswert?«, fragte eine blonde Zwischenruferin skeptisch.

Marcel Lünitz straffte seinen Rücken, lächelte wissend.

»Sehr guter Einwurf, wir danken Ihnen dafür. Auch zu diesem Thema habe ich mir bereits Gedanken gemacht. Wir benötigen einen Namen, den jeder kennt und der für eine Zeit steht, in der sich die Deutschen in ihrem Lande wohl gefühlt haben. Selbstverständlich dürfen Sie auch hierzu eigene Vorschläge bringen, die Mehrheit wird darüber beim nächsten Treffen demokratisch entscheiden.

Was halten Sie von Interessengemeinschaft Barbarossa? Ich bin mir gewiss, dass ein jeder von Ihnen, als gebildeter Mitteleuropäer, diesen alten deutschen Kaiser namentlich kennt und weiß, wofür er in der Hauptsache steht. Angeblich sitzt er ja unter dem Kyffhäuser und wartet auf bessere Zeiten, bis sein Reich wieder in neuem Glanz erstrahlt. Würde niemand die Initiative ergreifen, könnte er da lange warten.

Wie sieht es aus, Leute … wollen wir Deutschland in seinem Geiste wieder zu einer lebenswerten Heimat machen, zumindest seinen Namen wiederauferstehen lassen?«, rief Lünitz pathetisch über die Köpfe seiner Zuhörer hinweg.

Frenetischer Beifall spiegelte eindrücklich, dass er mit seinen Vorschlägen voll ins Schwarze getroffen hatte. Winkend verließ er das Rednerpult, während die Leute weiter klatschten und mit ihren Fingerknöcheln auf die Tischplatten eintrommelten, einen Heidenlärm damit verursachten. Die drei Bedienungen getrauten sich in all dem Trubel kaum, durch die Stuhlreihen zu gehen und Bestellungen aufzunehmen.

Angesichts dessen verzichtete Jens Böhler auf seinen geplanten Vortrag. Dieser hätte ohnehin nur einige Elemente aus der Rede seines charismatischen Vorgängers wiederholt, höchstens noch um ein paar Details ergänzt. Er bewunderte den rothaarigen Hünen für seine Fähigkeit, so viele Menschen mit Leichtigkeit in seinen Bann zu ziehen.

Nächsten Freitag würden sie nicht nur den Saalbau, sondern gleich die gesamte Gaststätte belegen müssen. Manch ein Zuhörer würde die Interessengemeinschaft nach dem heutigen Abend um gleichgesinnte Freunde bereichern, vermutete Böhler. Auch der Frauenanteil im Saal schien seit den letzten Treffen kontinuierlich angestiegen zu sein. Kein Wunder, dieser Lünitz war ein ziemlich attraktiver Kerl. Er beneidete ihn und beschloss, sich künftig verstärkt in seinem Kielwasser aufzuhalten.

*

März 2016

Konfliktgeladene Abendessen bildeten am schicken DesignerEsstisch der Familie Lünitz keine Seltenheit, seit Arne in die Pubertät gekommen und als praktizierender Rebell wiedergeboren worden war. Dennoch ahnte der Junge, dass sich heute ein intensives Donnerwetter über seinem Haupt entladen müsste. Vater würde garantiert ausrasten wie nie zuvor.

Leider ließ sich sein Problem inzwischen nur noch auf unangenehme Weise regeln. Auch wenn es ihm massiv widerstrebte, er musste heute, quasi auf den letzten Drücker, Farbe bekennen und seinen Vater um Hilfe bitten. Es war schlichtweg unmöglich, die Katastrophe noch länger vor der Familie zu verheimlichen, zumal seine Mutter das unheilschwangere Schreiben gestern gegen Unterschrift in Empfang genommen und sich ziemlich über den Absender gewundert hatte. Eine Erklärung war er ihr einstweilen schuldig geblieben. Es wäre also ohnehin höchstens eine Frage der Zeit gewesen, wann sie Papa besorgt davon erzählt hätte.

Besser, er erführe es aus erster Hand. Jetzt gleich.

Augen zu und durch. Der Alte wird dir schon nicht den Kopf abreißen.

»Ich muss euch was erzählen. Bitte kriegt nicht gleich die Krise. Das Ganze hört sich schlimmer an als es ist. Wäre Deutschland nicht so spießig und rückständig, dann … «

»Raus mit der Sprache, spar dir die Vorrede! Was hast du angestellt? Ich wette, es geht hier um Drogen. Hat die Polizei dich gefilzt und Gras gefunden? Damit hatte ich schon lange gerechnet«, fiel ihm sein Vater spöttisch ins Wort.

