Radieschen von unten

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Der Rest dieses relaxten Strandnachmittags gestaltete sich wunderschön. Björn und seine Jungs entpuppten sich als intelligente, lebensfrohe Zeitgenossen, integrierten die fremde Urlauberin in ihre Gespräche, so als würde sie dazugehören. Einer von ihnen klimperte gekonnt Guantanamera auf seiner Gitarre, während die herabsinkende Sonne orangegoldene Lichtreflexe auf die Wellenkämme zauberte. Die Zeit war wie im Flug vergangen.

»Wenn wir Puntallana noch halbwegs bei Tageslicht erreichen wollen, müssten wir jetzt allmählich aufbrechen. Die Sonne geht hier, ganz in der Nähe des Äquators, erheblich schneller unter als in Deutschland. Ich begleite dich gerne noch bis zu deinem Auto – oder wohin immer du möchtest«, erbot sich Björn kavalierhaft.

Marit hatte längst registriert, dass er sich für sie interessierte und versuchte, den Abschied hinauszuzögern. Das schmeichelte ihr, und auch sie wollte seine Gesellschaft noch ein wenig länger genießen. So gönnten sie sich im Dorf noch einen Mojito, bevor Björn sie zum Abschied einfach fest in die Arme schloss.

»Ich würde dich gerne wiedersehen«, gestand er unumwunden.

»Dito. Wie wäre es gleich morgen?«, hörte sie sich sagen.

»Wow, mit dir kann man echt was anfangen. Du bist herrlich unkompliziert und direkt. Sowas schätze ich sehr. Solche Frauen sind rar, und das nicht nur hier auf der kleinen Insel. Dabei ist das Leben so kurz, jeder Tag könnte der letzte sein. Man muss jeden einzelnen genießen, so gut es geht.

Falls du auch mal aufs Brett steigen willst, empfiehlt sich der Strand Playa Nueva bei Porto Naos. Der ist besser für Anfänger geeignet, weil die Wellen an diesem Spot nicht gar so hoch werden. Die ersten Stunden entscheiden schließlich darüber, ob du diesem Sport jemals etwas abgewinnen kannst. Schluckst du nur Wasser, hat der Spaß schnell ein Loch.

Wenn du möchtest, hole ich dich morgen früh bei deiner Pension ab und wir fahren zusammen dahin. Man ist von Santa Cruz aus zwar gut eine Stunde unterwegs, aber du würdest auch viel von der wunderbaren Landschaft zu sehen bekommen.

Ich würde mich auf alle Fälle tierisch freuen, dir deine ersten Surfstunden geben zu dürfen. Völlig kostenlos, das versteht sich natürlich von selbst.«

Sie zögerte keine zwei Sekunden. Dann gab sie ihm bereitwillig die Adresse ihrer Ferienpension am Rande von Santa Cruz und umarmte ihn ein weiteres Mal.

Erst nach dem Zubettgehen kam ihr Bernd in den Sinn, aber ohne, dass der Gedanke an ihn großartig Emotionen weckte. Es fiel ihr schwer, dieses Phänomen einzuordnen, auch weil sie so lange um sein Herz gekämpft hatte.

Es war schon kurios. Zurzeit bestand erstmals die Chance, mit ihrem Chef die ersehnte Liebesbeziehung zu beginnen. Er hatte bis zu ihrer Rückkehr ins Revier zwei Wochen Zeit, seine Angelegenheiten einigermaßen zu ordnen, den Weg für die neue Liebe freizumachen. So hatten sie es nach ihrer allerersten gemeinsamen Nacht, unmittelbar vor ihrem Abflug, vereinbart.

Dennoch … ihr Fast-Freund aus Elend schien gerade mindestens so weit entfernt zu sein wie der Mond. Sein in ihrem Gehirn abgespeichertes Bild wurde bereits nach einem Nachmittag von Björns strahlendem Lächeln überlagert. Das gab ihr zu denken. Wie mochte das erst morgen aussehen, wenn sie einen kompletten Tag mit ihm verbrachte?

Um das zu erahnen, brauchte es wenig Fantasie. Sie ertappte sich dabei, wie sie sich ihre ersten Surfversuche in den schönsten Farben ausmalte. Wie er sie an den Hüften hielt und sie die deutlich hervortretenden Adern auf seinen Muskeln betrachtete.

