Eilandfluch

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Thorsten begann zu schwitzen, lockerte seinen Krawattenknoten. Er hasste es grundsätzlich, wenn sich etwas seiner Kontrolle entzog. Und das hier drohte zu entgleisen. Immer mehr Zuhörer scharten sich neugierig um ihn und die impertinente Dame im schwarzen Georgette-Kleid, dessen Schnitt an die Konturen einer Fledermaus erinnerte.

Vermutlich kaschiert dieses dürre Gestell damit seine nicht vorhandenen Kurven, sinnierte er bissig. Kurzes graumeliertes Haar, schulterlange Ethno-Ohrringe aus irgendeinem Billigmaterial, eine Halskette aus grünlichen Halbedelsteinen, offener Magnetarmreif … diese grässliche Tante erfüllte für Sasse das Klischee einer typischen Emanze in den Wechseljahren.

»Selbstverständlich nicht!«, entgegnete er eine Spur zu harsch.

»Der Event findet auf dieser Seite statt, nicht dort drüben. Ich kann ja schlecht meine Servicekräfte ständig über diesen Steg jagen, um Getränke zu verteilen. Außerdem gibt es keinen Inselfluch, es hat ihn nie gegeben. Ich bin mittlerweile oft genug hier gewesen, um das einschätzen zu können«, fügte er ruhiger, aber mit Nachdruck hinzu. Seine Zuhörer hingen immer noch an seinen Lippen. Mist! Also musste er notgedrungen weitere Erklärungen anschließen.

»Sehen Sie sich doch um. In den vergangenen Jahrhunderten legte man weniger Wert auf Sicherheit, beziehungsweise hatte man nicht dieselben Möglichkeiten wie heute, nahezu alle Eventualitäten auszuschließen. Manche der früheren Bewohner mögen vielleicht mit der Einsamkeit auf diesem Felsen nicht klar gekommen sein, was weiß ich. Kein Grund, Schauermärchen zu verbreiten. Tragische Unglücke geschehen überall, dasselbe gilt für Firmenpleiten. Selber schuld, wer nicht wirtschaften kann.

Und nun Schluss mit diesem Nonsens. Dies ist immer noch eine wunderschöne Insel, die Sie heute zum Feiern und Genießen einlädt. Das Eiland hat wahrscheinlich nur auf den richtigen Eigentümer gewartet – meine Wenigkeit.«

Mit einem verbindlichen Lächeln drehte er sich um und ließ die Fledermaus einfach stehen. Als guter Gastgeber musste er sowieso allen Anwesenden gerecht werden, konnte sich nicht zu lange mit einzelnen Gästen befassen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er allerdings, dass die blöde Kuh noch immer eifrig die Umstehenden belaberte. Scheinbar hatte sie ein williges Publikum für ihre lächerlichen Unkenrufe gefunden.

Sasse suchte seine Freundin Mona, nahm sie beiseite.

»Sag mal, kennst du diese schwarze Krähe da drüben? Das Weibsstück macht mir gerade alle Pferde mit den alten Gruselgeschichten über diese Insel scheu!«

Mona grinste achselzuckend.

»Mich ereilte vorhin das zweifelhafte Vergnügen, ihr zu begegnen. Sie ist mir auf der hinteren Terrasse in die Arme gelaufen, hatte auf dem Rückweg ins Haus unablässig fotografiert. Natürlich wollte ich wissen, wieso gerade dort, nachdem dieser abgelegene Teil der Villa der unattraktivste des ganzen Geländes ist. Ich bekam zur Antwort, dass sie für das Mystery-Magazin Zwischenweltbote schreibt.«

»Auch das noch … eine dieser gestörten Esoterik-Tanten, die sich für moderne Hexen oder Geistermedien halten und ihre Mitmenschen von angeblich übersinnlichen Erfahrungen überzeugen wollen!«, stöhnte Thorsten abfällig.

Zwei Veranstaltungstechniker forderten nun seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Während er mit ihnen den genauen Ablauf des Abends zum allerletzten Mal durchsprach, vergaß er den lästigen weiblichen Gast bereits wieder. Lediglich eine Dreiviertelstunde trennte ihn von der Präsentation, die zum größten Coup seiner bisherigen Karriere werden sollte.

Er verspürte ein erregendes Kribbeln entlang der Wirbelsäule, das sich kontinuierlich verstärkte. Ein letzter Rundgang über die Insel, ein paar Hände schütteln – dann würde die Show steigen.