Für einen Augenblick guckte Lünitz junior entgeistert drein, es hatte ihm die Stimme verschlagen. Schon häufig hatte ihn der vage Eindruck beschlichen, sein Vater könne hellsehen. Gleich darauf nahm sein Gesicht einen trotzigen Ausdruck an, der Papa Marcel schon wieder auf die Palme brachte.

»Nicht ganz. Es war Crystal Meth, falls dir das etwas sagt. Ein mickriges Tütchen Dope, das ich von einem Kumpel geschenkt bekommen habe. Ich bin nicht süchtig nach diesem Zeug oder so, wir haben es nur mal probieren wollen. Alles ganz harmlos. Ich bin zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und von den Bullen kontrolliert worden, das ist alles«, sprudelte Arne hastig hervor. Er verschränkte schützend die Arme vor der Brust und wartete auf den sehr wahrscheinlichen Vulkanausbruch.

Die Miene seines Vaters verfinsterte sich, der kritische Blick wurde eisenhart. Noch ehe er etwas entgegnen konnte, seufzte Eva laut vernehmlich und legte sanft eine ihrer sorgfältig manikürten Hände auf den Arm ihres Sohnes.

»Ach, deswegen ist also gestern dieser Einschreibebrief vom Amtsgericht gekommen. Ich hatte mich schon gewundert, wieso du Post von denen erhältst«, sagte sie leise. Ihre schönen Katzenaugen suchten fragend diejenigen ihres Sohnes.

»Ich höre wohl nicht richtig, Arne! Der Staatsanwalt befasst sich schon damit? Dann sieht es mir eher nicht nach einer harmlosen Kleinmenge aus und auch nicht danach, dass das Verfahren ohne weiteres eingestellt werden könnte. Du holst jetzt auf der Stelle den Brief her und redest Tacheles mit uns, mein lieber Freund und Kupferstecher. Ich lasse mich von dir keineswegs für dumm verkaufen. An diesem Punkt ist endgültig Schluss mit lustig«, schäumte Marcel.

Arne trabte mit hochrotem Kopf davon. Ihm war anzusehen, dass er seine Offenheit bereits bereute.

Marcels stechender Blick fixierte inzwischen seine Ehefrau.

»Du wusstest, dass da was im Busch ist?«

»Nicht wirklich, nein. Er hat kein Wort über den Inhalt des Schreibens verloren, ist damit kommentarlos in seinem Zimmer verschwunden. Wann hätte ich dir davon erzählen sollen? Du hast gestern lange gearbeitet, warst beim Heimkommen schlecht gelaunt. Da wollte ich dich nicht auch noch beunruhigen«, verteidigte sich Eva.

Arne kam zurück, nagelte das Schreiben vor seinem Vater auf die Tischplatte und ließ sich mit mürrischem Gesicht auf seinen Stuhl fallen. Stoisch wartete er auf die Reaktion.

Marcel las die drei zerknitterten Seiten einschließlich Rechtsbehelfsbelehrung konzentriert durch, legte sie zurück und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Sieh einer an … so weit ist es mit dir bereits gekommen. Ich wusste immer, dass du dich mit den falschen Freunden umgibst. Du hättest viel früher zu mir kommen sollen, da wäre vielleicht noch was zu retten gewesen. Aber zum jetzigen Zeitpunkt? Die Ermittlungen der Polizei sind abgeschlossen und es wird definitiv eine Verhandlung geben. Von wegen mickrige Kleinstmenge! Man hält dich seitens der Behörden sogar für einen Dealer von verbotenen chemischen Substanzen, ist dir diese Tatsache überhaupt in vollem Ausmaß bewusst?«

»Ich … «

»Halt den Mund, ich war noch nicht fertig. Du willst erwachsen sein, dein Zeug selber regeln, ja? Dann kannst du das jetzt tun, denn ich werde weder Zeit noch Geld in dieser Angelegenheit versenken. Falls du geglaubt hast, ich investiere in ein sinkendes Schiff, so bist du auf dem Holzweg gewesen! Vielleicht musst du erst ganz unten ankommen, um aufzuwachen. Das ist jetzt die Gelegenheit dazu. Nutze sie weise, nimm die Strafe an und trage die Folgen wie ein Mann. Danach bist du hoffentlich schlauer.«

Arne sprang abrupt auf, rannte über den Flur in sein Zimmer und knallte mit Schmackes die Tür zu. Marcel seufzte wie ein waidwunder Hirsch, marschierte mit verkniffener Miene in sein Heimbüro und ließ seine verstörte Ehefrau alleine am Esstisch zurück. Mit zitternden Fingern griff sie nach dem Schreiben, um endlich ebenfalls im Bilde zu sein.