Habe ich ein schlechtes Gewissen? Seltsamerweise nein. Erstens ist heute absolut nichts passiert, wofür ich mich schämen müsste. Zweitens ist Bernd ja selber schuld, dass er nicht mitgeflogen ist. Drittens habe ich es bitter nötig, ein bisschen Abstand von Wernigerode und meinem aufreibenden Job zu bekommen. Was wäre dazu besser geeignet als ein so harmloser wie wohltuender Urlaubsflirt? So attraktiv dieser Kerl ist, es wird nichts geschehen, was ich nicht selber haben will.

Marit lag noch lange wach, ließ den supertollen Nachmittag Revue passieren. Für sie fing der Urlaub jetzt erst so richtig an. Sie schlief wegen der ungewohnt hohen Nachttemperaturen bei weit geöffnetem Fenster. Plötzlich nahm sie La Palma mit allen Sinnen wahr. Sie schmeckte einen Hauch von Meersalz auf ihren Lippen, spürte den lauen Wind auf der nackten Haut, der die zarten Gardinen bauschte.

Ein seltsames Wohlgefühl überrollte sie wie eine Welle.

Marit Schmidbauer aus Wernigerode fühlte sich so lebendig wie selten zuvor.

*

Drei Tage später …

Die hoffnungslos verliebte Kriminalbeamtin war todsicher, auf La Palma die schönsten Tage ihres bisherigen Lebens genossen zu haben. Sehr intensive, unbeschwerte Tage.

Björn König hatte sich als belesener, weltoffener Zeitgenosse entpuppt, der zwar um seinen hohen Attraktivitätsfaktor wusste, diesen aber keineswegs in oberflächlicher Weise einsetzte.

Vielmehr hatte er seiner neuen Freundin Marit das angenehme Gefühl vermittelt, die einzige Frau auf Erden zu sein, für welche er überhaupt Augen hatte.

Letzteres beruhte allerdings auf Gegenseitigkeit.

Gleich würde er sie wieder abholen, zum letzten Mal. Ihr Koffer stand gepackt neben dem Bett. Sie gedachte ihren Aufenthalt in der Ferienpension vorzeitig zu beenden, und das obwohl sie per Vorkasse bezahlt hatte und mit keiner Rückerstattung rechnen durfte. Es war ihr egal, so wie alles andere, sofern es nichts mit dem Surfer, mit ihrer neuen Liebe zu tun hatte. Björn würde sie und ihre Siebensachen noch heute zu seiner kleinen Wohnung in Barlovento befördern. Aus ihrem einsamen Erholungstrip war unversehens ein Liebesurlaub geworden.

Die Schmetterlingsschar in ihrem Bauch lief Gefahr, sich beim wilden Flattern total zu verausgaben. Kein Wunder, diese armen Dinger waren viel zu lange in einem undurchdringlichen Kokon weggesperrt gewesen. Abgesehen von der ersten zarten Liebe als Teenie, die eine Ewigkeit zurücklag, hatten sie ihre Gefühle niemals mehr derart gnadenlos überrollt.

Normalerweise hatte Marit bei ihrer Partnersuche immer nach ›Matches‹ bei Gewohnheiten und Vorlieben gesucht, ähnlich wie es komplizierte Algorithmen in den Systemen der Partnerschafts-portale machten. Die berechneten nur die Wahrscheinlichkeit, ob eine Beziehung funktionieren könnte – oder nicht. Auch sie hatte, sachlich wie ein Computer, ihren scharfen Verstand und nicht das Herz entscheiden lassen. Oder höchstens in zweiter Linie.

Diesmal war alles völlig anders gekommen. Nach Liebe konnte man offenbar in Wahrheit gar nicht gezielt suchen. Das Verlieben passierte einfach, beinahe wie ein Unfall, und dies völlig unabhängig davon, ob die Umstände gerade passten. Amor kannte da gar nichts, der schoss seine Pfeile ungefragt aus dem Hinterhalt ab. Oft war der Zeitpunkt alles andere als ideal.

Sie drehte sich eitel vor dem bodenlangen Spiegel, der auf der Innenseite der Zimmertür angebracht war, um die eigene Achse, erkannte sich darin selbst kaum wieder. Was ein paar Tage in der Sonne ausrichten konnten …

Björn hatte Recht behalten, Marit bräunte unglaublich schnell. Ihre ebenmäßige getönte Haut leuchtete bereits jetzt, nach wenigen Sonnenstunden, in einem goldenen Farbton, der gut zu den vereinzelten Goldreflexen in ihrem braunen langen Haar kombinierte. Sie strahlte von innen heraus.