*

Laute Fanfarenstöße aus riesigen Lautsprechern signalisierten den Gästen, dass sie sich vollzählig vor der Villa einfinden sollten. Sie schlenderten herbei und ein jeder versuchte, den besten Blick auf die weiße Leinwand zu erhaschen.

Die Sonne versank am Horizont, schien dekorativ ins Meer einzutauchen; ihre abnehmende Strahlkraft färbte die Szenerie in gelbliches Zwielicht. Der Zeitpunkt für den Veranstaltungsstart war absichtlich gewählt worden. Dichte Wolkenbänke aus Trockeneisnebel, die über das Festgelände waberten, verstärkten den mystischen Effekt noch um ein vielfaches. Plötzlich durchzuckten blutrote Laserstrahlen die Nebelschwaden, irrlichterten umher, um sich schließlich alle zugleich auf denselben Punkt, genau in der Mitte der Leinwand, zu konzentrieren.

In ohrenbetäubender Lautstärke dröhnte der Song Human von Rag’n‘Bone Man aus den Boxen. Dazu lief ein stimmungsvolles Intro über die Leinwand. Es handelte von Menschen, die mit leuchtenden Augen glitzernde Geschenkpäckchen auswickelten, strahlenden Familienmitgliedern, die sich gegenseitig in die Arme fielen und Liebespaaren, die sich am Strand oder auf einer einsamen Parkbank mit kleinen Präsenten beglückten.

Selbstverständlich war auch die schöne Mona in dieser heilen Friede-Freude-Eierkuchenwelt zu bestaunen, wie sie unter einem geschmückten Weihnachtsbaum, angetan mit einem cremefarbenen Spitzenkleid, vor Freude über ein Päckchen der Juwelierkette Christ hyperventilierte.

Die rasante Bildersequenz endete mit der Grafik eines monströsen Geschenkpakets in Firmenfarben, welches seine Form am Ende in ein pochendes feuerrotes Herz verwandelte. Die goldgelbe Geschenkschleife dröselte sich auf, flog federleicht davon und kam mit einem weiteren Herz zurück, verflocht dieses mit dem ersten. Das Logo der neuen Internetplattform flimmerte auf, überblendete schließlich die verbundenen Herzen zur Gänze. Standbild.

»Gott, ich hasse solche rührseligen Werbefilmchen! Die sind so offensichtlich auf Reibach ausgelegt! Die Einzigen, die sich nach solch einer Geschenkeorgie vor Freude in die Hosen pissen, sind doch die Verkäufer von all dem Konsumzeugs, oder? Gerade zu sämtlichen vom Kalender verordneten Zwangsfeiertagen wie Weihnachten. Scheiß Kapitalismus«, mokierte sich die Fledermausfrau. Sie sah sich Beifall heischend um. Vergeblich.

»Pssst!«, mahnte ein neben ihr stehender Herr in Anzug und Fliege. »Außerdem ist das ohnehin nicht richtig, meine Liebe. In diesem Fall profitiert ebenso der Inhaber der Internetplattform, und das nicht schlecht. Genau darum geht es hier, also was regen Sie sich überhaupt auf?«, raunte er missbilligend.

Anschließend widmete er sich kopfschüttelnd wieder seinem Sektglas und der wohlinszenierten Show. Rund um das Plateau wurden soeben die unzähligen Fackeln illuminiert, eine nach der anderen flammte auf.

Thorsten Sasse betrat, selbstbewusst winkend wie ein Rockstar, die kleine Bühne vor dem zentralen Eingangsportal. Beifall brandete zur Bühne hinauf, die Leute reckten die Hälse.

Es dauerte eine Weile, bis sich die Ovationen gelegt hatten. Immer wieder hob der Protagonist routiniert seine Hände, versuchte, etwas Ruhe in die Veranstaltung zu bringen. Endlich war es soweit, er konnte mit der eigentlichen Präsentation loslegen.

Zwei Strahler erleuchteten die Banner zu seiner Linken und Rechten. Die bombastische Aufmachung erinnerte fast schon an Kundgebungen aus dem Dritten Reich oder eine Fahnenweihe.