Tags darauf gelang es ihr, unter vier Augen mit Arne zu reden. Sicher, er hatte kapitalen Mist gebaut, aber hängen lassen wollte sie ihn keinesfalls. Er war mit seinen achtzehn Jahren im Grunde halt immer noch ein unreifer Bub, dem es an Lebenserfahrung fehlte. Marcels Überreaktion ging ihr gegen den Strich.

»Pass auf, Arnie. Ich habe ein wenig Geld auf der Seite, von dem Vater nichts weiß. Wir gehen heimlich zu einem Rechtsanwalt und lassen uns eingehend beraten. Du musst mir aber fest versprechen, dass du zukünftig die Finger von Drogen aller Art lässt, sonst kann ich dir auch nicht mehr helfen«, insistierte Eva eindringlich.

 

Ihr Sohn ließ den Kopf hängen, starrte vor sich auf den Teppichboden. Er trug ein schwarzes Shirt, dessen weiße Aufschrift postulierte: Alles effektiv trivial. Momentan schien der Spruch auf seinen psychischen Zustand eher weniger zuzutreffen.

»Geht schon klar. Mir ist vorläufig eh der Spaß am Dope vergangen. Danke, dass ich wenigstens dir nicht egal bin«, brummte er und umarmte sie linkisch.

»Du bist auch deinem Vater keineswegs egal, das darfst du nie denken. Der hat nur eine merkwürdige Art, mit sowas umzugehen. Er muss halt an seinen Ruf und an den der Firma denken, außerdem macht er sich einige Sorgen um deine Zukunft«, beschwichtigte Eva.

Eigentlich brachte sie keinerlei Verständnis für Marcels Borniertheit auf. Dies war definitiv der falsche Moment, den Kopf in den Sand zu stecken und den Buben abzuschreiben.

Wenn man Arne jetzt nicht mit Rat und Tat unter die Arme greift, könnte er vollends auf die falsche Bahn geraten. Die täglichen Nachrichten sind voll von gescheiterten Existenzen, die wahrscheinlich in den wichtigsten Schlüsselmomenten ihrer Entwicklung auf kein stabiles, unterstützendes Elternhaus zurückgreifen haben können. Der Bub hat einen Fehler gemacht, er ist eben in einem problematischen Alter. Marcel war damals auch nicht ohne, aber das hat er inzwischen anscheinend vergessen.

Entgleiste Jugendliche besaßen längst nicht alle einen Migrationshintergrund, wie es ihr Ehemann häufig behauptete, sondern entstammten oft sogar den besten Familien. Marcels sehr einseitige Sichtweise lag sicher daran, dass er sich auf das Thema seit einiger Zeit eingeschossen hatte. Weshalb, das entzog sich ihrer Kenntnis. Kein Ausländer auf dieser Welt hatte ihm persönlich je etwas zuleide getan.

*

März 2016

Luna Sandner saß mit ihrem Mann im gemeinsamen Lieblingsrestaurant Körle und Adam. Das farbenfroh gestaltete Lokal im Stadtteil Feuerbach servierte vegane Gerichte und leckere Menüs aus saisonalen Bioprodukten, also ziemlich genau das, was sich das Ehepaar unter einer ernährungstechnisch einwandfreien Gaumenfreude vorstellte. Gelegentlich kamen sie mit Freunden hierher, meistens jedoch blieben sie unter sich.

Luna schätzte zweisame Gespräche mit Jan, schon weil diesem neben seiner anspruchsvollen Forschungsarbeit kaum Freizeit blieb. In wenigen Jahrzehnten würden die Anbauflächen für Nahrung wegen der Überbevölkerung weltweit nicht mehr ausreichen. Daher hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, innovative Algenaquarien zu entwickeln. Seit bekannt geworden war, dass bestimmte Algenarten, allen voran die Sorte Chlorella, wichtige Nahrungsbausteine für den Menschen enthalten und entgiftend auf den Körper wirken, hatten immer mehr umweltund ernährungsbewusste Zeitgenossen das Bedürfnis, ihren Speiseplan um diese Algenprodukte zu erweitern. Der Bedarf in Deutschland stieg stetig an.

Das würde in naher Zukunft ein neues Problem generieren, wie der findige Schwabe anhand der aktuellen Wachstumszahlen analysiert hatte. Man würde viel Platz für die Anbauflächen in Aquarien oder Röhrensystemen brauchen, was wiederum kontraproduktiv wäre. Deswegen arbeitete er für ein österreichisches Startup-Unternehmen fieberhaft an der Entwicklung neuartiger Dachund Gebäudeverkleidungen.

Die Prototypen dieser Platten enthielten im Kern transparente Wasserröhrensysteme. Sie sollten nach den Zukunftsplänen der Firma irgendwann jeder Familie den Algenanbau zum Eigenbedarf und damit eine Grundversorgung an wichtigen Nährstoffen wie Vitaminen, Mineralstoffen, Eiweiß und ungesättigten Fettsäuren sichern. Dabei könnte man von einem positiven Nebeneffekt profitieren. Die mit Flüssigkeit gefüllten Platten wirkten auf umweltschonende Weise sogar wärmedämmend.