Ihre Seelen-Wehwehchen, die sie seit Monaten gepflegt hatte, schienen sich binnen kürzester Zeit in Wohlgefallen aufgelöst zu haben. Genauso wie Bernd, Wernigerode und ganz Deutschland noch dazu.

Bernds WhatsApp-Nachrichten beantwortete sie nur halbherzig, zeigte sich äußerst kurz angebunden. Meist schickte sie ihm kommentarlos Landschafts- oder Strandfotos zurück. Aber auch das nur widerwillig und häufig mit stundenlanger Verspätung.

Sie wollte ihren Wernigeröder Freund und Kollegen, was ihre gemeinsame Beziehungskiste anging, weder in Sicherheit wiegen noch ihn vorsätzlich anschwindeln oder gar vor den Kopf stoßen. Das hatte er keineswegs verdient, daher war diese Gratwanderung vorübergehend notwendig. Nach ihrer Rückkehr würde sie sofort Farbe bekennen müssen.

Das war ein späteres Problem. Davon wollte sie sich den restlichen Urlaub keinesfalls verderben lassen.

Gestern hatte Björn sie geradeheraus etwas gefragt. Ohne Vorwarnung, ohne Bedenkzeit. Ob sie zu ihm auf die Insel umziehen und ihm helfen wolle, sein Surfer-Business aufzuziehen. Sie sei genau die passende Frau für ihn persönlich – und außerdem fürs Büro, die Internetwerbung, Kundenbetreuung und Akquise. Dafür brauche er jemand Zuverlässigen, jemanden, dem er absolut vertrauen könne. Ergo sie.

Marit war eine bodenständige fünfunddreißigjährige Beamtin, hatte den Leichtsinn der Jugend längst hinter sich gelassen, Verliebtheit hin oder her. So hatte sie Björn innig geküsst, ihm dann verklickert, dass sie zunächst einmal zurück nach Hause müsse, um einiges zu regeln. Hals über Kopf könne sie als Beamtin im Polizeidienst beim besten Willen nicht verschwinden. Sie wolle sich erstmal für ein Jahr beurlauben lassen, wobei die Genehmigung durchaus mehrere Wochen in Anspruch nehmen könne, hatte sie ihm erklärt. Aber so bald wie irgend möglich werde sie wieder hierherkommen und der gemeinsamen Sache eine Chance einräumen. Marit freute sich unbändig auf ihn und die neue berufliche Herausforderung. Daraus machte sie keinen Hehl.

Björn hatte sich voller Begeisterung einverstanden erklärt, seine neue Flamme liebevoll hochgehoben, ihr Gesicht über und über mit Küssen bedeckt und sie rücklings auf den Küchentisch gelegt. Kurz darauf hatte sie die Englein singen hören.

 

Noch achteinhalb wundervolle Tage, bis sie ihren Billigflieger zurück nach Frankfurt besteigen musste. Aber hieran dachte sie lieber noch nicht allzu intensiv. Sie freute sich unbändig auf die verbleibenden Urlaubstage – und erst recht auf Björn und ihren neuen, abenteuerlichen Lebensabschnitt. Den Koffer mit ihren Siebensachen würde sie ihm gleich als Pfand dalassen.

Jemand klopfte an die Zimmertür. Punkt zwölf, genau wie vereinbart. Björn war der Beste. Ihr Herz vollführte vor Freude mehrere Bocksprünge.

*

20. Mai 2019, Revierkommissariat Wernigerode

Allmählich wurde Hauptkommissar Bernd Mader doch mulmig zumute. Irgendetwas stimmte da nicht. Er hatte seit seinem Eintreffen immer wieder aus dem Fenster geschaut. Schon vor zwei Stunden hatte er seine Kollegin Schmidbauer das Revier über den Nicolaiplatz betreten sehen, doch seither war sie noch nicht in seinem Zimmer aufgetaucht.

Er war ihr unmittelbarer Vorgesetzter. Marit hätte sich deshalb normalerweise als erstes bei ihm aus dem Urlaub zurückmelden müssen, aber längst nicht nur das bereitete ihm Sorge. Er hörte sie glücklich auflachen, mit Kollegen über ihre Ferienerlebnisse reden. Das versetzte ihm einen schmerzhaften Stich mitten ins Herz. Er ahnte längst, nicht zuletzt wegen der merkwürdig unterkühlt formulierten WhatsApp-Posts, dass sich zwischen ihm und Marit was Maßgebliches verändert haben musste.

Aber was, und vor allen Dingen: Wieso, zum Henker?