»Seit Anbeginn der Zeit beschenken sich die Menschen gegenseitig. Man könnte also sagen, es sei ein menschliches Grundbedürfnis, Anderen eine Freude zu bereiten. Denken Sie nur an die drei Weisen aus dem Morgenland, die dem Jesuskind von weither ihre wertvollen Präsente gebracht haben! Zugegeben – mit Weihrauch und Myrrhe würde man heutzutage keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken«, scherzte Thorsten launig.

Das Publikum lachte artig.

»In diesen Tagen punktet man eher mit einer VR-Brille, einem teuren Smartphone oder einem Erlebnisgeschenk. Und da wären wir auch schon beim Knackpunkt. Woher sollen Angehörige und Freunde denn so genau wissen, was wir uns wünschen? Welche Marke, Farbe oder Aufmachung eines Produktes?

Omi und Opi sind im Allgemeinen überfordert, sobald es um Hightech geht. Was, wenn ich statt dem heiß ersehnten I-Phone ein anderes oder gar veraltetes Fabrikat geschenkt bekomme? Einen öden Pulli anstelle der gewünschten Handtasche?«

Zustimmendes Gemurmel brandete auf. Thorsten legte extra eine Kunstpause ein, um das Gehörte wirken und eigene Erinnerungen hochkommen zu lassen. Garantiert trugen die Besucher gerade allesamt Bilder vom sinnbefreitesten Geschenk im Hinterkopf, welches er oder sie jemals erhalten hatte.

»Ich sehe schon, Sie kennen das Problem«, fuhr er mit einem breiten Lächeln fort. »Es gibt aber noch ein weiteres. Was, wenn sich keiner meiner Lieben mein teures Wunschgeschenk leisten kann? Muss ich in diesem Fall lauter kostengünstige Kleinigkeiten einheimsen, die ich gar nicht brauche? Oh konträr, wie ich Ihnen sogleich demonstrieren werde! Wozu gibt es schließlich Crowdfunding?«

Oben auf der Leinwand wurden die verschnürten Herzen vom Layout der Home-Seite der neuen Internetplattform mit Namen WISHLIFT.COM verdrängt. Ein Raunen ging durch das Publikum. Selbstverständlich war die Webseite state of the art, SEOoptimiert und im responsive design programmiert, ergo auch für Tablets und Smartphones geeignet. Thorsten Sasse beschäftigte einen Stab aus teuren, weil erfahrenen und zugleich innovativen Programmierern für seine Projekte. Und die hatten in den letzten Monaten alles drangegeben.

»Ach, eine Geschenkeplattform … ist alles schon dagewesen!«, rief jemand aus den hinteren Reihen.

Natürlich, die gottverdammte Fledermaus! Da half jetzt alles nichts, Thorsten musste improvisieren. Er lächelte unerschütterlich.

»Vielen Dank für Ihren freundlichen Einwurf, er soll mir als Stichwort dienen. In der folgenden halben Stunde werde ich Ihnen anschaulich demonstrieren, dass unser Konzept viel weiter geht als jene der Konkurrenten. WISHLIFT bietet erheblich mehr als die herkömmlichen Geschenkeplattformen, stellt eher einen Geschenkekoordinator dar, der in Zukunft das Schenken revolutionieren und zugleich optimieren wird!

 

Nutzt jemand unser Angebot und registriert sich, wird jedes künftige Geschenk in punkto Beliebtheit und oft auch im monetären Wert angehoben, daher setzt sich der Name der Plattform auch aus den Worten wish für Wunsch und lift für das Anheben zusammen. Zudem erinnert der Name auf den ersten Blick an den Begriff wishlist. Er erzeugt somit erst bei genauerer Betrachtung einen Aha-Effekt, nämlich dann, wenn der Betrachter die Bedeutung hinter der minimalen Abwandlung erkennt.

Wissen Sie überhaupt, welch riesiger Kostenaufwand verursacht wird, weil der Einzelhandel gegen Vorlage des Kassenbons zum Umtausch verpflichtet ist? Stellen Sie sich vor – jeder Dritte, der seiner Ansicht nach unpassend beschenkt wurde, macht von diesem Recht Gebrauch.

Das glauben Sie nicht? Eine aktuelle Umfrage des Marktforschungsinstitutes Aris, die im Auftrag des IT-Branchenverbands Bitkom durchgeführt wurde, beweist das. Im Onlinehandel sind die Zahlen für Rücksendungen sogar noch weitaus höher.