Heute jedoch gab es an Tisch fünf ein anderes Gesprächsthema. Luna echauffierte sich wortreich über den raubeinigen CSUPolitiker Horst Seehofer, der den ungarischen Staatschef Viktor Orbán in Budapest besucht und sich in Sachen Flüchtlingspolitik deutlich auf dessen Seite geschlagen hatte. Beide wollten sich gegen eine starre Kontingentlösung zur Aufnahme von Migranten zur Wehr setzen und diese lieber bereits an den Außengrenzen der EU gestoppt sehen.

»Dass er unserer Frau Bundeskanzlerin mit dieser Reise voll in den Rücken fällt, auch wenn er es anders darstellt, ist im Grunde zweitrangig. Damit muss – und wird – sie fertigwerden, sie schafft das. Oppositionelles Handeln belebt die Politik, regt die Bundesbürger zur Diskussion an, was nicht einmal schlecht ist. Aber mir jagt diese rechte Nazidenkweise Angst ein.

Reicht es nicht, dass Anhänger der Pegida überall herumlaufen und rassistisch gegen die Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen hetzen? Die bedauernswerten Menschen fliehen unter Einsatz ihres nackten Lebens vor Krieg und Verfolgung und diese Ignoranten tun gerade so, als kämen sie alle in böswilliger Absicht hierher, um terroristische Anschläge zu verüben oder das deutsche Sozialsystem auszubeuten. Dabei verwenden sie die Begriffe Volk und Heimat absichtlich in missverständlicher Weise, wie es ihnen eben gerade in den braunen Kram passt.

Vielen dieser Schreihälse scheint nicht bewusst zu sein, dass Grenzen nichts als willkürlich gezogene, im Laufe der Geschichte immer wieder veränderte Linien auf einem Planeten sind, der im Grunde allen Menschen gehört. Niemand kann etwas für den Ort und den Zeitpunkt seiner Geburt – oder mit welcher Hautfarbe er auf die Welt kommt. Warum können diese Idioten Multikulti nicht einfach als Bereicherung betrachten und den Wohlstand teilen, anstatt die Vielfalt zu bekämpfen?«

Jan Wendelbach lehnte sich seufzend zurück, verschränkte die knochigen Hände hinter dem Kopf. In seinem Nacken hing ein dünnes aschblondes Zöpfchen, welches den kümmerlichen Rest seiner einst wallenden Haartracht bildete. Rein optisch betrachtet, wirkte der Mann fast wie eine Karikatur. Sein magerer Körper endete in einem dürren, sehnigen Hals und dieser wiederum unter einem hageren Gesicht, aus dem die Wangenknochen und seine überdimensionierte Hakennase spitzig herausstanden. Ein leuchtend blaues Augenpaar blinzelte freundlich unter den buschigen weißblonden Augenbrauen hervor.

»Viele Deutsche haben anscheinend die Befürchtung, dass es mit ihrem hart erarbeiteten Wohlstand bald vorbei sein könnte, wenn die Flüchtlinge erst in Massen auf den Arbeitsmarkt drängen und die ohnehin dünn gesäten Sozialwohnungen okkupieren. Die sitzen bequem in ihren geheizten Wohnzimmern und sehen sich im Fernsehen an, wie Flüchtlinge mitsamt ihren kleinen Kindern im Dreck hausen, lassen dabei kaum Gefühle zu. Jeder ist sich selbst der Nächste. Da fällt man leicht auf hetzerische Propaganda herein, weil sie scheinbar einfache Antworten auf komplizierte Fragen bietet und einen aus der persönlichen Verantwortung befreit.

Natürlich wird es ein paar Schwierigkeiten und Engpässe geben, das stelle ich ja gar nicht in Abrede. Aber jede Veränderung bietet auch Chancen. Vielleicht wird dadurch der soziale Wohnungsbau im Lande wieder in Gang gebracht und das deutsche Handwerk bekommt den händeringend gesuchten Nachwuchs, wer weiß«, mutmaßte der Wissenschaftler und Erfinder.

»Stimmt, und hiervon würden dann alle profitieren. Die Wirtschaft dieses Landes brummt wie selten zuvor und die Steuereinnahmen sprudeln. Wir können es uns locker leisten, Flüchtlinge aufzunehmen und sie in die deutsche Stammbevölkerung zu integrieren. Je schneller uns dieses Projekt gelingt, desto weniger Migranten werden zukünftig durch kriminelle Handlungen auffallen und dazu bliebe auch die befürchtete Ghettobildung in sozial schwachen Stadtvierteln aus.

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