Nervöse Unruhe befiel ihn, er geriet ins Grübeln.

Er konnte in der Zwischenzeit wohl kaum was falsch gemacht haben, ganz im Gegenteil. Julia hatte ihre restlichen Sachen bei ihm in Elend abgeholt. Sie hatten sich in finanzieller Hinsicht fair geeinigt und waren danach friedlich auseinandergegangen. Eine schmutzige und langwierige Scheidung war damit endgültig vom Tisch. Also hatte er genau das getan, worauf Marit größten Wert gelegt hatte. Weshalb also behandelte sie ihn wie Dreck? Oh ja. Marit war ihm definitiv eine Erklärung schuldig.

Irgendwann hielt er es nicht mehr aus, total ignoriert zu werden, ging Marit suchen und fand sie mit Fred Jablonski, Verena Kant und Thomas Wolters‘ Vorzimmerdame Christa in der Teeküche. Es genügte ein tiefer, prüfender Blick in Marits bernsteinbraune Augen – und Mader wusste mit vernichtender Klarheit, woran er bei ihr war. Das durfte doch nicht wahr sein.

»Ach, hier bist du. Mir war doch so, als hätte ich deine Stimme gehört. Bringst du mir bitte auch eine Tasse Kaffee mit, wenn du dich nachher offiziell zurückmelden wirst?«, plauderte er, scheinbar lässig. In seinem Innersten sah es freilich vollkommen anders aus. Sein Herz stand kurz davor, brüllend Amok zu laufen.

Marit nickte, tat so, als hätte sie den Seitenhieb mit der verspäteten Rückmeldung nicht bemerkt.

»Na klar, ich komm in ein paar Minuten rüber. Und zum Wolters muss ich vorher auch noch«, beschied sie ihm emotionslos. Keine erkennbare Wiedersehensfreude, kein Lächeln erhellte ihr hübsches Gesicht. Das konnte ja heiter werden.

Fred und Verena merkten ebenfalls, dass Ärger in der Luft lag. Diese Kollegen hatten längst was vom Techtelmechtel der beiden geahnt, wechselten jetzt irritierte Blicke.

Wer hatte hier wohl wen abserviert?

Die illustre Runde löste sich auf. Mader dackelte wie ein geprügelter Hund zurück in sein Zimmer. Er kam sich reichlich doof vor. Hatte er sich dermaßen in Marit getäuscht – oder gab es eine harmlose Erklärung für ihr schnödes Verhalten?

Das werden wir sehen. Nur Geduld, Bernd. Du darfst nichts übers Knie brechen und keine voreiligen Schlüsse ziehen. Beruhige dich erstmal. Sie wird die Sache aufklären, das muss sie ja eigentlich.

Die Selbstsuggestion zeigte keinerlei Wirkung. Er tigerte entnervt in seinem Zimmer auf und ab, bis sie schließlich mit zwei dampfenden Tassen zur Tür hereinkam. Selbst die anmutige Bewegung, mit der sie ihm immer die Kaffeetasse über den Schreibtisch reichte, hatte sich nach diesem vermaledeiten Urlaub verändert. Auch das aufmunternde Lächeln fehlte gänzlich.

Sie setzte sich ihm gegenüber. Der Schreibtisch stand wie eine Barriere zwischen ihnen. Aber leider nicht nur der.

»So, der Dienst hat mich wieder. Na, wie viele Leichen haben unsere lieben Harzer in der Zwischenzeit produziert?«, fragte sie launig. Ein Ausweichmanöver, zweifellos. Sie wollte offenkundig nicht über Privates reden. Aber so billig würde sie ihm nicht davonkommen.

»Du wirst es ja kaum glauben, die Wernigeröder leben alle noch. Wir kommen momentan sogar zum Aufarbeiten der liegengebliebenen Sachen. Richtig langweilig ist es hier zurzeit, doch das kann auch mal nicht schaden. Wir kriegen unsere Schreibtische frei und können endlich wieder ein bisschen Privatleben genießen.

Apropos genießen … wie war dein Urlaub? Alles so gewesen, wie du es dir erhofft hattest?«

»Oh, es war herrlich, noch viel schöner als ich es mir vorgestellt hatte. Du hast ja die Fotos gesehen«, schwärmte Marit verträumt.

Er verschränkte die Arme, nahm sie ins Visier.

»Und?!«

»Was … und?«

»Das weißt du ganz genau. Aber bitte sehr. Ich hätte gerne gewusst, was in diesem Urlaub vorgefallen ist. Du bist reserviert und abweisend«, brummte er angesäuert. Nun durfte er sich nicht nur eine schallende Ohrfeige für sein Gefühlsleben abholen, sondern musste ihr diese auch noch selber aus der Nase ziehen.