Ich werfe Ihnen jetzt eine Zahl zu. Laut einer Schätzung von TNS Infratest landen alleine an Weihnachten ungeliebte Präsente im Wert von siebenhundert Millionen Euro unter deutschen Weihnachtsbäumen. Wenn unsere Plattform angenommen wird

– und davon gehe ich felsenfest aus – könnte sich dieser Betrag bald in erheblichem Umfang minimieren. Letzten Endes werden sogar Ressourcen und die Umwelt geschont, wenn beispielsweise im Onlinehandel nicht mehr so viele Waren zurückgeschickt werden müssten.

Für uns am lohnendsten wird die ganze Sache selbstverständlich, wenn jemand sich über WISHLIFT.COM eine Urlaubsreise wünscht. Durch die Verknüpfung mit dem eigenen Urlaubsportal bekommen wir dann gleich zwei Stücke vom Kuchen ab«, referierte Thorsten Sasse selbstgefällig.

»Selbstverständlich werden wir überall einen Fuß in der Tür haben. Soziale Medien, Magazinwerbung, Fernsehspots … bald schon werden Millionen von Usern ein Profil anlegen. Es wird zur Selbstverständlichkeit werden, seine persönliche Wunschliste online zu stellen. Ob Geburtstag, Weihnachten, Jubiläum … jeder wird künftig herausfinden können, welche Geschenke Ihr Herz höher schlagen lassen!«

Nach dieser Einleitung demonstrierte Sasse anhand von Beispielen, wie kinderleicht die Benutzung der Seite von der Hand ging. Er dankte dem Investorenkonsortium und betonte noch einmal, dass eine schnelle Marktübernahme ohne massive Werbekampagne, die sich nur durch diese großzügige Finanzspritze realisieren lasse, mit Sicherheit nicht möglich wäre. Die Offensive werde kommende Woche starten, und zwar zeitgleich mit der Freischaltung des Portals.

»Sie wollen doch in erster Linie Daten über das Konsumverhalten der Leute sammeln und diese durch die Hintertür verkaufen!«, warf die Fledermaus kämpferisch ein. Thorsten überhörte den Zwischenruf absichtlich. Innerlich aber kochte er.

*

Frenetischer Beifall zeigte Sasse, eine halbe Stunde und tausende Worte später, dass er mit seiner Geschäftsidee wohl richtig lag. Erneut musste er eine Weile abwarten, bis halbwegs Ruhe einkehrte. Inzwischen war es vollständig dunkel geworden, allein die Fackeln und die farbig leuchtenden Palmenkübel verströmten dezentes Licht. Thorsten staunte selbst, welch romantische Stimmung diese Art der Beleuchtung generierte.

Einige der Gäste wandten ihren Blick von der Bühne ab, wollten sich Getränke holen oder in Grüppchen zusammen stehen, um zum gemütlichen Teil der Feier überzugehen. Doch sie hatten die Rechnung ohne den begnadeten Redner gemacht.

»Bitte warten Sie, noch nicht weggehen! Ich habe Ihnen eine weitere Mitteilung zu machen, die nicht minder interessant sein dürfte«, rief Sasse mit seiner tragenden Stimme. Zwei der Servicekräfte schnappten sich je eine brennende Fackel und postierten sich zu seiner Linken und seiner Rechten.

»Mona, mein Augenstern. Würdest du mir die Ehre erweisen und zu mir auf die Bühne kommen?«, fragte er mit samtweicher Stimme.

Die junge Frau wirkte echt überrascht, setzte sich jedoch sofort in Bewegung. Professionell lächelnd, erklomm sie die drei Stufen zur Bühne, gesellte sich an Thorstens Seite. Was konnte er nur von ihr wollen?

»Hier steht sie nun in voller Lebensgröße vor Ihnen, die Liebe meines Lebens. Ohne ihre Gesellschaft wäre es mir wohl kaum möglich gewesen, das hier zu verwirklichen. Sie ist meine Muse, beflügelt mich jeden Tag.«

Er wandte sich ihr zu, sank theatralisch aufs rechte Knie und zog ein kleines Päckchen aus seinem Designerjackett.

»Und deswegen, mein Schatz, möchte ich dir jetzt die Frage aller Fragen stellen: Willst du mich heiraten?«

Mona stand da wie vom Donner gerührt. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Um Himmels willen … sicher, sie sprachen seit Monaten davon, gemeinsam in die Villa auf La Gaiola zu ziehen, sobald sie fertig renoviert wäre. Aber von einer baldigen Hochzeit war niemals zuvor die Rede gewesen. Ihre Gedanken überschlugen sich, Panik überflutete ihr zauderndes Herz.