»Ich wollte damit nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, lieber später mit dir über einiges Wichtige reden. Unter anderem darüber, dass ich mich so schnell wie es geht für mindestens ein Jahr beurlauben lassen möchte. Du musst mir glauben, dass ich sowas nicht beabsichtigt hatte, Bernd. Es kam einfach aus dem Nichts.

Ich bin verliebt und werde auf die Insel ziehen, dort mit meinem Freund eine Surfschule eröffnen. Er hat mich gebeten, ihn zu unterstützen. Ich weiß, was ich dir damit antue. Ich kann einfach nicht anders, es tut mir leid. Manchmal schreibt das Leben Geschichten, die man selbst kaum glauben kann«, strahlte sie.

Es tut ihr leid? Geschenkt! Sie hat dich, aus einer Laune heraus, ausrangiert und abgeschoben. Vielleicht war es sogar gut, dass es jetzt zu Anfang und nicht später, nach vielen gemeinsamen Jahren, geschehen ist. Trotzdem. Sie lässt dich wegen einer Urlaubsaffäre fallen wie eine heiße Kartoffel und erwartet dafür auch noch Verständnis. Du musst ihr so richtig die Meinung geigen, suggerierte sein Verstand.

Bernd verzog das Gesicht, schüttelte missbilligend den Kopf.

»Und für einen braungebrannten Hallodri, den du seit wenigen Tagen kennst, willst du daheim alles hinschmeißen, inklusive deines Jobs? Mensch Marit, solch ein himmelschreiender Leichtsinn passt doch überhaupt nicht zu dir!

Okay, der Typ hat dir die Sinne vernebelt. Die wunderschöne Umgebung, die Sonne, die Unbeschwertheit nach all dem Stress … in solchen Situationen kann es leicht vorkommen, dass man ein wenig abhebt. Ich weiß aus eigener Erfahrung, was das spanische Lebensgefühl mit einem anstellen kann. Aber eine gestandene, lebenserfahrene Frau wie du solltest doch merken, wann es an der Zeit wäre, wieder auf dem Boden der Tatsachen zu landen. Wach auf und denk nach, Marit!«

Sie zog eine beleidigte Grimasse, entgegnete kein Wort.

Er war ohnehin noch nicht fertig mit ihr.

»Ein arbeitsloser Surfer, der von der Selbständigkeit träumt. Du meine Güte, was für ein abgedroschenes Klischee. Ist dir eigentlich schon mal ernsthaft in den Sinn gekommen, dass er dich womöglich als Mittel zum Zweck sieht, im Grunde bloß deine Arbeitskraft und dein Geld abzocken will? Du bist sicherlich nicht die erste und auch nicht die letzte Frau, der er diesen Bären mit der Surfschule aufgebunden hat. Geschichten wie diese sind geradezu typisch«, wetterte Bernd abschätzig.

Er war tatsächlich vollkommen außer sich. Gut, dass Marit sich gegen ein Leben mit ihm, dem elf Jahre älteren Scheidungsopfer und Vater von zwei Kindern, entschieden hatte, zugunsten eines Jüngeren, schien ihm, jedenfalls von ihrer Warte, noch halbwegs verständlich zu sein. Sowas kam vor. Damit musste er irgendwie fertigwerden, auch wenn es irre wehtat.

Aber ein neues Leben mit einem Surflehrer anfangen zu wollen, den sie gerade seit ein paar Tagen kannte, für ihn auszuwandern … so dumm konnte sie doch eigentlich gar nicht sein, oder? Surfer gehörten, genau wie Ski- und Fahrlehrer, zu den berüchtigtsten Flirtprofis dieser Welt. Das sagte ihm seine Lebenserfahrung. Und ausgerechnet sie war einem Exemplar dieser Gattung aufgesessen, stach ihm dafür skrupellos den Dolch des Verrats in die Brust. Ganz schön herb.

Jetzt straffte sie ihren Rücken, ihr Blick wurde trotzig.

»Du kennst ihn nicht und erlaubst dir ein vernichtendes Urteil? Schön, das ist dein Bier. Ich lasse ihn mir wegen deiner Eifersucht keinesfalls madig machen. Er ist anders, das weiß ich. Du kannst oder willst es nicht verstehen, Bernd. Man kann eigene Gefühle schlecht manipulieren oder mit dem Verstand totknüppeln. Und wenn doch, hätte ausschließlich ich das Recht dazu.