Ich bin doch noch so jung, fast das ganze Leben liegt vor mir … Ist es schlecht für meine Modelkarriere, wenn ich verheiratet bin? … Will er etwa Kinder in die Welt setzen? … Möchte ich überhaupt heiraten, und vor allem ihn? … Gott, was soll ich jetzt bloß sagen …

»Ja«, hörte Mona sich zu ihrem eigenen Entsetzen antworten. Ihre Zunge hatte sich verselbständigt.

The show must go on. Was blieb mir in dieser Situation anderes übrig? Er hätte sonst das Gesicht verloren, rechtfertigte sie das Eheversprechen vor sich selbst. Dennoch, jeder der Anwesenden hatte ihr verhältnismäßig langes Zögern bemerkt, selbstverständlich auch Thorsten. Dieser Umstand würde später zu höchst unangenehmen Fragen führen, das war ihr bewusst.

Sie riss sich zusammen, setzte ein zuckersüßes Lächeln auf. Sie wusste, was jetzt von ihr erwartet wurde und spulte ein rührseliges Programm ab. Ließ sich einen wuchtigen Diamantring an den Finger stecken, bewunderte ihn artig von allen Seiten. Küsste mehrfach ihren Verlobten, und zwar dermaßen dekorativ, dass die Leute vor Begeisterung klatschten. Streckte, scheinbar überglücklich, ihre Hand mit dem Kavenzmann unter den Ringen in die Luft. Jeder Gast konnte nun sehen, wie das kostspielige Schmuckstück mit dem Sternenhimmel und ihrem weißen, rückenfreien Paillettenkleid um die Wette funkelte.

Inwendig jedoch breitete sich eine unglaubliche Leere aus. Sie fühlte instinktiv, dass sie soeben einen fatalen Fehler begangen hatte. Natürlich, Thorsten war in finanzieller Hinsicht ein gemachter Mann, verhielt sich ihr gegenüber meistens auch lieb, zuvorkommend und nett. Aber er verbarg eine problematische Persönlichkeit hinter der wohlerzogenen Knigge-Fassade, konnte durchaus als zwanghafter, rücksichtsloser Narzisst gelten.

Solange sie jedes seiner Vorhaben kritiklos mittrug und ihn für Erreichtes gebührend bewunderte, war alles in bester Ordnung. Leichteste Abweichungen jedoch brachten ihn schnell in Rage. Seine Pläne zu durchkreuzen, grenzte an Majestätsbeleidigung. Sowas durfte niemand wagen, kein Geschäftsmann, kein Untergebener – und erst recht keine Frau. Zudem war er krankhaft eifersüchtig, was naturgemäß schon wegen ihres exhibierenden Berufes zu häufigen Kabbeleien führte.

Wollte sie mit solch einem schwierigen Menschen wirklich bis ans Ende ihres Lebens zusammenbleiben, gefangen in einem goldenen Käfig, und das auf einer winzigen Insel? So hübsch die Liegenschaft auch war, man konnte La Gaiola in wenigen Minuten umrunden. Im Streitfall wäre es da schwierig bis unmöglich, sich aus dem Weg zu gehen.

Sie hatte bis heute nicht herausfinden können, welcher Teil von Thorstens fürsorglichem Gehabe authentisch und welcher meisterlich inszeniert war. Ihre eigene Mutter hatte sie vor diesem Mann eindringlich gewarnt, ihn gar als arroganten Blender bezeichnet. Sie würde über die Neuigkeiten dieses Abends wohl kaum erbaut sein.

Für solche Überlegungen ist es jetzt ohnehin zu spät. Und letztendlich – eine Verlobung könnte man notfalls wieder lösen, sinnierte Mona Horváth, während sie Dutzende von Händen schüttelte und strahlend die Glückwünsche entgegennahm. Dieser tröstliche Gedankengang war geeignet, ihr aufgewühltes Gemüt halbwegs zu besänftigen. Das hier war wie ein modernes Märchen, und sie spielte darin die Prinzessin wider Willen. Eine tragische, bittersüße Rolle, in der sie sich gleichwohl zu gefallen begann.

Es gab in diesem Augenblick wohl keine Dame auf diesem Event, die sie nicht glühend um ihr Glück beneidet hätte. Viele verdrückten Tränen der Sentimentalität im Augenwinkel.