Damit ist das Thema für mich beendet, Bernd. Ich muss mich außerdem für nichts rechtfertigen, schon weil du dich nicht etwa wegen mir von Julia getrennt hast. Das hattest du selbst gesagt, schon vergessen? Du warst es, der endlos lange gezögert hat. Vielleicht zu lange.

Wir hatten vor meiner Abreise zwar eine wunderbare gemeinsame Nacht, das will ich gar nicht abstreiten, aber nun ist es eben anders gekommen. Das Schicksal hat mir meinen Weg gezeigt, und der führt nach La Palma.

Bis heute Abend lege ich dir meinen Antrag auf Beurlaubung vor. Ich bitte dich, ihn trotz deiner Enttäuschung möglichst objektiv zu behandeln. Gäbe es jetzt noch was Dienstliches zu besprechen, wo soll ich mich dransetzen? Einige Wochen bin ich ja sicherlich noch in Deutschland präsent.«

Mader hatte momentan eigentlich keine dringliche Aufgabe für sie. Er überlegte krampfhaft, wohin er sie schicken könnte, damit sie erstmal aus dem Revier und aus seinen Augen war.

Plötzlich fiel ihm dazu etwas Passendes ein.

»Da wäre tatsächlich was Aktuelles. Melde dich bitte beim Kollegen Weichelt. Der hat einen obskuren Vermisstenfall hereinbekommen. Eine Gärtnerin ist seit ungefähr drei Wochen spurlos verschwunden. Es wurde von einer Kollegin sogar Mordverdacht geäußert. Da die Frau zwischenzeitlich immer noch nicht aufgetaucht ist, weder tot noch lebendig, müssten wir dieser Sache allmählich doch nachgehen.

Fahr bitte rüber zum Gartencenter Findeisen und befrage dort alle Kollegen einzeln. Gemeldet hat das Verschwinden eine Frau Bilcher. Die wollte mir ohnehin ein Foto der Vermissten vorbeibringen, hat das jedoch scheinbar vergessen. Das könntest du dir mitgeben lassen. Fahr bitte mit dem Jablonski, damit er vor Langeweile nicht andauernd auf dem Dienstcomputer surft. Ich erwische ihn nahezu jedes Mal, wenn ich ins Zimmer komme.«

Marit wirkte erleichtert, atmete durch. Scheinbar war auch sie heilfroh, ihm auf diese Weise aus dem Weg gehen zu können. Sie stand auf, ging zur Tür.

»Klar, mache ich gleich. Und Bernd … es tut mir wirklich leid. Ich mag dich nach wie vor sehr, wünsche mir, dass wir Freunde bleiben. Hoffentlich kannst du mich eines Tages verstehen und mir verzeihen«, sagte sie kleinlaut.

Bernd seufzte tief. Er konnte sie nicht direkt ansehen, schaute zum Fenster hinaus. In der Scheibe spiegelte sich ihre Silhouette.

»Glaubst du, ich wüsste nicht, wie sowas gehen kann? Ich habe mich in meinem Leben schon öfters verliebt. Zuletzt in dich.

Böse bin ich dir nicht. Nur sehr enttäuscht und traurig. Trotzdem wünsche ich dir Glück, obwohl ich denke, dass du es bei ihm auf Dauer nicht finden wirst«, entgegnete er leise.

»Danke. Das war mir sehr wichtig«, flüsterte sie und schloss die Tür hinter sich.

Sowas nennst du also ›die Meinung geigen‹? Du bist ein Schlappschwanz, Bernd. Wie so eine sozialromantische Pädagogen-Wollsocke zeigst du auch noch Verständnis, dass sie dich einfach ersetzt hat, und wünschst ihr Glück. Kein Wunder, dass sie meint, auf deinem Herz herumtrampeln zu dürfen.

Eines muss dir aber klar sein. Sollte sie wieder angeschissen kommen, weil der Surfer sie erwartungsgemäß verarscht hat, darfst du dich keinesfalls wieder auf sie einlassen. Die ist es nicht wert, meckerte sein Gehirn.

 

Die Enttäuschung saß tief.

*

Später in Wernigerode, Gartencenter Findeisen

Die Kripo rückte gleich mit drei Mann, oder vielmehr zwei Mann und einer Frau, in der Gärtnerei an. Ronny Weichelt hatte es sich nicht nehmen lassen, mitzukommen. Der Vermisstenfall Schönhoff erinnerte ihn unangenehm an die Sache mit einer gewissen Anne Gräbner im Frühjahr. Man hatte die junge Frau tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Ermordet vom Wernigeröder Ex-Revierleiter, dem einstigen Polizeichef höchstpersönlich.