Mit einer Ausnahme, wie sich herausstellte. Die dürre Fledermausfrau tauchte unvermittelt wieder auf und setzte einen makabren Schlussakzent, bevor sie die lange Treppe ansteuerte, die hinunter zum Bootsanlegeplatz führte.

»Mein aufrichtiges Beileid, Kindchen«, brummte sie im Vorübergehen.

*

Seufzend stand die sechzehnjährige Isabella Rossi an der Balustrade ihres geräumigen Balkons und träumte sich auf jene Insel, die sie gerade aus der Ferne betrachtete. Der Anblick war einfach wunderschön. Die bunten Lichter, die auf dem Wasser zu tanzen schienen, darüber Mond und Sterne …

Fast jeden Abend beobachtete die Schülerin in der wärmeren Jahreszeit von dieser exponierten Stelle aus den Sonnenuntergang, bemerkte fasziniert, wie sehr dieser auf ewig gleiche Vorgang variierte, in immer neuen Farbspektakeln ablief. Ihr Smartphone quoll vor lauter Fotos schon über.

Das etwas in die Jahre gekommene Familienanwesen der Rossis stand am höchsten Punkt der Steilküste, in einer Seitengasse der Via Marechiaro, die der Insel La Gaiola am Festland etwas versetzt gegenüber lag. Von hier aus konnte man den Blick weit über die Bucht, kleine Sandstrände, Bootsanlegestellen sowie felsige Abhänge mit Pinienbewuchs streifen lassen – und natürlich über die geheimnisvolle Zwillingsinsel. Man durfte sich auf dem Balkon des alten Gemäuers nur nirgends anlehnen, denn die Farbe blätterte an allen Ecken und Enden ab.

»Liebes, willst du nicht endlich hereinkommen? Es wird kühl«, fragte eine Stimme liebevoll hinter Isabellas Rücken.

Sie drehte sich schwungvoll zu ihrer Mutter um.

»Nur noch ein paar Minuten, mamma. Sieh selbst, in der Dunkelheit leuchtet die Insel fast wie ein Kreuzfahrtschiff. Sie hat jetzt gar nichts Unheimliches mehr an sich. Wie gerne wäre ich dort drüben und würde mitfeiern.«

Nieves Rossi bekreuzigte sich, drehte die Augäpfel heraus.

»Auf gar keinen Fall, niemals! Anfangs sieht es immer so aus, als würde einem neuen Besitzer auf La Gaiola mehr Glück beschieden sein als seinen bedauernswerten Vorgängern. Bis eben der Inselfluch wieder zuschlägt. Bleib mir bloß fern von diesem gefährlichen Ort, hörst du?«

Der Teenager verdrehte die Augen. Nicht schon wieder diese Diskussion! Seit sie laufen konnte, warnte ihre überfürsorgliche Mutter sie nahezu täglich vor der Insel. Wenn ihre Freunde dort schwimmen gingen, durfte sie nie mitkommen.

Ein paarmal hatte sie sich dem Verbot allerdings widersetzt, war einmal sogar mit ihrer besten Freundin in die kleine Grotte gegangen, die am Fuße der Inselhälfte mit der Villa lag. Man konnte sie leicht vom Bootsanleger aus erreichen. Ein behördliches Schild der Region Kampanien hatte damals davor gewarnt, dass das Betreten der Grotte bei Hochwasser gefährlich werden könnte. Aber als Einheimische wusste sie natürlich, wann mit der Flut zu rechnen war.

Nichts Ungewöhnliches war bei der kurzen Erkundung passiert, auch wenn den beiden Mädchen ein wenig mulmig zumute gewesen war. Dieselben Felsen wie an der Küste des Festlandes

– keine Totenköpfe, kein gar nichts. Langweilige Sache. Inzwischen war das Schild verschwunden und ein Gitter versperrte den Zugang zur Treppe, die nach oben zur Villa führte. Auch die Grotte war abgesperrt. Statt des Warnschildes prangte da eine Tafel, die in mehreren Sprachen darauf hinwies, dass die Insel Privatbesitz und Unbefugten das Betreten streng verboten sei. Das gesamte Areal werde von Kameras überwacht und sei mit einer Alarmanlage gesichert. Was also sollte einem dort nun noch geschehen können?

 

»Mamma, du bist ein unverbesserlicher Angsthase!«, lachte Isabella und warf ihren Kopf wie ein ungestümes Wildpferd in den Nacken. Dieser Vergleich passte schon wegen ihres kräftigen braunen Haares, das sie zum Pferdeschwanz gebunden trug.

»Der neue Eigentümer soll Geld wie Heu haben, kann sich bestimmt die aktuelle Sicherheitstechnik leisten. Man sagt doch immer, Licht vertreibe Geister, oder? Dann müssten jene dort drüben in diesem Moment schreiend zurück in die Hölle flüchten. Die Insel ist bis in den letzten Winkel beleuchtet«, kicherte das Mädchen achselzuckend.

Doch ihre Mutter blieb todernst, bekreuzigte sich wieder.

»Versündige dich nicht, mein Kind! Das ist übrigens nicht der erste reiche Schnösel, den diese Insel gesehen hat. Leider lebt Opa inzwischen nicht mehr. Der hätte dir so einige Geschichten erzählen können … schließlich hat auch er sein ganzes Leben in diesem Haus hier verbracht. Dein Urgroßvater Fabio hatte es einst mit seinen eigenen Händen erbaut.«

Isabella war Feuer und Flamme. Sie liebte Gruselgeschichten über alles, und ganz besonders diejenigen über La Gaiola.

»Och bitte, erzähle mir davon!«, bettelte sie. Nieves seufzte tief, schien nachdenken zu müssen.

»Es handelt sich um eine alte storia aus den 1950-er Jahren. Mein Vater hat beim Abendessen oft von der Insel berichtet, als ich noch ein Kind war. Ich weiß nicht, ob ich die Ereignisse von damals noch richtig zusammenbekomme, an jedes Detail erinnere ich mich bestimmt nicht mehr. Es ist einfach zu lange her.« Die glänzenden Augen ihrer einzigen Tochter erweichten ihr Herz, und Nieves wurde klar, dass sie ums Erzählen nicht herumkommen würde.

1959

Der Exzesse peinliches Ende

»In den 1950-er Jahren gehörte La Gaiola einem verschrobenen Schriftsteller aus der Schweiz. Er soll auf der Insel durchgedreht sein, sich 1958 in einer psychiatrischen Klinik sogar das Leben genommen haben. Über diesen Sandoz hatte Opa wenig mitbekommen, schon weil er sehr zurückgezogen gelebt und seinen Fuß selten aufs Festland gesetzt hat. Aber danach ging es rund auf der Insel.

1959 kaufte sie ein reicher tedesco namens Paul Karl Langheim, der sehr viel Geld in der Stahlindustrie gemacht hatte. Er lebte eigentlich in Deutschland, wollte auf der Insel zunächst lediglich rauschende Feste abhalten und faule Wochenenden verbringen. Er hatte sie als Prestigeobjekt erworben, als kleine Extravaganz

– zu mehr sollte die Immobilie nicht dienen.

Es dauerte jedoch nicht allzu lange, und er zog ganz in die Villa um. Er konnte es sich finanziell anscheinend leisten, einem Geschäftsführer die Leitung seiner Firmen zu übergeben, selbst nur noch den stinkreichen Lebemann zu spielen.

Und das tat er wirklich. Er gab eine rauschende Party nach der anderen, lud die ganze feine Gesellschaft von Napoli dazu ein. Opa meinte, dass auch der eine oder andere Mafioso unter den regelmäßigen Gästen gewesen sei. Er hat die Leute, die dort einund ausgingen, oft genug mit eigenen Augen gesehen, musst du wissen. Schließlich besaß er damals eine Eisdiele, und Langheim bestellte häufig Desserts bei ihm. Manchmal jammerte Opa, wie schwierig es im Hochsommer gewesen sei, die Eisspezialitäten in gefrorenem Zustand dort hinüber zu bekommen.

Aber ich schweife ab.

Jedenfalls wurden die Feste des Industriellen immer ausgefallener und damit kostspieliger. Für seine Geschäfte in Deutschland interessierte er sich dagegen praktisch gar nicht mehr. Jedermann beneidete ihn um sein leichtes Leben, versuchte davon zu profitieren.

Unmerklich wendete sich das Blatt. Die Feierwut des ehrgeizigen Herrn wurde zur krankhaften Obsession. Er definierte sich nunmehr ausschließlich über werthaltige Besitztümer wie Teppiche, teure Uhren und Antiquitäten, und natürlich seine Feste. Je außergewöhnlicher diese ausfielen desto besser.