Gut, diesmal kam selbiger keinesfalls als Killer infrage. Er hatte sich aufgehängt, damit selbst gerichtet. Wobei der Tod allerdings erst eingetreten war, nachdem ihm die eigene Gattin ein Messer in die Brust gerammt hatte, um sicherzugehen, dass er auch wirklich tot war. Schier unglaublich, wenn man die Ereignisse des vergangenen Frühlings im Geiste so sachlich-kühl zusammenfasste.

Ihn schauderte bei dieser Erinnerung, auch wenn er nicht unter jenen bedauernswerten Beamten gewesen war, welche Remmler, in dessen Gartenlaube von einem Balken baumelnd, aufgefunden hatten. Marit hatte ihm neulich gebeichtet, dass sie diesen Anblick wohl nie wieder aus dem Kopf bekommen könne.

Dennoch. Er fand es schrecklich, wozu Menschen fähig waren. Insbesondere dann, wenn sie die Gewalt gegen sich selbst richteten. Insofern hoffte er inständig, dass wenigstens die Schönhoff lebend wiederauftauchte. Und das nicht nur, weil die Mordkommission ansonsten mit frischer Arbeit eingedeckt werden würde.

Einen freien Parkplatz zu finden, stellte sich als schwierig heraus. Sonnige Tage luden die Hausfrauen der Umgebung grundsätzlich dazu ein, ihre Balkonkästen neu zu bepflanzen oder Gartenaccessoires zu kaufen. Und heute war solch ein Tag.

Findeisen hielt neben einer ansehnlichen Auswahl an Pflanzen für drinnen und draußen ein riesiges Angebot an trendigen Deko-Artikeln und Werkzeugen bereit.

Trotz der übermächtigen Konkurrenz diverser Filialen namhafter Gartenmarkt-Ketten war es dem Familienunternehmen gelungen, sich mithilfe hoher Qualitätsstandards und tollem Kundenservice in der Harzregion durchzusetzen. Man setzte auf den zeitgemäßen Öko-Trend. Alles das versprachen auch die knallgrünen Werbeplakate, welche den gesamten Außenbereich einrahmten.

Fred Jablonski wurde nach zwei nervigen Parkplatzrunden zwischen sperrigen Blumentrögen, ein- und ausparkenden Autos und vollgepackten Einkaufswagen ungeduldig. Er fluchte, stellte den Wagen kurzerhand auf einem extrabreiten Behindertenparkplatz nahe dem Eingang ab.

Marit wies ihn vergeblich auf das vermeintliche Versehen hin, aber er zog trotzdem die Handbremse an.

»He, wir sind im Einsatz, und das ist ein Dienstwagen. Wir werden vom Steuerzahler finanziert, Zeit ist also Geld. Da kann man die Sonderrechte besten Gewissens ausnutzen. Es ist außerdem nicht meine Schuld, dass vor Geschäften offensichtlich mehr solche Parkplätze vorgehalten werden als es Gehbehinderte in ganz Wernigerode gibt«, rechtfertigte sich Freddie achselzuckend.

Marit grinste kopfschüttelnd, ließ die Begründung aber durchgehen. Von den insgesamt fünf blau markierten Parkbuchten waren schließlich noch vier frei.

Wenige Minuten später standen die drei Polizisten im Office der Geschäftsleitung. Man hatte sie bereits erwartet. Oskar Findeisen persönlich drückte Marit einen Packen Fotokopien und ein Passfoto in die Hand.

Die Kriminalistin betrachtete es, stellte fest, dass man die Vermisste mit diesem Foto wohl kaum finden könnte. Die Frau sah unscheinbar aus, wie Jeanette Bilcher dies bei Ronny auch angegeben hatte. Genauso gewöhnlich wie tausend andere, denen man jeden Tag begegnete, ohne sich ihre Gesichter zu merken.

»Sie müssen bitte entschuldigen, dass Sie diese Unterlagen erst jetzt erhalten. Das ist alles, was wir in der Personalakte über Frau Schönhoff gesammelt hatten. Wissen Sie, ich hatte Frau Bilchers Sorge um die Kollegin erst für überzogen gehalten, gemeint, dass sich alles von selber aufklärt und sie einfach, mit einer nachvollziehbaren Erklärung im Gepäck, wieder hereinschneit. Da wollte ich aus Gründen des Datenschutzes nicht voreilig private Details herausrücken.