Sobald jedoch Zeitungsartikel über ihn und seine Aktivitäten für seinen Geschmack zu mickrig ausfielen, sich eine hochgestellte Persönlichkeit trotz Einladung nicht blicken ließ oder es ihm auf Auktionen nicht gelang, ein teures Liebhaberstück zu ersteigern

– all das war dazu geeignet, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dann wurde er jähzornig, behandelte seine Angestellten schlecht und übertrieb den Aufwand auf dem nächsten Event noch mehr.

Irgendwann kam hier in der Region das Gerücht auf, Langheim steuere schnurstracks einem Bankrott entgegen. Auch Opa wusste nicht zu sagen, ob Misswirtschaft in seinen Unternehmen die Hauptverantwortung dafür trug oder ob das ausschweifende Privatleben zu viel Geld verschlang.

Dein Großvater traute sich zu diesem Zeitpunkt fast nicht mehr auf die Insel, weil ihn der irre Blick des Besitzers ängstigte und Langheim plötzlich anschreiben ließ, nicht wie vorher alles in bar sofort bezahlte. Bald belieferte er ihn überhaupt nicht mehr mit Eis. Wir kamen mit den Einkünften aus unserer Eisdiele schließlich damals gerade so über die Runden, Verdienstausfälle durch säumige Zahler konnte sich mein Vater also nicht leisten. Du weißt ja, er hatte fünf hungrige Mäuler zu füttern.

Die einzige Person, die in keiner Weise zu realisieren schien, wie grottenschlecht es um die Finanzen stand, war kurioserweise Langheim selbst. Die Insel hatte ihn dermaßen verblendet, dass er einfach so weitermachte und exzessiv mit Geld um sich warf. Zum Schluss fanden sich bei den Feiern sogar Edelprostituierte aus Napoli ein, stelle dir das mal vor! Die Leute zerrissen sich das Maul, weil der Industrielle sich so dekadent wie einige der römischen Kaiser gebärdete. Nun war die kleine Insel in ihren Augen auch noch zum Sündenpfuhl geworden.

Es kam der schwarze Tag, an dem Langheim seine Angestellten geschlossen davonliefen. Sie weigerten sich verständlicherweise, ohne Bezahlung weiterzuarbeiten. Erste Wertgegenstände wurden gepfändet, man munkelte über eine bevorstehende Enteignung.

Wutentbrannt ruderte Langheim zum Festland herüber, um neues Personal zu rekrutieren. Dort entluden sich allerdings der Zorn und der Neid einiger Anwohner auf einen Ausländer, der die Ortschaft sehr in Verruf gebracht hatte. Der edle Herr wurde zusammengeschlagen, getreten und verspottet.

Dein Opa fand ihn blutend auf dem Pflaster, wo er nach der Prügeltortur einfach wimmernd liegen geblieben war. Er verarztete ihn daheim in seiner Küche notdürftig, desinfizierte die Wunden. Der gedemütigte Inselbesitzer schien ihn, seinen ehemaligen Speiseeislieferanten Rossi, allerdings nicht einmal mehr zu erkennen.

Als geschlagener Mann kehrte Langheim auf seine Insel zurück, verbarrikadierte sich dort. Doch auch das half ihm nichts. Der Immobilienbesitz samt Grundstück wurde enteignet und danach vom Erben des Fiat-Konzerns, einem gewissen Agnelli, übernommen.«

Isabella sah skeptisch drein. Sie hatte eine spannende Geschichte voller unerklärlicher Mysterien erwartet.

»Und was soll ein Bankrott mit dem angeblichen Inselfluch zu tun haben?«, fragte sie enttäuscht.

»Das liegt doch klar auf der Hand, erkennst du es denn nicht?. Dieser reiche Industrielle konnte solange als kühl kalkulierender, erfolgreicher Geschäftsmann gelten, wie er den verführerischen Reizen La Gaiolas noch nicht verfallen war. Die Insel hat ihm die Sinne verwirrt, ihm erst zum Schein alles im Überfluss gegeben, um es ihm hernach eiskalt wieder zu entreißen.

So ist sie eben – wie eine launische Diva. Wenn der deutsche Schnösel, der sich heute Abend dort drüben so ausgiebig feiern lässt, nicht aufpasst, wird es ihm eines Tages genauso ergehen«, orakelte Nieves schadenfroh.

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