Inzwischen mache ich mir jedoch selbst Sorgen. Frau Schönhoff gilt als sehr zuverlässig. Auch wenn sie irgendwo nach einem Unfall im Krankenhaus läge … die würde augenblicklich hier anrufen, sobald sie bei Bewusstsein wäre. So ist sie gestrickt. Sie geht davon aus, unentbehrlich zu sein, verstehen Sie? Es wäre sehr ungewöhnlich, wenn sich ihre Einstellung zu Pflichten plötzlich so sehr verändert hätte.«

»Verständlich, dass Sie sich allmählich doch Gedanken gemacht haben«, nickte Weichelt.

»Wir müssten jetzt Ihre Angestellten befragen. Keine Sorge, wir stören den Betrieb so wenig wie möglich. Wir haben schon bemerkt, dass heute viel los ist. Hat Frau Schönhoff eigentlich einen Spind oder Schreibtisch, den man sich ansehen könnte?«

»Es gibt einen großen Einbauschrank im Sozialraum, wo jeder sein absperrbares Fach für Privates und Wechselkleidung hat. Ich lasse unseren Azubi holen, der kann Sie hinbringen.«

Findeisen griff zum Telefon und trug einer Bürokraft auf, Paul Zielinski zu holen. Dann wühlte er in der obersten Schublade seines Schreibtischs, förderte einen Schlüsselbund zutage.

»Warten Sie … die Schönhoff nutzt Schließfach Nummer drei. Hier ist der Schlüssel zu treuen Händen, damit Sie mir nicht den schönen Schrank ruinieren. Aber bitte nichts anfassen oder herausnehmen, okay? Soviel ich weiß, bräuchten Sie eigentlich einen Durchsuchungsbeschluss. Ich meine aber, in Laras Interesse zu handeln, wenn ich dabei helfe, sie schnell zu finden.«

»Das tun Sie, und wir werden das mit dem Schlüssel auch nicht an die große Glocke hängen«, grinste Fred. Er war schon immer der festen Ansicht, dass Persönlichkeitsrechte und Datenschutz voll für den Arsch waren. Sobald jemand meinte, einen triftigen Grund zu haben, die Rechte anderer Leute mit Füßen zu treten, waren sämtliche Vorschriften obsolet. Das zeigte sich an solchen Kleinigkeiten. Oskar Findeisen wollte in erster Linie die Arbeitskraft seiner Gärtnerin zurückhaben, die er auch in Abwesenheit bezahlen musste. Darum ging es hier eigentlich.

Die Büromaus kam, mit einem missmutig dreinblickenden Jugendlichen im Schlepptau, zurück.

»Das ist Herr Zielinski. Paul, bitte bring die Polizisten zum Sozialraum runter und erzähle ihnen alles Wissenswerte über deine Ausbilderin. Du hattest naturgemäß den engsten Kontakt zu ihr«, kommandierte der Chef.

»Wenn es unbedingt sein muss«, brummte der Teenie.

»Wie bitte?!«

Zielinski zog ein schiefes Gesicht, zuckte mit den Schultern.

»Aber gerne, Chef.«

»Schon besser, Paul. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte alle, mein Typ wird woanders gebraucht«, komplimentierte sie Findeisen höflich, aber bestimmt hinaus.

Auf dem Flur teilten sich die Beamten auf. Marit Schmidbauer folgte Paul. Die anderen beiden wollten jeden greifbaren Mitarbeiter kurz zu Lara Schönhoff befragen und, falls irgendeiner etwas mehr zu erzählen hatte, denjenigen für den nächsten Tag ins Revier zitieren.

Der Sozialraum entpuppte sich als eine Art Wohnzimmer. Neben langen Tischen, einem Kaffee-Vollautomaten der Edelmarke Jura und jenem Einbauschrank, von dem Findeisen gesprochen hatte, gab es darin sogar eine gemütliche Couchecke. Die Umkleide und die Duschen lagen praktischerweise gleich nebenan.

Marit klappte die Kinnlade runter.

»Wow … das ist ja richtig edel. Sowas hätte ich auch gerne im Revier«, staunte die Polizistin. »Aber wären stinknormale Spinde aus Metall nicht praktischer? Ihr arbeitet doch allesamt mit Erde und geht daher nicht gerade mit sauberen Klamotten in die Pause, oder?«

Paul schnaubte verächtlich.